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Sechstes Kapitel

Gegen Ende Januar kam eine Woche rauhen und wilden Wetters. Bald von grimmigen Hagelböen, bald von eiskaltem, alles durchweichendem Regen begleitet, heulte der Wind in mächtigen Stößen über die schutzlos liegenden Höhen. Das Sturmwetter veranlaßte die Leute, zu Hause zu bleiben, und die wenigen Verrichtungen unter freiem Himmel, die der Landwirtschaftsbetrieb dieser entlegenen Gegend erforderte, unterblieben zunächst gänzlich. Es gab Tage, wo selbst Frau Spedding ausblieb. Nur selten einmal tauchte draußen auf dem Gemeindeanger, auf dem die windgepeitschten Ginsterbüsche wogten, wie ein Meer im Sturm, ein einsames Pferdefuhrwerk auf, das mühsam gegen den Wind ankämpfte, während der Lenker frierend unter seiner schützenden Decke zusammengekauert saß. Sonst regte sich tagelang nichts Lebendiges.

Der Sturm und das Gefühl, von aller Welt abgeschnitten zu sein, das er mit sich brachte und das immer stärker wurde, brachte die beiden im Haus einander ein wenig näher. Eine seltsame Laune des Schicksals hatte sie zusammengeführt, aber die Furcht, die über ihnen hing, das gegenseitige Mißtrauen, hatte ihnen bis jetzt wenig Möglichkeit gelassen, zu einer Art gegenseitigen Verständnisses zu kommen. Seit aber Kinloch in dem Bewußtsein umherging, daß die Lösung des Geheimnisses sicher im Futter seines Rockes eingenäht war, begann auch das halb unbewußte Gefühl der Feindschaft gegen die fremde Frau in ihm zu schwinden. Seine Gefährtin wiederum fühlte die Änderung in seinem Benehmen, ohne den wahren Grund dafür zu kennen, und ihr eigenes Verhalten wurde dadurch beeinflußt. Ja, Kinloch begann allmählich, sie, in weit höherem Grade als sich selbst, als das Opfer jenes Mannes zu betrachten, dessen wahre Persönlichkeit sie vor ihm zu verbergen bemüht war.

Eines Abends – sie bürstete gerade ihr Haar, denn sie fand allmählich nichts mehr dabei, in Gegenwart eines Blinden ihr Haar aufzulösen – sagte sie plötzlich:

»Haben Sie bei Ihrer Entlassung aus dem Heer denn keine Kriegsverletztenrente zugebilligt erhalten?«

Kinloch war überrumpelt. Er hatte auf das leise, seidige Zischen der Bürste gehört und versucht, aus der Dauer der Bürstenstriche die Länge ihres Haares zu schätzen.

»O doch«, sagte er, »aber ich habe mir statt der Rente eine Kapitalabfindung bewilligen lassen.«

Die Frage amüsierte ihn. Er lachte kurz auf. Aber ehe er noch zu Ende war, hatte das Bürsten aufgehört.

»Sie haben das Geld wohl zum Fenster hinausgeworfen? Lachen Sie deshalb?«

»Nein. Aber über Ihre neugierigen Fragen. Es erinnerte so an die altmodische, sorgende Hausfrau von einst, die, ehe der Bubikopf Mode war, ihren Gatten ins Kreuzverhör nahm.«

Er hörte die Bürste ihre Arbeit fortsetzen, aber langsamer, als betrachte die Frau ihn zwischendurch nachdenklich durch die Haarsträhnen.

»Hören Sie«, sagte er wie zur Verteidigung gegen einen Vorwurf. »Ich habe das Geld nicht verpulvert – wenigstens nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Ich hatte es in Aktien einer Teegesellschaft angelegt, Kalinder Tee A.-G. Ein Freund hat es mir empfohlen. Neun Pence stand die Aktie damals. Und auf meinen Namen sind einige tausend Stück eingetragen – lauter wertloses Zeug. Der größte Teil davon hatte früher meinem Freund gehört, der geschworen hatte, sie müßten kolossal steigen.«

Als seine Erregung verflogen war, wunderte er sich selbst darüber. Warum lag ihm so viel daran, daß sie ihn nicht schlecht beurteilte?

Aber obgleich sie immer bereit war, mit ihm über seine Vergangenheit und Zukunft zu sprechen, und dies sehr gern tat, mußte er feststellen, daß sie sofort taub und stumm wurde, wenn er das Gespräch auf ihre eigene Vergangenheit und Zukunft brachte. Er konnte sehen, daß sie jede Frage fürchtete. Sie wollte ihn auch offenbar nur ablenken, wenn sie plötzlich begann, ihm laut vorzulesen oder ihm empfahl, ein Buch in Brailles Blindenschrift zu lesen. Aber er hatte von den erhabenen Lettern der Blindenschrift immer schon genug, wenn er die drei Stunden, die Frau Spedding im Hause war, mit dem Buch auf den Knien in seinem Zimmer sitzen und sich schweigend mit seiner Lektion hatte beschäftigen müssen. Während dieser Stunden bewahrte ihn freilich Braille vor den Schrecken der Langenweile. Allmählich bekam er deshalb auch Geschmack daran und machte rasche Fortschritte im Lesen. Abends pflegte dann seine Gefährtin ihm geduldig zuzuhören, wenn er einen unbeholfenen Versuch machte, ihr ein paar Seiten vorzubuchstabieren. Es war genau, wie wenn ein Kind lesen lernt. Dasselbe Steckenbleiben, dieselben langen Pausen und dieselben falschen Ansätze. Und wenn er dann glücklich am Ende der Geschichte angelangt war und einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstieß, während sein Gesicht triumphierend aufleuchtete, dann ähnelte er noch mehr einem kleinen Schuljungen. Dann klopfte sie ihm wohl anerkennend auf die Schulter, und er glühte vor Stolz. So wuchs unmerklich, aber nachhaltend, ihr geistiger Einfluß auf ihn. Sie war die Lehrerin, und er der Schüler.

Doch eines Abends wurde jäh der Mann in ihm wach. Sie saßen vor dem Kamin, die Lampe war noch nicht angezündet. Das Buch mit der Blindenschrift lag auf einem schmalen Tisch, der zwischen ihnen stand. Er hatte gerade mit dem üblichen Stammeln und Stottern und angestrengten Verrenken der Gesichtsmuskeln sich durch seine tägliche Lektion hindurchgequält, als er ihre Hand auf seiner spürte. Das war auch früher schon geschehen, wenn sie, um sich von seinen Fortschritten zu überzeugen, seine Finger gelegentlich auf eine noch nicht geübte Seite des Braillebuches gelegt hatte. Aber diesmal fühlte er etwas Neues. Er hielt ihre Hand fest, und etwas in ihm gab zitternd Antwort auf ihre Berührung. Dies dauerte kaum eine Sekunde. Er spürte die sanfte Wärme ihrer Hand. Dann brachte sie hastig seine Finger in Kontakt mit den erhabenen Buchstaben des Buches.

»Lesen Sie diese Stelle vor«, befahl sie.

Aber ihre Stimme war unsicher und glich durchaus nicht mehr der einer Gouvernante. Und als er sich gehorsam über das Buch beugte, fühlte er ihren Atem wie eine Liebkosung an seiner Wange, während eine lose Strähne ihres Haares sein Gesicht berührte.

Er schnellte in die Höhe. Versuchte sie auf diese Art, seiner Herr zu werden? Ihn in ihren Schlingen zu fangen und sich gefügig zu machen? Wollte sie ihn auf diese Art in die Tasche stecken und ungefährlich machen? Blitzgleich zuckte der Verdacht durch sein Hirn.

»Was ist los?« fragte sie mit einer Spur von Erstaunen.

»Ich will heut abend nicht mehr. Sie – Sie hetzen mich zu sehr.«

»Verzeihung. Soll ich Ihnen also jetzt vorlesen?«

»Ja. Jetzt sind Sie an der Reihe.«

Sie stand auf. Während sie die Lampe anzündete, fragte sie: »Was soll ich Ihnen heute vorlesen?«

»Die Reise mit dem Esel«, sagte er. Er war sich jetzt des Einflusses, den sie über ihn gewonnen hatte, bewußt. Er wußte auch, wie nahe daran er gewesen war, sich lächerlich zu machen.

»Aber wir haben nichts von Stevenson im Haus«, sagte sie.

»Dann lesen Sie mir zur Abwechslung mal die Zeitung vor.«

Keinen Augenblick dachte er daran, daß sie dieser Aufforderung nachkommen würde. Sie hatte noch nicht einmal zugegeben, daß sie je eine Zeitung zu Gesicht bekam. Um so mehr überraschte es ihn, zu hören, wie sie wortlos eine Zeitung entfaltete. Geradezu verblüfft war er aber, als er sie die ersten Worte lesen hörte. Er hatte erwartet, daß sie einen gleichgültigen politischen Leitartikel wählen würde, oder Ausführungen über die gegenwärtige Lage in der Eisenindustrie oder über die Aussichten in der Schuh- und Lederbranche. Nun, ein Leitartikel war es, aber er beschäftigte sich nicht mit Politik. Sie las mit einer Stimme, die nicht ganz sicher klang:

 

»Die mysteriöse Bluttat in Ealing.

Das Publikum, das allmählich zu befürchten beginnt, daß die heutzutage von der Polizei zur Aufdeckung von Verbrechen beliebten Methoden zu veraltet sind, wird nicht umhin können, in fast allen Umständen, die mit der geheimnisvollen Bluttat in Ealing zusammenhängen, eine Bestätigung dieser Befürchtungen zu erblicken. Wir können in den Tadel, mit dem man Scotland Yard jetzt so freigebig bedenkt, nicht vorbehaltlos einstimmen, aber auch wir müssen offen zugeben, es ist recht beunruhigend, daß seit der Bluttat nun schon zwei Wochen ins Land gegangen sind, ohne daß eine einzige Verhaftung erfolgt wäre. Wir müssen diese Tatsache unterstreichen, nicht um unsere Polizei herabzusetzen, deren Arbeitsweise in mancher Beziehung immer noch jede Bewunderung verdient, sondern als handgreiflichen Beweis für unsere Behauptung, daß der neue Verbrechertypus, der bei uns aufgetaucht ist, zu seiner Bekämpfung nicht nur neue polizeiliche Methoden, sondern einen ganz anderen Typus von Kriminalbeamten verlangt. Unglücklicherweise scheint wenig Aussicht, daß wir diesen neuen Typus von Beamten bekommen. Die Polizeibehörden halten immer noch an dem alten Zopf fest, daß sämtliche Kriminalbeamte zunächst als gewöhnliche Polizisten Dienst tun müssen. Die Torheit dieses Verfahrens wird offenbar, wenn man bedenkt, daß der gewöhnliche Polizist mehr mit Rücksicht auf seine körperliche als auf seine intellektuelle Befähigung ausgewählt wird.«

 

Das war das erstemal, daß Kinloch aus der Außenwelt etwas über das Verbrechen hörte. Und die Angelegenheit gewann dadurch ein ganz neues Gesicht. Er fühlte sich ziemlich ernst gestimmt. Als die Vorlesung aufhörte, äußerte er zunächst nichts. Schließlich fragte er ruhig:

»Warum haben Sie mir das vorgelesen?«

»Weil Sie es wünschten.«

»Nein. Sie wußten, daß ich die ganze Zeit Neuigkeiten hören wollte, und Sie haben sich gesträubt, ein Wort verlauten zu lassen. Warum haben Sie mir also jetzt plötzlich das vorgelesen?«

Er hörte, wie sie langsam die Zeitung zusammenlegte, ehe sie ihm Antwort gab.

»Um Sie zu beruhigen«, sagte sie. »Man weiß nichts. Wir werden bald in der Lage sein, jeder unbehelligt seinen eigenen Weg zu gehen. In aller Sicherheit.«

In aller Sicherheit. Das Wort fiel ihm auf.

»So?« sagte er. »Und bis jetzt haben Sie vor mir geheimgehalten, was Sie in der Zeitung lasen, weil die Nachrichten ungünstig lauteten.«

»Zum Teil«, räumte sie ein.

»Sie haben in der Zeitung Nachrichten gesehen, aus denen Sie den Eindruck hatten, daß für uns eine gewisse Gefahr bestand.«

»Nun ja.«

Das Ganze bedrückte ihn. Die Justiz hatte ihre Kräfte mit der Presse vereinigt, mit der Presse, die über so weitreichende Informationsquellen verfügt, um ihn und seine Gefährtin aufzuspüren und zur Strecke zu bringen.

»Nun, Mylady«, sagte er schließlich, »von jetzt ab werde ich genau wissen, was es zu bedeuten hat, wenn Sie mir wieder einmal vorenthalten, was in der Zeitung steht.«

Sie kam zu ihm hin und ließ sich nieder. Er hörte, wie sie die Zeitung wieder zur Hand nahm, dann aber geistesabwesend und nachdenklich mit dem Schüreisen im Feuer stocherte.

Vielleicht hätten sie schon am andern Morgen voneinander Abschied genommen und wären wirklich jeder seines Wegs gegangen, wäre nicht gerade an diesem Morgen der Sturm losgebrochen. Andererseits war es auch nicht unwahrscheinlich, daß Kinlochs Gefährtin die Befehle des Mannes abzuwarten hatte, in dessen Auftrag sie, nach Kinlochs Annahme, handelte. Kinloch hatte ganz gewiß die Absicht gehabt, zu gehen. Aber da kam das stürmische Wetter, und es hielt volle acht Tage an. Acht lange Tage, und in diesen acht Tagen gab es keine Stunde, in der Kinloch nicht der schmalen Hand gedachte, die in der seinen gelegen hatte, in der die Stelle, wo ihr Haar sein Gesicht berührt hatte, ihn nicht brannte wie Feuer. Aber von jetzt ab nahm er sich wieder vor ihr in acht. Wahrscheinlich hatte sie aus den Zeitungen bereits gewußt, daß sie sich bald trennen könnten, und hatte diese kleinen weiblichen Kunstgriffe angewandt, um ihn einzufangen, um sich auf alle Fälle seines Stillschweigens zu versichern. Vielleicht hatte sie sogar dabei nach Weisung eines anderen gehandelt – hatte ihn auf Befehl geliebkost. Kinloch fluchte leise durch die Zähne.

Am vierten Tag des Sturms sagte er zu ihr:

»Sie haben mir nicht wieder aus der Zeitung vorgelesen.«

»Ich habe keine Zeitung zu Gesicht bekommen. Ich muß bis –«, sie unterbrach sich –, »ich muß weit fahren, um Zeitungen zu bekommen.« Dann fügte sie hinzu: »Aber morgen muß ich mir eine Zeitung besorgen, da kann das Wetter sein, wie es will.«

Am nächsten Tag wartete er ungeduldig auf ihre Rückkehr.

»Nun?« fragte er, als sie wieder da war.

»Es steht nichts darüber drin. Nicht das kleinste Wörtchen.«

Aber seinem Ohr entging nicht eine gewisse Unruhe in ihrer Stimme, die ihm verriet, daß sie ihn belog.

»Keine Nachrichten sind gute Nachrichten. Warum sind Sie so erschreckt?« fragte er verächtlich.

Er erwartete, daß sie bestreiten würde, erschreckt zu sein.

»Sie – Sie sind immer noch gewiß, daß es unmöglich ist, Spuren von Ihnen zu entdecken?« fragte sie schließlich zögernd.

»Durchaus«, antwortete er und fragte sich verwundert, was dies zu bedeuten habe.

»Sie denken, Sie können mit dem – mit dem, was sich ereignet hat, nicht in Beziehung gebracht werden?«

»Ich wüßte nicht wie. Das einzige, was ich dort zurückgelassen habe, ist ein Spazierstock.«

»Ein Spazierstock kann genügen, um den Eigentümer aufzuspüren.«

»Dieser Stock nicht«, versicherte Kinloch. »Leute, die da leben, wo ich gelebt habe, haben nicht die Gewohnheit, Namen und Adresse auf einem silbernen Schildchen am Spazierstock eingravieren zu lassen.«

»Aber der Polizist, der Sie damals in der Nacht festgehalten hat, der würde Sie doch sicher wiedererkennen.«

»Vielleicht. Aber ich werde mich hüten, ihm unter die Augen zu kommen.«

»Es kann ihm doch nicht entgangen sein, daß Sie blind sind.«

»Gerade das hat er nicht gesehen. Es wäre ihm niemals eingefallen, einen Blinden wegen verdächtigen Herumtreibens festzunehmen. Und denken Sie daran, die kurze Strecke, die wir zusammen zurückgelegt haben, hielt er mich am Arm gepackt, so daß er mir als Führer diente. Ich habe ihm absichtlich nicht gesagt, daß ich blind bin. Ich habe mir diesen Umstand aufsparen wollen, bis zur Einlieferung auf der Polizeiwache. Ich schuldete ihm eine kleine Überraschung. Nicht wahr? Denn er hat sich reichlich viehisch und gemein benommen.«

»Aber es muß doch ganz gewiß jemanden geben, dem Ihre Abwesenheit auffällt?« forschte sie hartnäckig.

Kinloch lachte bitter.

»Keine Menschenseele. Niemand wird über mein Verschwinden Alarm geschlagen haben. Höchstens käme Beaumont in Betracht, der Bettelbriefschreiber, der mir das Fahrgeld bis Ealing geliehen hat. Aber ich glaube, er wird kein Wort über mein plötzliches Verschwinden verlieren.«

»Warum nicht?«

»Warum nicht? Begreifen Sie das nicht? Er wird glauben, ich bin nicht zurückgekommen, damit ich ihm das Geld nicht zurückzahlen muß, das er mir geliehen hat. Mir tut das übrigens leid. Er hat sowieso schon keinen hohen Begriff von den Menschen. Und nun«, fügte er hinzu, »werden Sie mir endlich erzählen, was alle diese Fragen zu bedeuten haben. Sie haben in der Zeitung etwas Besonderes gefunden. Nicht wahr?«

»Nein, über die Mordangelegenheit steht nichts in der Zeitung. Aber über Sie.«

»Über mich?« rief er ungläubig.

»Hör'n Sie zu. Es steht im Inseratenteil:

Vermißt:

Alexander David Kinloch.

Er wurde zuletzt gesehen am 15. Januar nachts in Ealing. Personen, die in der Lage sind, über seinen jetzigen Aufenthalt Auskunft zu geben, wollen sich mit der Firma Selwyn & Smith, Devon Chambers, Chancery Lane in Verbindung setzen. Hohe Belohnung!«

Er war vollständig verblüfft und fassungslos.

»Irgend jemand scheint Sie aus irgendeinem Grund zu suchen«, meinte sie zweifelnd.

In all seiner Bestürzung mußte er lächeln.

»Auf keinen Fall ist's Beaumont. Der hat sich längst mit seinem Verlust abgefunden.«

»Vielleicht die Polizei?« Sie flüsterte es.

»Schon möglich. Lesen Sie es nochmals vor.«

Sie gehorchte. Diesmal fiel ihm die besondere Fassung des Textes auf. Das Inserat forderte Alexander David Kinloch nicht auf, sich selbst zu melden, wie es sonst in solchen Fällen üblich war. Warum nicht? Der Inserent wußte entweder, daß er nicht wollte oder daß er nicht konnte. Dann fiel ihm noch etwas auf. »Zuletzt gesehen in Ealing.« In Ealing? Von wem denn? Je mehr er darüber nachdachte, desto weniger gefiel es ihm. Selbst wenn das Inserat nicht von der Polizei veranlaßt war, mußte es die Aufmerksamkeit der Polizei erregen. Denn die Nacht vom Montag, den 15. Januar, in der Alexander David Kinloch in Ealing gesehen worden war, war ja auch die Nacht des Mordes in Ealing. Das war ein Zusammenhang, dem die Behörden sicher nachspüren würden.

»Es sieht aus«, meinte er schließlich, »als ob man hinter mir her wäre.«

Seine Worte verrieten keine Furcht. Er war nur überrascht. Er konnte sich keine Vorstellung davon machen, wie es den Leuten gelungen war, zwischen ihm und der Mordangelegenheit eine Verbindung herzustellen.

Beide schwiegen geraume Zeit.

»Wir müssen hierbleiben«, sagte sie. »Niemand kann wissen, wo Sie sich befinden.«

Jetzt erinnerte er sich an eine zufällige Bemerkung Beaumonts. In der Spelunke, in der sie beide wohnten, war einmal eifrig darüber debattiert worden, wie man am besten der Polizei aus dem Wege gehen könne. Das war ein Thema, das immer zu lebhaften und erregten Diskussionen führte. Und Beaumont – daran erinnerte sich Kinloch – hatte damals die These aufgestellt, die Polizei habe ihrer eigenen Geschicklichkeit viel weniger zu verdanken als der Torheit derer, die von ihr gesucht werden. »Sich still verhalten«, hatte Beaumonts Rat damals gelautet. »Es gehört eine gewisse Kaltblütigkeit dazu, aber es ist das richtige Verfahren. Wenn man sich einmal verleiten läßt, Fersengeld zu geben, das ist, als ob man ihnen erzählte, daß man es getan hat, und von dem Augenblick an ist man geliefert.«

»Jawohl«, sagte er zu ihr. »Das beste scheint, noch eine Weile hierzubleiben.« Er horchte hinaus auf das Toben des Windes. »Wenn das kein sicheres Versteck ist, dann gibt's überhaupt keines.«

Und so verlief ihr Leben bis zum letzten Sturmtag ganz friedlich. Eine Zeitung kam nicht ins Haus. Und dann traf sie der Donnerschlag. Er kam unerwartet, und es war eine Möglichkeit, die sie ganz übersehen hatten. Frau Spedding hatte gerade das Haus verlassen. Kinlochs Gefährtin war in ihrem Zimmer und zog sich an. Sie wollte eilig weg, um endlich eine neue Zeitung zu besorgen. Kinloch war eben im Begriff, sich aus dem sicheren Asyl seines Zimmers herauszuwagen, da hörte er Frau Spedding raschen und entschlossenen Schrittes durch den Flur stürmen. Er hörte, wie sie energisch an die Tür klopfte, die seiner eigenen gegenüberlag.

»Miss Stella!«

»Ja?«

»Ich muß Sie etwas fragen. Das kann nicht mehr so weitergehen. Ich kann's nicht mehr zurückhalten. Ich kann's nicht! Ich kann's nicht!«

Die Frau war, wie ihre Stimme verriet, in höchster Erregung. Er wußte nicht, was Miss Stella geantwortet hatte. Jedenfalls hörte er nichts. Aber Frau Speddings Frage hörte er ohne jede Mühe. Sie platzte damit heraus, laut, unbeherrscht:

»Lebt hier ein Mann im Haus?«


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