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Neunzehntes Kapitel

Lange, ehe die Dämmerung dieses unvergeßlichen Tages hereinbrach, und längst sogar vor der Zeit, wo ich mit McNab an der Straßenkreuzung von Westenhanger zusammentreffen sollte, hatte ich die Aufgabe erledigt, mit der er mich ausgesandt hatte. Dunn hatte das, was er über das Dorf berichtete, nicht einfach aus seiner Phantasie geschöpft. Darin hatte sich McNab geirrt. Der Ort existierte. Sowenig er allen anderen Dörfern der Welt ähnlich sein mag, er war da, und ist noch heute dort, und jeder, der Lust hat, kann hinfahren und sich selbst überzeugen. Um acht Uhr abends kannte ich nicht nur den Namen dieses Dorfes, sondern ich war dort, lag in den Ginsterbüschen des Gemeindeangers und beobachtete das Haus, nach dem wir so lange gesucht hatten.

Die Dinge hatten sich so abgespielt: Bei der Ankunft in Folkestone hatte ich eine Leihgarage in der Nähe des Hauptbahnhofs aufgesucht und dem Besitzer, einem gewissen Mr. Large, auseinandergesetzt, daß ich einen guten Wagen brauche und einen Chauffeur, der in der Umgebung Bescheid wisse. Ob die weiteren Angaben, die ich machte, Herrn Large veranlaßten, mich für einen Wahnsinnigen zu halten oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Aber er schien jedenfalls den Wunsch zu haben, den wertvollen Wagen nicht aus den Augen zu lassen, denn er erklärte, keiner seiner Chauffeure wisse so gut Bescheid in der Gegend wie er selbst, und deshalb werde er selbst mich fahren. Wenn er über meinen geistigen Zustand irgendwelche Zweifel gehegt haben sollte, so müssen ihn die Erlebnisse der nächsten Stunde nur darin bestärkt haben. Denn während dieser Zeit hetzte ich ihn dauernd bergauf und bergab und kreuz und quer über den Höhenrücken der Downs, die hinter Folkestone sich erheben und bis Canterbury sich erstrecken. Er mußte den Eindruck haben, daß ich nicht recht wisse, wo ich hin wolle.

»Aber wissen Sie denn gar kein bestimmtes Ziel, wo Sie hinfahren wollen?« fragte er schließlich, nachdem ich ihn mit vielen Fragen über das eine oder andere einsam gelegene Haus geplagt hatte, an dem wir vorbeigeflitzt waren.

Nun, zu der Zeit stand ich selbst unter dem Eindruck, daß mein Beginnen völlig zwecklos sei – es schien nicht mehr als ein Mittel, um die Zeit bis zum Eintreffen McNabs zu vertreiben. Dann war mir die Sache mit dem Dorf eingefallen. Ich muß sagen, daß ich ebensowenig daran glaubte als McNab, und ich erwähnte die Sache Mr. Large gegenüber mehr in dem Wunsch, unserem Ausflug einen etwas vernünftigeren Anstrich zu geben, als in der Erwartung, daß ihm ein solcher Ort bekannt sein könnte. Aber kaum hatte ich die besonderen Eigentümlichkeiten des Nestes erwähnt, als ich sah, wie er die Ohren spitzte.

»Gemeindeanger von einer halben Meile Breite – Tore an beiden Enden«, murmelte er nachdenklich vor sich hin. Mit einemmal schlugen die Bremsen an. Er lachte. »Lieber Gott, wir fahren ja immer weiter davon weg«, sagte er.

Ich war aufs äußerste erstaunt.

»Was, das Nest existiert wirklich, und Sie kennen es?« rief ich.

»Hört sich an wie Stelling Minnis«, meinte er und machte sich daran, den Wagen zu wenden. »Auf alle Fälle werden Sie in einer halben Stunde selbst urteilen können.«

Und um Schlag acht Uhr, nachdem wir zunächst in das Tal von Elham hinabgeglitten waren und den jenseitigen Rücken der Downs erklettert hatten, erreichten wir, von der langen, schnurgeraden Römerstraße in einen engen gewundenen Feldweg abbiegend, endlich das einsame und reizende Nest. Sobald wir das Gittertor hinter uns hatten, war ich ganz einfach überzeugt, daß dies der Ort sein mußte, den wir suchten. Eine seltsame Erregung brachte meine Pulse zum Hämmern. Vor uns streckte sich der weite Gemeindeanger, hier und da mit Ginstergebüsch und Farngestrüpp bewachsen. Rechts und links, am äußersten Rand des Angers, durch weite Zwischenräume getrennt, lagen die alten Häuser des Dorfes. Der Weg lief mitten durch die Heide, und anscheinend mußte jeder, der eines der Häuser erreichen wollte, den Weg verlassen und eine Viertelmeile weit durch Gras und Ginster waten. Aber ich war nicht gekommen, um mich in Naturschönheiten zu vertiefen. Als ich erst wieder fähig war, Atem zu schöpfen, ließ ich den Wagen halten. Links von uns, in der Nähe des Tores, fand sich ein Wirtshaus, ein weißes Gebäude mit einem sauber gemalten roten Schild, das die Inschrift trug: »Zur Krone.«

»Warten Sie hier«, sagte ich zu Mr. Large. »Ich habe verschiedene Erkundigungen einzuziehen.«

Langsam, sehr langsam schlug ich den Weg zum Wirtshaus ein. Ich mußte erst mich selbst wieder in die Gewalt bekommen. Der Gedanke, daß unsere fieberhafte Suche endlich zu Ende gekommen war, daß die Leute, nach denen wir suchten, sich nicht mehr vor uns verbergen konnten, erschütterte mich. Denn die, um die es sich handelte, mußten in dem kleinen Nest allgemein bekannt sein.

Als ich eintrat, standen zwei Männer am Schanktisch. Außer dem üblichen Gruß wurde kein Wort gewechselt, bis ich probiert hatte, was das Bier der »Krone« für meine ausgedörrte, ach, so ausgedörrte Kehle zu tun imstande war.

»Ein netter Ort hier«, sagte ich zu dem älteren der beiden Gäste, einem betagten Burschen mit einem dünnen, grauen Backenbart.

»Ja, ganz nett im Sommer«, antwortete er knurrig.

»Außer im Sommer kommt wohl selten ein Fremder hierher«, fuhr ich fort.

»Das stimmt – und auch dann kommen nicht viel.«

Hier mischte sich der Wirt ein, der sich mit verschränkten Armen auf den Schanktisch lehnte.

»Ein gottverlassener Fleck, Herr. An manchem Tag verzapf ich noch keine drei Liter.«

»Aber es gibt Leute, die gerade solche einsamen Orte lieben. Ich hab's selbst erlebt, daß ein Bekannter sogar im Winter nach einem solch einsamen Ort gesucht hat, und zwar jemand, der Geld hatte und sich in der ganzen Welt das Beste aussuchen konnte.«

»Dem geht's so ähnlich wie unserer Lady«, sagte der jüngere Mann, etwas Tabak in den Handflächen rollend.

»Stimmt schon, Bob Ames«, nickte der alte Knabe. »Zu allen Jahreszeiten kann man unvermutet ihr kleines Auto über den Anger rollen sehn, und kein Mensch wundert sich drüber. Aber sie ist in der letzten Zeit gar nicht mehr dagewesen.«

»Letzten Januar war sie doch da, Jacob Wytch.«

»Jawoll, da hast du wieder recht, und auch noch ganz allein ist sie dagewesen, sechs Wochen lang. Aber der Herr hat von Fremden gesprochen, eine Hardress ist doch keine Fremde.«

Ich mußte rasch mein Glas niedersetzen. Daß ich nichts verschüttete, war nur darauf zurückzuführen, daß es schon halb leer war. Und dann ergaben ein paar geschickt berechnete Fragen alles, was ich brauchte. Die Dame, so stellte es sich heraus, entstammte einer Familie namens Hardress, die früher in der Nachbarschaft ansässig gewesen war. Während des Krieges hatte sie einen gewissen Sir Stephen Wye geheiratet. Er gehörte damals der Armee an, jetzt aber, wie ich erfuhr, nicht mehr. Er pflegte jetzt ins Parlament zu gehen. Brocken um Brocken kam alles heraus. Ja, sie lebten in London. Aber Lady Wye hatte ein kleines Haus hier am Anger. Sie war hier draußen lieber als in London, jawohl, so war das. Nein, jetzt war sie nicht da. Aber wenn ich's nicht glaubte, konnte ich selber mir das Haus ansehen.

Fünfzehn Minuten später lag ich im Ginster und beobachtete das Haus, ein kleines, weißes Gebäude mit mattrotem Ziegeldach und einer hölzernen Garage daneben. Ich wollte sehen, ob tatsächlich keine Spur von einem lebenden Wesen zu entdecken war. McNab hatte zuversichtlich angenommen, erstens, daß die, die wir suchten, wieder dort Zuflucht suchen würden, zweitens, daß sie erst nach dem Einbruch völliger Dunkelheit sich dem Hause zu nähern wagten. Und nachdem ich eine Weile hinüberspähte, mußte ich annehmen, daß er recht hatte. Nicht das geringste Lebenszeichen war zu erspähen. Nicht die kleinste Rauchwolke kam aus dem Schornstein. Ich hatte natürlich den heißen Wunsch, näher heranzugehen und alles aus der Nähe zu untersuchen. Das konnte ich aber nicht wagen. Wenn ich gesehen wurde, mußte eine derart übermäßige Neugier auffallen. Überdies war ich allmählich zu der festen Überzeugung gekommen, daß noch niemand eingetroffen sei. So blieb ich liegen, wo ich war, und wo mir das Farnkraut und die Ginsterbüsche ein gutes Versteck boten.

Später, als das Gold des Abendhimmels allmählich auslöschte und die Dämmerung heraufzog, erinnerte ich mich meiner Verabredung mit McNab. Es war gerade noch hell genug, um sich auf der Karte orientieren zu können. Soweit es sich feststellen ließ, mußte ich vom Kreuzweg von Westerhanger mindestens acht Meilen entfernt sein. Mr. Large hatte ich nach der »Krone« geschickt, wo er meine Rückkehr erwarten sollte. Ich hatte verstanden, ihm die Vermutung beizubringen, daß ich einen Freund weiter hinten im Dorf zu besuchen beabsichtige. Jetzt, wo die Dunkelheit mit jedem Augenblick zunahm, mußte ich mich rasch entscheiden, ob ich auf meinem Beobachtungsposten bleiben oder meine Verabredung mit McNab einhalten sollte. Ich weiß nicht, ob es klug gehandelt war oder nicht, ich entschloß mich jedenfalls zu bleiben. Den Ausschlag dabei gab die Überzeugung, daß, wenn McNab recht behielt, die vier Wände dieses jetzt noch leeren Hauses binnen kurzem den Mörder einschließen mußten. Es konnte nur vorteilhaft sein, wenn man wußte, ob er sich wirklich dort befand. Mochte er nun allein kommen oder in der Begleitung seiner Frau oder in der des mißleiteten Kinloch – niemand konnte das Haus betreten, ohne daß ich es beobachtete. Nun begriff ich auch, was ich zu tun hatte. Ich mußte Large nach Westenhanger schicken, um mit McNab zusammenzutreffen und ihn nach Stelling Minnis zu bringen. Nachdem ich mich, vorsichtshalber zunächst auf Händen und Füßen kriechend, etwa hundert Meter vom Haus entfernt hatte, sprang ich auf und eilte nach dem Wirtshaus. Large verstand schnell, was er zu tun hatte, und als ich das rote Schlußlicht seines Wagens in der Dunkelheit verschwinden sah, fand ich es nachträglich überhaupt viel angebrachter, daß der Gemeindeanger nicht von den auffälligen Scheinwerfern eines großen Wagens erhellt wurde.

Ehe ich meinen Schlupfwinkel zwischen den Büschen wieder erreichte, war die Nacht endgültig angebrochen. Ich hatte ganz vergessen, wie dunkel und still eine Nacht auf dem Lande sein kann. Schweigen schien wie ein dickes Tuch über die ganze Welt gebreitet. Einmal bellte weit weg ein Hund, und trotz der großen Entfernung war es, wenn auch dünn, so doch deutlich vernehmbar. Allmählich wurde mir kalt. Nach dem sonnigen Tag taute es stark, und der Rasen, auf dem ich lag, wurde feucht. Trotzdem mußte ich auf der Hut sein. Gar zu leicht konnte bei solcher Finsternis und auf der dicken Grasdecke, die jeden Schritt dämpfte, jemand ungesehen und ungehört an mir vorbeikommen.

Eine halbe Stunde verging, und es geschah nichts. Dann fiel mir ein, daß es jetzt gefahrlos möglich war, die Umgebung des kleinen Landhauses einer genaueren Musterung zu unterziehen. Das Gebäude war jetzt von der Stelle, wo ich lag, nicht mehr sichtbar. Ich fühlte mich deshalb geradezu gezwungen, näher heranzugehen. Vor allen Dingen wünschte ich festzustellen, ob von hinten her, über die Felder, die sich hinter dem schmalen Waldstreifen erstreckten, irgendein Zugang nach dem Haus führte. Wenn ich mich darüber informiert hatte, beabsichtigte ich, meinen Posten an einer Stelle zu beziehen, wo ich, da man bei der Finsternis so wenig sehen konnte, wenigstens fähig war, das geringste Geräusch wahrzunehmen, sogar das vorsichtige Öffnen einer Tür oder leise Schritte auf den Stufen der Treppe.

Aber während ich vorsichtig um die Giebelwand des Hauses nach hinten kroch, erinnerte ich mich – und es war ein sonderbares Gefühl –, wie ich in jener verhängnisvollen Nacht beinah in derselben Art um das Haus in Ealing herumgeschlichen war. Damals hatte ich einen Ermordeten vorgefunden. Sollte es mir beschieden sein, mich jetzt seinem Mörder Auge in Auge gegenüber zu sehen? Auf alle Fälle benahm ich mich so vorsichtig, als ob dies jeden Augenblick geschehen könnte, und während ich Schritt um Schritt weiterschlich, ruhte meine Hand auf dem Kolben des automatischen Revolvers, den McNab mir gegeben hatte. Natürlich begegnete ich keiner Menschenseele, und eine Untersuchung der Umzäunung hinter dem Haus belehrte mich darüber, daß von dieser Seite her eine Annäherung im Auto unmöglich war. An und für sich mochte es leicht sein, den aus losen Steinen bestehenden Wall, der noch dazu von Bäumen beschattet war, zu überklettern. Aber die Nacht war derart ruhig, daß auf eine Meile im Umkreis kein Auto sich nähern konnte, ohne daß das Geräusch für mich hinreichend vernehmlich war. In dieser Überzeugung kletterte ich über den Wall, um die Rückseite des Hauses genauer in Augenschein zu nehmen.

Ich entdeckte auch etwas, obwohl es auf mich zunächst keinen besonderen Eindruck machte. Es schien ein so unbedeutender Umstand – an einem der Fenster war eine Scheibe zerbrochen. Von irgendeinem ungezogenen Jungen? Ich glaubte es zuerst, bis ich mir darüber klar wurde, daß die zerbrochene Scheibe merkwürdigerweise gerade die war, neben der sich der Fensterriegel befand. Dies veranlaßte mich, stehenzubleiben und den Atem anzuhalten. Ich spitzte die Ohren. Das Haus schien nach wie vor tot und stumm. Und doch war es ein ungezogener Junge, redete ich mir ein. Wenn ein Haus leer steht, wird öfter mal ein Fenster eingeworfen. Dann erinnerte ich mich an die Garage auf der anderen Seite. Dort ließ sich vielleicht ein Fingerzeig dafür finden, ob das Haus wirklich so unbewohnt war, wie es aussah. Vorsichtig mich an der rauh verputzten Hauswand weitertastend, machte ich mich auf den Weg zur Garage. Ich bog um die Ecke und stand an der Tür. Nach kurzem Manipulieren hatte ich herausgefunden, daß die Garagentür zwar eingeklinkt, aber nicht verschlossen war. Ich blieb stehen und überlegte. Wenn ich versuchte, die Tür zu öffnen – war das Geräusch, das entstehen mußte, bedenklich laut? Die Tür wurde selten benutzt. Die Angeln waren wahrscheinlich nicht allzu gut geölt. Aber nachdem ich festgestellt hatte, daß die Tür unverschlossen war, konnte ich mich nicht mehr beherrschen, ich mußte ganz einfach wissen, ob hinter dieser Tür ein Auto stand. Ich wagte es. Das Geräusch, das entstand, dröhnte mir in die Ohren wie Donner. Ich öffnete deshalb nur einen schmalen Spalt, durch den ich mich gerade noch hindurchzwängen konnte. Dann streckte ich die Hände aus und tastete mich vorwärts.

Und die Garage war nicht leer! Ich tastete nach dem Kühler des Wagens. Er war noch warm. Jetzt wußte ich, daß das Haus durchaus nicht so unbewohnt war, wie es aussah.

Aber nach dieser Entdeckung machte ich meinen ersten Fehler. Wenn ich bloß mit dem zufrieden gewesen wäre, was ich erreicht hatte! Nachdem ich soviel festgestellt hatte, hätte ich ruhig in mein Versteck zwischen den Büschen zurückkehren können und warten, bis ich die Scheinwerfer von McNabs Auto in der Ferne aufblitzen sah. Aber nein! Ich mußte natürlich versuchen, mich selbst zu übertreffen. Und sofort geriet ich auch in Schwierigkeiten. Denn während ich wieder an der Hinterfront des Hauses entlang ging, um mir das zerbrochene Fenster noch einmal genauer anzusehen, sah ich, wie von dem Wall aus losen Steinen her sich ein dunkler Schatten auf mich zu bewegte. Hätte der Mann zu mir hinübergeblickt, würde er mich wahrscheinlich sofort bemerkt haben, denn ich mußte gegen den weißen Hintergrund des Hauses viel sichtbarer sein als er gegen den dunklen Hintergrund der Bäume. Ich ließ mich zu Boden fallen und lag, ohne ein Glied zu rühren. Er kam kaum einen Meter von mir vorbei. Dann hörte ich ihn an die Küchentür klopfen. Ich verfluchte meine Dummheit. Wenn geöffnet wurde, mußte mich der Lichtschein treffen. Endlich öffnete sich knirschend die Tür. Unglücklicherweise lag ich so, daß ich nicht sehen konnte, was vorging. Aber wenigstens hörte ich recht gut.

»Nun?«

Das mußte der Mann sein, der die Tür geöffnet hatte. Es glich mehr einem Knurren.

»Es ist alles arrangiert. Das Schiff läuft gegen elf aus, wenn die Ebbe eintritt.«

»Und wo ist sie?«

»Sie trifft sich mit Ihnen auf dem Kai und geht mit Ihnen zusammen an Bord.«

Diesmal konnte ich die Stimme erkennen. Der Akzent war nicht mehr derselbe, aber im übrigen war es Kinlochs Stimme.

»Also um elf?« fragte der andere noch einmal.

»Jawohl«, antwortete Kinloch barsch. »Es bleibt gerade noch Zeit für das, was ich Ihnen zu sagen habe.«

»Bitte nur näher zu treten, es tut mir leid, daß ich Sie im Dunkeln empfangen muß. Aber in diesem Haus kennen Sie ja jeden Winkel.« Die Stimme klang höhnisch. Und dann fiel die Tür zu.

Ich blieb bewegungslos liegen, wo ich lag, und dachte über das Vernommene nach. Der feindselige Ton, in dem die beiden miteinander gesprochen hatten, bekümmerte mich zunächst wenig. Was mir Sorgen machte, war der Umstand, daß Kinloch und die Frau anscheinend Vorbereitungen für die Flucht des Mörders getroffen hatten. Sie sollte dann mit ihm irgendwo zusammentreffen – um ein Haar hätte ich gehört, wo – und mit ihm das Land verlassen. Wie? Sicher nicht auf einem Schnelldampfer, denn die sind unabhängig von der Flut. Ebensowenig aber auch in einem kleinen Fahrzeug, und zwar aus demselben Grund. Demnach mußte es irgendein Trampdampfer sein, der im Augenblick noch in einem der südöstlichen Häfen lag. Aber wo? Es gab ein halbes Dutzend kleiner Häfen im Umkreis von dreißig Meilen. Dann stieg in mir die Frage auf, wieviel wohl Kinloch dem andern mitzuteilen hatte. Es sei gerade noch Zeit für das, was er ihm zu sagen habe, hatte Kinloch geäußert. Nun, dann war es sehr leicht möglich, daß der Mörder im nächsten Augenblick schon über alle Berge war, längst, ehe McNab eintraf. Der Gedanke trieb mich hoch. Mochte geschehen, was wollte, ich mußte entweder mehr über den Hafen ausfindig machen, von dem er abreisen wollte, oder ich mußte ihn eben daran hindern, den Hafen überhaupt zu erreichen.

Die Tür war nicht ganz ins Schloß gefallen, und ich drückte sie vorsichtig auf. Anscheinend befand ich mich in einem Korridor, denn ich hörte die Stimmen der beiden etwas gedämpft, wie durch eine Tür. Sie stritten sich mit erhobener Stimme. Das machte mir die Sache etwas leichter, erstens wies es mir den Weg und zweitens wurde jedes nicht allzu laute Geräusch übertönt, das ich verursachen konnte, während ich mich den Gang entlang tastete. Im übrigen hatten die beiden längst alle Vorsicht in den Wind geschlagen, wenigstens soweit es darauf ankam, sich leise zu verhalten. Sie bellten sich an wie zwei raufende Hunde, und mir kam der Gedanke, daß dies wahrscheinlich ihr erstes Zusammentreffen sein mußte, wenigstens das erste, bei dem nicht auch die Frau zugegen war. Wäre sie dagewesen, so hätte sie mich übrigens sicher gehört. Als ich nahe genug war, um verstehen zu können, was sie sagten, war das erste, was ich vernahm, der Name meines alten Freundes. Kinlochs Stimme war verstummt. Er schien alles gesagt zu haben, was er vorzubringen hatte.

»Bei Gott, das geht denn doch über die Hutschnur«, schrie der andere. »Von einem Spießgesellen Ponsonby Pagets lass' ich mir das nicht bieten! Und ich kann Ihnen sagen, ihn um die Ecke zu bringen, hat mir nicht mehr Gewissensbisse verursacht, als eine Ratte zu töten. Mit seinem Tod ist England ein Land geworden, in dem man freier atmen kann.«

»Für Schurken wie Sie!«

»Und das sag' ich Ihnen, Freundchen. Ich hätte Sie ihm nachgeschickt, wäre sie damals nicht ins Zimmer gekommen und hätte Ihr Winseln gehört.«

»Winseln? Winseln haben Sie gesagt?«

»Jawohl, winseln habe ich gesagt. Wie war denn damals die Situation? Der alte Erpresser war hin, und sein Komplice winselte um sein Leben.«

Ein merkwürdiges Geräusch unterbrach die Stille, die diesen Worten folgte. Es klang, wie wenn jemand am Ersticken wäre. Dann sagte Kinloch weitaus gelassener:

»Sie sind ein Narr, wenn Sie glauben, mich mit der Erinnerung an meinen damaligen hilflosen Zustand demütigen zu können. Im übrigen hat Ihnen Ihre Frau ja längst erzählt, daß ich nur infolge eines Zufalls anwesend war.«

»Meine Frau hat mir mancherlei erzählt. Aber eines hat sie mir nicht erzählt. Nämlich, wie Sie es fertiggebracht haben, sie zu – mir ihre Neigung zu stehlen.«

»Sie Schuft, Sie! Wenn Sie überhaupt das Haus noch zu verlassen wünschen, dann wär's besser für Sie, Sie trollten sich jetzt.«

Beide schienen aufgesprungen zu sein. Ihre Auseinandersetzung hörte sich an, als ob sie sich im nächsten Augenblick bei der Kehle hätten. Und doch war ich meiner Sache nicht sicher. Es war gar nicht so ausgeschlossen, daß Kinlochs Gegner das Feld räumte. Kinlochs Rat war in einem Ton erteilt worden, der es empfehlenswerter erscheinen ließ, ihn auch zu befolgen. Vorsichtshalber zog ich mich aus dem Flur zurück. Meine Aufgabe war es, auf die eine oder die andere Art seine Flucht zu verhindern, meine Pflicht, auf die eine oder andere Art ihn festzuhalten, bis McNab erschien. Das sicherste Mittel, das ich wußte, war, das Auto betriebsunfähig zu machen. Und deshalb schlug ich jetzt alle Vorsicht in den Wind und rannte im Laufschritt nach der Garage. Das offene Taschenmesser in der Hand, quetschte ich mich durch den Türspalt. Meine Absicht war, die Luftschläuche zu zerschneiden. Aber kaum hatte ich den ersten Laufreifen angefaßt, als ich einsehen mußte, daß das unmöglich war. Der Laufreifen bestand aus Vollgummi. Ich hätte mich rechtzeitig an das erinnern müssen, was mir McNab von der Eigenart dieser Automarke berichtet hatte.

Wie sollte ich mir jetzt helfen? Ich hatte nur eine schwache Ahnung von Automobilen. Aber es mußte mindestens ein Dutzend anderer Methoden geben, um den Mechanismus betriebsunfähig zu machen. Aber rasch mußte mir etwas einfallen! Die Eile, in der ich war, hinderte mich am zusammenhängenden Denken. Während ich noch versuchte, meine Gedanken zu sammeln, knallte drüben im Haus eine Tür, es klang wie ein Schuß. Fieberhaft tastete ich im Dunkeln umher, um irgend etwas Schweres zu finden. Damit wollte ich den Wagen zerschlagen, den Motor beschädigen, das Schaltbrett oder das Steuer zerschmettern. Aber fast im selben Augenblick und längst ehe ich etwas hatte finden können, hörte ich draußen eilige Schritte. Noch eine Sekunde und das Garagentor wurde weit aufgerissen. Die Verzweiflung schlug über mir zusammen wie eine Welle. Sollte der Mörder noch einmal entwischen? Ich klammerte mich an den Wagen, als könnte ich ihn so in der Garage festhalten. Da kam mir ein plötzlicher Einfall. Ich setzte den Fuß aufs Trittbrett. Mit einem Sprung stand ich auf dem Hintersitz des Wagens, glitt auf den Boden hinab und blieb dort zusammengekauert liegen.

Ich hörte, wie der Motor angeworfen wurde, und begriff jetzt, was ich hätte tun müssen. Wenn ich auch nicht viel von Autos verstand, so wußte ich doch einiges über Elektrizität und sah jetzt ein, wie rasch und geräuschlos es möglich gewesen wäre, die Batterie auf dem Trittbrett außer Betrieb zu setzen. Es war eine Dummheit gewesen, nicht daran zu denken, aber jetzt war es zu spät. Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu trösten, daß der Mann, mochte er fahren, wohin er wollte, mir jetzt jedenfalls nicht mehr entfliehen könnte.

In meinem Versteck entdeckt zu werden, fürchtete ich nur eine Sekunde lang, nämlich als der Wagen ins Freie hinausgerollt war und sein Fahrer abstieg, um die Garagentür wieder zu schließen. Die Scheinwerfer hatte er noch nicht eingeschaltet, und das war ein Glück, denn wenn die weiße Mauer des Hauses den Lichtschein zurückgeworfen hätte, wäre es unter Umständen sehr leicht möglich gewesen, daß er mich entdeckte. Als ich hörte, daß er an der Tür beschäftigt war, zog ich rasch eine Pelzdecke über mich, die auf dem hinteren Wagensitz gelegen hatte.

Jetzt fühlte ich mich einigermaßen in Sicherheit. Der Zwischenraum zwischen den vorderen und hinteren Sitzen ist bei diesem Autotyp sehr eng, und da im hinteren Teil des Wagens der Boden tiefer liegt als vorne, war ich für jeden, der auf dem Vordersitz saß, nicht sichtbar.

Wir fuhren über den Anger ohne Licht. Es war überraschend, wie sanft und geräuschlos die Räder über den Rasen glitten. Aber kaum hatten wir den gewundenen Feldweg hinter uns und befanden uns auf der langen, geraden Römerstraße, als er die Scheinwerfer einschaltete und das Tempo steigerte. Daß die Beleuchtung eingeschaltet worden war, merkte ich an einem dünnen Lichtstrahl, der hinter mir, dicht über dem Sitz, durch ein kleines Guckloch sichtbar wurde. Auch das war eine Anordnung, die diesem Wagen eigentümlich war und den Zweck hatte, den Fahrer erkennen zu lassen, ob das Schlußlicht funktioniere.

Ich streckte die Hand aus der Decke heraus und benutzte den schwachen Lichtschimmer, um auf meine Armbanduhr zu sehen. Es war zehn Uhr dreiunddreißig. Daraus ergab sich für mich zweierlei. Erstens, daß mit McNab irgend etwas passiert sein mußte, und zweitens, daß der mir unbekannte Seehafen, dem wir zustrebten, nicht allzu weit entfernt sein konnte. Was sollte ich tun? Die Verantwortung, mit der mich das Fernbleiben McNabs belastete, war schwer. Ich war keineswegs darüber entzückt. Inzwischen stürmte der Wagen mit höchster Geschwindigkeit über die schnurgerade, völlig leere Straße, und es dauerte nicht lange, da fühlte ich, daß wir die Höhen verließen und abwärts fuhren. Tiefer und tiefer ging es, immer mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Da die zahllosen Kurven und Biegungen die Aufmerksamkeit des Mannes am Steuer vollständig beanspruchen mußten, wagte ich es, hier und da einmal einen Blick über die Seitenwand des Wagens zu werfen. Bald hatten wir wieder freie Bahn vor uns, und da wir an mehreren dunkel und einsam liegenden Häusern vorbeikamen, nahm ich an, daß wir auf Folkestone zusteuerten. Sehr bald konnte ich aus einem sekundenlangen Lichtschimmer, der immer wiederkehrend in regelmäßigen Abständen in den Wagen fiel, entnehmen, daß wir an Straßenlaternen vorbeifuhren. Gleichzeitig verringerte sich unsere Geschwindigkeit. Ich kämpfte jetzt mit einem schweren Problem. Wie sollte ich es anfangen, um den Menschen in die Hände der Polizei von Folkestone zu liefern, ehe er selbst sich noch recht bewußt geworden war, was mit ihm vorging? Und ich wünschte aus tiefstem Herzensgrund, mich dieser Aufgabe so tadellos und geschickt zu erledigen, daß selbst McNab zufrieden sein konnte, ohne einen Fehler zu begehen, oder vielleicht sogar die Sache völlig zu verpatzen.

Er steuerte in der Richtung des Hafens. Aber konnte ich mich darauf verlassen, dort einen Polizisten zu finden? Ich wußte es nicht. Endlich fiel mir ein Kniff ein. Mit einem langen Bleistift, den ich bei mir hatte, fuhr ich durch das schmale Guckloch, das ich bereits erwähnte, und zertrümmerte die kleine Glühbirne, die das Nummernschild erleuchtete. Nun hatte der Wagen kein Schlußlicht mehr. Voll neuer Hoffnung verkroch ich mich wieder unter meine Decke. Konnte ich mich auf die Wachsamkeit der Folkestoner Polizei verlassen? Wir waren noch nicht weit gekommen, als ich auf meine Frage Antwort erhielt. Eine barsche Stimme forderte uns auf, zu halten, gleich darauf hörte ich jemand hinter uns herlaufen. Vom Vordersitz kam ein unterdrückter Fluch, aber die Geschwindigkeit nahm zu. Wir waren noch nicht viel weiter, als ein neuer Zuruf tönte. Gleich darauf schrillte eine Polizeipfeife. Aber wenn dies Signal einem anderen Polizisten gelten sollte, der sich noch vor uns befand, so verfehlte es seinen Zweck, denn der Wagen wurde mit einem gewaltsamen Ruck herumgerissen und fegte eine Nebenstraße hinunter. Jetzt sah ich erst, was für einen Fehler ich gemacht hatte. Der Mann war besessen von Furcht! Er wußte ja nicht, aus welchen Gründen die Polizei ihn anhalten wollte, und nahm ohne weiteres an, daß man ihn wegen des Mordes verhaften wolle. Die seelische Erschütterung, die das in ihm auslöste, hatte, wie ich fest überzeugt bin, ihm jede Besinnung geraubt. Wir flogen in einem Tempo durch die Straßen, das nicht nur bei der Polizei, sondern auch bei den Passanten Wutschreie und erbitterte Zurufe auslöste. Wir hatten die scharfe Rechtskurve am Ausgang der Stadt genommen und befanden uns auf der jähen Steigung, die dann beginnt. Ein Blick nach rechts hinunter in die Tiefe konnte den Mann überzeugen, daß nirgends die Lichter eines verfolgenden Autos zu sehen waren. Möglicherweise kam er jetzt doch zu der Auffassung, daß nur seine übermäßige Geschwindigkeit die Zurufe veranlaßt hatte. Ja, ich glaube, daß, noch ehe wir die Höhe ganz erklommen hatten, diese Ansicht bei ihm zur Überzeugung geworden war. Übrigens war das wohl auch in den allermeisten Fällen zutreffend. Aber kaum hatten wir oben auf dem Kamm der Höhe eine Meile zurückgelegt und gerade das Wirtshaus »Zum wackeren Seemann« hinter uns gelassen, als etwas eintrat, was sein Schicksal endgültig besiegelte.

Ich merkte sofort, daß vor uns auf der Straße irgend etwas nicht stimmte. Ich hörte, wie er vor sich hin fluchte und plötzlich die Gangart des Wagens verlangsamte. Doch schien er sich selbst noch nicht im klaren darüber, worum es sich handelte. Ich schloß das aus der Tatsache, daß der Wagen sich noch immer vorwärtsbewegte, wenn auch im Schneckentempo. Ersichtlich versuchte er so nahe heranzukommen als möglich, um die Situation besser übersehen zu können. Da dies seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch nehmen mußte, wagte ich mich auf den Knien aufzurichten. Ich wollte selbst sehen, was los war. Die Straße wurde repariert. Gerade vor uns war die ganze rechte Hälfte des Wegs auf eine lange Strecke hin aufgerissen. Vor der Bude des Wächters loderte in einem offenen eisernen Korb ein mächtiges Koksfeuer. Ich konnte die rote Lampe in der Mitte der Straße sehen und eine Reihe anderer dahinter, die die linke, für den Verkehr offengelassene Straßenhälfte abgrenzten. Das verblüffte mich. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, was daran Verdacht erregen sollte. Es schien alles durchaus harmlos und ungefährlich. Ich konnte deutlich die einsame Gestalt des Wächters sehen, der mit einer eisernen Stange das Koksfeuer schürte. Vielleicht war es meinem Mann unbehaglich, auf der falschen Straßenseite in diesen schmalen Engpaß einfahren zu müssen. Vielleicht warnte ihn ein Instinkt. Vielleicht war es aber auch nur auf die vorangegangene Nervenerschütterung zurückzuführen, kurz, er besann sich lange, entschloß sich aber schließlich doch, Gas zu geben. Mit einem Ruck schoß der Wagen vorwärts.

Im nächsten Augenblick zeigte es sich, daß der Instinkt, der ihn gewarnt hatte, wenn er auch nur blind gewesen war, recht behalten sollte. Denn aus der Bude des Nachtwächters tauchte plötzlich der Helm eines Polizisten auf, der sich uns mit erhobenem Arm in den Weg stellte, während andere, nichtuniformierte Leute, plötzlich wie aus dem Nichts hervorgezaubert, auf den Wagen zustürzten. Und als ob es damit noch nicht genug wäre, tauchten am anderen Ende der roten Lichterkette die blendenden Scheinwerfer eines Autos auf, das sofort in den Engpaß hineinfuhr und ihn vollständig versperrte. Mein Mann muß in diesem Augenblick gesehen haben, daß die Partie zu Ende war. Aber vielleicht glaubte er, doch noch eine Chance des Entkommens zu haben, wenn er den Wagen mit einem Ruck auf die Grasböschung hinaufriß und so einen Bogen um das am anderen Ende haltende Auto schlug. Es war uns später nicht möglich, uns darüber zu einigen. Jedenfalls aber riß er plötzlich den Wagen scharf nach rechts herum. Die Männer auf der Straße schrien auf. Das war eine Warnung für mich. Und gleichzeitig spürte ich, wie auf dem abschüssigen Grashang der Wagen eine immer unheimlichere Geschwindigkeit gewann. Ich wußte, daß irgendwo rechts unter uns die See liegen mußte, aber wie tief es hinunterging, ahnte ich nicht, ehe mir einfiel, wie lange wir gebraucht hatten, um die Höhe zu erklimmen. Aber kaum war mir blitzartig diese Erinnerung wiedergekommen, als ich auf den Sitz sprang und mich mit einem verzweifelten Satz aus dem Wagen warf. Ich überschlug mich und glitt dann, den Kopf voran, dem Wagen nach, während ich verzweifelt versuchte, mich an den Grasbüscheln festzuhalten und meine Stiefelspitzen in den Boden zu bohren. Eine Ewigkeit schien es, aber es kann nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert haben, denn als ich endlich nicht mehr weiter rutschte, konnte ich unter mir noch die Lichter des stürzenden Wagens sehen. Plötzlich schien er die Erde überhaupt zu verlassen und in den leeren Raum hinauszusegeln. Dann tauchte im Licht der Scheinwerfer etwas Weißes ragend aus der Nacht, der Wagen prallte auf eine Felszacke, die weit aus der Bergwand vorsprang, und glitt ab, eine mächtige weiße Staubwolke hinterlassend. Ein Scheinwerfer war erloschen. Und jetzt folgte erst der Sturz ins Bodenlose. Man konnte ihn an der Kurve verfolgen, die das Licht des noch brennenden Scheinwerfers beschrieb. Wie eine Sternschnuppe schoß er hinab. Dann schien sich der kleine weiße Lichtfleck tief, tief unten einen Augenblick auf den Wipfeln eines als dunkle Masse sich abzeichnenden Kieferwäldchens zu wiegen. Schwach, kaum hörbar, kam das Krachen und Splittern brechender Äste zu mir herauf. Der Lichtfleck erlosch. Ein Augenblick tiefer, überwältigender Stille folgte. Dann warfen sich mit schweren, klatschenden Flügelschlägen die aufgeschreckten Möwen, die auf den Absätzen der Felswand unter mir ihre Nester hatten, in die Luft hinaus und strichen an mir vorbei, die Nacht mit ihrem wilden und rauhen Angstgeschrei zerreißend. Und dann – gab das armselige Grasbüschel, an das ich mich angeklammert hatte, plötzlich nach. In verzweifelter Angst versuchte ich mich von neuem festzuhalten, glitt weiter und fiel ins Leere.

 

Als ich die Augen wieder aufschlug, befand ich mich in einem Zimmer, in das das Sonnenlicht hell hereinströmte. Eine Krankenschwester bewegte sich mit unhörbaren Schritten im Zimmer hin und her. Schlaftrunken sah ich ihr eine Weile zu. Irgendwie schien sie gemerkt zu haben, daß ich erwacht war, denn sie drehte sich plötzlich um und betrachtete mich besorgt. Endlich lächelte sie, und die Helle im Zimmer schien noch zuzunehmen.

»In welchem Hospital befinde ich mich?« fragte ich.

Sie kam geräuschlos ans Bett.

»Still«, sagte sie. »Sie dürfen noch nicht sprechen.«

»Was ist eigentlich geschehen?« fragte ich.

»Sie sind beim Vogelnestersuchen abgestürzt.« Sie hob warnend den Zeigefinger. »Jetzt aber keine Fragen mehr, ehe Dr. Cadbury Sie nicht gesehen hat.«

Sie glitt aus dem Zimmer, und ich muß wieder eingeschlafen sein, denn das nächste, an was ich mich erinnere, ist, daß ich zwei Männer mit gedämpfter Stimme sich unterhalten hörte.

»– und wie ich eintraf, um die Leiche zu agnoszieren, habe ich gehört, daß Sie sich selbst verletzt haben«, sagte die tiefe Stimme, von der ich wahrscheinlich geweckt worden war.

»Ich habe mir nur den Knöchel verrenkt«, murmelte die Stimme des zweiten. »Wir wußten gar nicht, daß er in dem Auto war, hatten auch keine Ahnung, wie er hineingekommen sein könnte, aber als wir die Trümmer des Wagens durchsuchten, nachdem die Leiche weggebracht worden war, sahen wir ihn weiter oben am Abhang liegen. Er hatte die ganze Nacht dagelegen. Ich bin ausgeglitten, als ich ihn bergen wollte. Es ist nichts weiter als eine Kleinigkeit. Ich kann ruhig hier sitzen und warten, bis er wieder zu sich kommt. Die Ruhe tut meinem Fuß nur gut.«

»Was sagen denn die Ärzte über ihn?«

»Gehirnerschütterung. Außerdem ist die rechte Schulter ausgekugelt, und die hilflos im Freien verbrachte Nacht hat ihm Schaden getan. Aber wie mir Schwester Jones berichtet hat, war er gestern ein paar Sekunden lang bei Bewußtsein.«

»Nun, die Leichenschau hätte von Rechts wegen vertagt werden müssen, bis er wieder bei Besinnung war. Übrigens hätte man auch warten sollen, bis Kinloch wieder zu sich kommt, wenn das überhaupt je der Fall sein sollte.«

»Aber, Snargrove, es lag doch gar kein Beweis dafür vor, daß er sich in dem Auto befunden hat. Ich war übrigens selbst gar nicht an Ort und Stelle, als der Wagen abstürzte. Sehen Sie, die Dinge haben sich so abgespielt«, fuhr McNab nach einer Pause fort. »Es war verabredet, daß ich Chance bei Eintritt der Dunkelheit am Kreuzweg von Westernhanger treffen sollte. Aber hinter Ashford hatte ich eine Panne. Als ich am vereinbarten Treffpunkt eintraf, fand ich nur den Chauffeur vor, der Chances Wagen gefahren hatte. Aber er hatte mir etwas auszurichten. Ich sollte dahin kommen, wo Chance zurückgeblieben war. Das tat ich nicht, denn ein paar Fragen, die ich an den Mann stellte, belehrten mich darüber, daß Chance einen großen Erfolg zu verzeichnen und unsere Verabredung selbst nicht eingehalten hatte, weil es ihm gelungen war, den Aufenthaltsort des Mörders festzustellen. So fuhr ich zunächst zur Polizeistation nach Seabrook, wo ich die Behörden informierte, während der Wagen in der gegenüberliegenden Garage tankte. Auf der Polizeistation setzten sie schleunigst alle Drähte in Bewegung. Ich fand dort einen tüchtigen Kriminalkommissar, der vorsichtshalber sofort an sämtliche Häfen telephonierte, um jede Möglichkeit zur Flucht abzuschneiden. Auf diese Art erfuhren wir auch, daß der holländische Trampdampfer ›Van Helder‹ um elf Uhr nachts mit der auslaufenden Ebbe Dover verlassen sollte. Mein Kriminalkommissar traf Vorkehrungen zur Überwachung der Wege, mit Einschluß der Chausseestrecke zwischen Dover und Folkestone, wo zur Zeit Reparaturen im Gange waren. Dann erst ließ ich mich von Large nach Stelling Minnis fahren. Bis zu diesem Augenblick kannte ich nur den Namen der Ortschaft, die Chance aufgefunden hatte, aber nicht den Namen des Mannes, den wir suchten, obwohl ich der Polizei eine Beschreibung gegeben hatte, die wir Howley verdanken. In Stelling Minnis war jedoch keine Spur von Chance zu entdecken. Ein paar Fragen, die ich an Large stellte, veranlaßten mich, das Wirtshaus aufzusuchen. Ich nahm mir den Wirt vor und quetschte aus ihm heraus, welche Fragen Chance bei seinem Besuch am Nachmittag an ihn gerichtet hatte. Da erfuhr ich genug, um ungefähr Bescheid zu wissen. Ich glaube übrigens, daß sich der Wirt in dem Glauben wiegte, wir seien Polizisten, die nach Chance suchten, und Chance stehe bei uns im Verdacht, einen Einbruch in das Landhaus von Sir Stephen Wye zu planen. So kam es, daß ich den Namen des Mörders von Ealing von den Lippen des Wirts zum erstenmal hörte. Das Haus war in wenigen Minuten gefunden, und wie Sie schon wissen, stellte es sich heraus, daß der Mörder verschwunden war – und diesmal hatte er Kinloch zurückgelassen.«

»Wye war der Mann, nach dem wir suchten – es stimmt schon alles«, meinte Snargrove. »Ich habe heute morgen zum Überfluß auch noch seine Fingerabdrücke untersucht. Aber es hat uns in Scotland Yard gar nicht so sehr überrascht, als wir von Ihnen telephonisch den Namen erfuhren.«

»Was?« rief McNab. »Hatten Sie ihn im Verdacht?«

»Er stand auf meiner Liste der Personen, die möglicherweise als Täter in Betracht kämen. Sie müssen wissen, daß ich nicht nur Pagets Privatbriefe und sonstigen Papiere sorgfältig studiert habe, sondern auch seine Zeitschrift, den ›Augenöffner‹. Nun, die eine oder andere Notiz ist mir dabei aufgefallen, darunter die folgende: ›Das Gerücht, wonach Sir Stephen Wye für den Wahlkreis Byewich in Suffolk kandidieren wird, ist gänzlich unbegründet. Auf Grund von Informationen aus bester Quelle können wir erklären, daß Sir Stephen nicht aufgestellt werden will.‹ Diese Notiz ist im ›Augenöffner‹ vom Sonnabend, den 13. Januar, erschienen.«

»Und Ponsonby Paget ist am 15. ermordet worden. Wye hat natürlich Paget aufgesucht, um zu erfahren, was die Notiz bedeuten solle, und mußte dabei feststellen, daß Paget gewisses Material gegen ihn ermittelt hatte, dessen Veröffentlichung Wyes politische Karriere vernichten mußte.«

»Ohne Zweifel«, stimmte Snargrove zu. »Aber Sie müssen wissen, daß Wyes Name nur einer von vielen auf meiner Liste war – und daß einige andere Namen mir viel aussichtsreicher zu sein schienen. Als wir uns nach Sir Stephen Wyes Tun und Lassen in der Mordnacht umtaten, mußten wir feststellen, daß er ein über jeden Zweifel erhabenes Alibi besaß. Sie interessieren sich vielleicht für Alibis? Hier haben Sie ein Prachtexemplar. Sehen Sie, Wyes Besitzung, Whitelands, ist von Ealing schätzungsweise fünf Meilen entfernt. Wir versuchten nun festzustellen, wo sich Sir Stephen am Montag, dem Tag des Mordes, aufgehalten hatte. Lady Wye war eine Woche auf dem Land gewesen, sollte aber in der fraglichen Nacht zurückkehren. Wye hatte eine Erkältung und legte sich deshalb schon um acht Uhr zu Bett. Um zehn Uhr herum klingelte er, verlangte etwas heißen Whisky und erkundigte sich gleichzeitig, ob Lady Wye schon eingetroffen sei. Der Butler verneinte das und meinte, daß wohl der Nebel an ihrer Verspätung schuld sein dürfte. Sir Stephen stimmte dem zu, ordnete an, daß er nicht mehr gestört zu werden wünsche, und löschte das Licht aus.«

McNab lachte leise.

»Und dann ist er wohl wieder aufgestanden, was? Und hat das Haus durchs Fenster verlassen. Dann hat er eine Weile auf der Straße gewartet, weil er Lady Wye anhalten wollte, bevor sie das Haus erreichte. Der Zweitaktmotor ihres Wagens hatte ein ganz charakteristisches Geräusch, und er hatte deshalb die Möglichkeit, sie trotz des Nebels rechtzeitig anzuhalten, ehe sie an ihm vorbeifuhr. Er veranlaßte sie dann, ihn in ihrem Wagen nach Ealing zu fahren, wo er seine Unterredung mit Ponsonby Paget hatte. Am nächsten Morgen betritt der Butler das Schlafzimmer, um die Vorhänge zu öffnen, und findet seinen Herrn noch in tiefem Schlaf, was? Und dann erfährt Sir Stephen, daß Lady Wye entgegen aller Voraussicht doch noch nicht vom Land zurückgekommen ist.«

»Jawohl, genau das hat der Butler auch ausgesagt. Die Sache hat geradezu glänzend funktioniert«, stimmte Snargrove zu. »Es war ein Erfolg.«

»Oh, bitte, der Erfolg war immerhin doch nur relativ«, plädierte McNab. »Haben Sie vergessen, daß eben erst die gerichtliche Feststellung der Todesursache bei einem gewissen Sir Stephen Wye stattgefunden hat?«

»Das ist wohl wieder Ihre berühmte Logik, nicht wahr? Aber ich muß zugeben, daß sie Ihnen bei diesem Mordfall wirklich gute Dienste geleistet hat. Ohne die Folgerungen, zu denen Sie an Hand des Spazierstocks gekommen sind, hätte sich heute kein Gericht um den Leichnam von Sir Stephen Wye zu kümmern brauchen. Übrigens ist die gerichtliche Feststellung der Todesursache wirklich prachtvoll. Stellen Sie sich doch nur vor: das Gericht stellt als Todesursache einen Automobilunfall fest, drückt Lady Wye sein Beileid aus und erteilt gleichzeitig dem Straßenbauinspektor eine scharfe Rüge. Im übrigen werde ich jetzt sofort mit Lady Wye noch ein Wörtchen zu sprechen haben, und ich fürchte, von Beileid wird dabei nicht die Rede sein.«

»Sie können nicht gegen die Gattin vorgehen, weil sie es unterlassen hat, ihren Ehemann zur Anzeige zu bringen. Im übrigen braucht sie es ja gar nicht gewußt zu haben, warum sie ihn zu Ponsonby Pagets Haus fahren sollte – jedenfalls nicht, ehe das Verbrechen begangen war.«

»Richtig; aber das meine ich gar nicht. Als Helfershelfer werden wir jedenfalls Kinloch verhaften, falls er und sobald er wieder gesund wird.«

»Mein lieber Snargrove«, McNabs Stimme klang entrüstet, »wie können Sie beweisen, daß er sein Helfershelfer gewesen ist? Ebensogut können Sie mich oder den armen Godfrey als Helfershelfer bezeichnen. Der Augenschein lehrt doch, daß Kinloch ebenso wild darauf war, den Mörder zu entdecken, wie Sie, und daß er ihm nicht zur Flucht verhelfen wollte, beweist doch am besten der Schuß, mit dem ihn Wye bedacht hat, ehe er nach Dover abfuhr. Ein größeres Verbrechen als der Mord an dem Erpresser! Ich bin überzeugt, daß Lady Wye ganz meiner Ansicht ist.«

Unwillkürlich hatte McNab lauter gesprochen. Die Pflegerin Jones trat zu ihm.

»Es tut mir leid«, sagte sie, »aber wenn Sie sich noch weiter unterhalten wollen, müssen Sie in das nächste Zimmer gehen. Sie stören den Kranken.«

»Ach, entschuldigen Sie, wir gehen schon«, sagte Snargrove, zahm wie ein Lamm.

McNab stand auch auf.

»Ich will mir die Beine etwas im Korridor vertreten, damit sie nicht steif werden«, sagte er und nahm Snargroves Arm.

Als sie draußen waren, wendete sich die Pflegerin wieder zu mir.

»Ach«, sagte sie, »Sie sind wieder zu sich gekommen?«

»Ich werde einen Rückfall bekommen, wenn Sie immer fortlaufen«, drohte ich ihr.

Aber dieses Mal ging sie nicht fort, sondern klingelte.

»Sie sehen schon besser aus, viel besser«, sagte sie und betrachtete mich vom Fußende meines Bettes aus. »Es kann doch nicht wahr sein, was die – sagen.«

»Was sagen sie denn?«

»Daß es zwei Detektive sind.«

»Das sind sie auch.«

Die hübsche blonde Pflegerin riß die Augen weit auf. »Was haben Sie denn getan? Vogelnester ausnehmen – deswegen würden sie Sie doch nicht bewachen?«

Sie war so erstaunt, daß sie McNab, der in der Tür stand, nicht sah.

»Einer von ihnen«, sagte ich, »ist mein bester Freund.«

»Ach, Sie meinen den kleinen – den lahmen Detektiv?«

McNabs lautes Lachen ließ sie sich umdrehen.

»Nein, nein, Schwester«, sagte er, »ein lahmer Mann wohl, aber kein lahmer Detektiv.«

Als Schwester Jones fortgelaufen war, um die Oberin oder den Doktor oder beide zu sprechen, konnte ich endlich an McNab die Frage richten, die mir schon lange auf der Seele brannte.

»Liegt Kinloch denn im Sterben?«

McNab sah mich feierlich ernst an. »Kinloch ist im Paradies, mein Sohn.«

Er setzte sich auf einen Stuhl neben meinem Bett und nahm meine Hand.

»Hast du es eben erst gehört?« stieß ich hervor.

»Ich sah ihn heute morgen. Er hat auch, verstehst du, was man so einen dienenden Engel nennt, an seiner Seite. Ich habe diesen Engel gestern selbst von Dover mitgebracht.«

Und als ich ihn ganz starr anblickte, tat er, als hätte er mich mißverstanden.

»Ach, jetzt verstehe ich erst, was du meinst – der Schuß, ach, in ein oder zwei Wochen ist die Wunde zu. Die Gefahr, ins wirkliche Paradies einzugehen, ist für ihn nicht größer als für dich.«

 


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