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Neuntes Kapitel

Lange Zeit muß ich, ohne mich zu rühren, diesen Stiefel angestarrt haben. Vielleicht hatte ich die törichte Hoffnung, daß sich der Stiefel doch noch bewegen würde. Ja es gab Augenblicke, wo ich hätte schwören können, er habe sich bewegt. Das muß eine Täuschung gewesen sein, die durch die tanzenden Reflexe der langsam zusammenbrechenden Glut im Kamin auf dem Lackleder des Stiefels hervorgerufen wurde. Jedenfalls gab mir diese Täuschung für den Augenblick neue Hoffnung und neuen Mut. Ich schlich mich vorsichtig um den Tisch herum und fand – nun, ich fand den Beweis, daß der Fuß in seinem glänzenden Lackschuh sich in Wirklichkeit nicht bewegt hatte, und daß er sich niemals mehr bewegen würde.

Der Körper, der da auf dem Rücken ausgestreckt lag, das eine Bein in einer seltsam verkrümmten Stellung unter dem Körper begraben, die Arme mit den Handflächen nach oben über den Kopf gestreckt, war der Körper Ponsonby Pagets. Auf seiner weißen Hemdbrust war ein runder, dunkelroter Fleck, und auf dem dicken, grauen Teppich daneben stand eine große, scharlachfarbene Pfütze.

Ich wußte sofort, daß der Tod längst eingetreten war. Ich hatte beruflich schon so oft an polizeilichen Untersuchungen und behördlichen Leichenbesichtigungen teilnehmen müssen, daß ich mich über die Symptome nicht täuschen konnte. Und sobald ich zu der Gewißheit gelangt war, machte ich mich auf den Weg, um die Hausbewohner zu alarmieren.

Als ich hinausstürzte, geriet ich in völlige Finsternis. Nirgends im Haus brannte Licht. Ich rannte in der Dunkelheit gegen die Möbel und tastete mich ungeschickt vorwärts, um die Hintertreppe zu finden. Ich wollte ausfindig machen, wo das Hauspersonal untergebracht war. Ich wußte zwar, daß Ponsonby Paget seit längerer Zeit Witwer war, aber ich hatte keine Ahnung, ob seinem Haushalt irgendwelche weiblichen Verwandten angehörten, und hielt es für besser, zunächst mich mit irgendeinem der Hausangestellten in Verbindung zu setzen. Aber ehe ich jemanden ausfindig machen konnte, war ich selbst entdeckt, denn als ich die Hintertreppe hinaufstolperte, erschien auf der obersten Stufe ein Mann in Hemd und Hose, eine Kerze in der einen, einen Schürhaken in der anderen Hand.

»Was haben Sie hier zu suchen?« rief er mit etwas unsicherer Stimme.

»Ruhe!« winkte ich. »Mein Name ist Chance. Kommen Sie herunter und zeigen Sie mir, wo das Telephon ist. Es ist etwas vorgefallen.«

Er starrte unschlüssig zu mir hinunter. Inzwischen erschienen hinter ihm andere weiße Gestalten. Mit verängstigten Gesichtern drängten sie sich im Hintergrund zu einem Grüppchen zusammen.

»Machen Sie schon! Schnell!« drängte ich.

»Sind Sie der Herr, den Mister Paget erwartete«, erkundigte er sich.

»Jawohl.« Und um ihn zu beruhigen, fügte ich hinzu: »Sie sollten mir was zum Abendessen geben.«

»Jawohl, Herr, das stimmt. Wir haben im Frühstückszimmer für Sie gedeckt«, entgegnete er. Es klang, als wäre ich bloß auf der Treppe, um mich danach zu erkundigen.

»Ach, Sie Idiot! Schicken Sie die Frauenzimmer wieder ins Bett und machen Sie, daß Sie herunterkommen.«

Aber als ich ihn glücklich unten im Zimmer hatte, war er seiner Furcht endlich Herr geworden. Ja, ich muß sagen, nach der Art, wie er vor der Leiche seines Herrn den ersten Schreck überwand, mußte ich annehmen, daß er entweder sehr gesunde Nerven hatte oder dem Verstorbenen nicht gerade besonders zugetan war. Mit einiger Erleichterung erfuhr ich aus seinem Munde, daß niemand von Pagets Verwandtschaft im Hause wohnte. Das erste, was ich tat, war, das nächste Polizeirevier anzurufen – was nicht lange Zeit in Anspruch nahm –, das zweite, mich mit dem »Record« verbinden zu lassen und der Redaktion die große Neuigkeit zu melden, wobei ich gleichzeitig ersuchte, mir im Blatt noch Raum für weitere Einzelheiten zu lassen. Man rühmt sich nicht umsonst, ein guter Journalist zu sein. Während ich auf die Ankunft der Polizei wartete, schrieb ich wie besessen. Ich wußte, daß man inzwischen auf der Redaktion des »Record« eifrig beschäftigt war, im Archiv nach dem bereitliegenden Nachruf für Ponsonby Paget und nach dem vorrätigen Klischee mit seinem Bilde zu suchen.

Das pünktliche Eintreffen der Beamten des Polizeireviers wurde durch den dicken Nebel nicht verzögert. Zunächst erschien ein Polizist, der sofort vor dem Mordzimmer Posten bezog. Beinah auf den Fersen folgte ein Polizeiinspektor mit zwei anderen Beamten und einem Arzt. Ich überreichte dem Inspektor meine Visitenkarte und erzählte, was ich zu berichten wußte. Ich stand wie auf glühenden Kohlen, denn ich wollte so rasch wie möglich auf die Redaktion. Mir wurde aber rundheraus die Erlaubnis verweigert, das Haus zu verlassen. Statt dessen mußte ich an der Wand auf einem Stuhl Platz nehmen, und einer der Polizisten hielt sich wachsam immer in meiner unmittelbaren Nähe. Der Arzt war inzwischen mit der Untersuchung der Leiche beschäftigt. Ich hörte, wie er mit dem Inspektor flüsterte, aber ich konnte nicht herausbekommen, was vorging. Dann kam der Arzt zu mir und warf einen kurzen Blick auf meine Ärmel. Er schmunzelte mich an, als ob er mich um Entschuldigung bitte, und gab, indem er verneinend den Kopf schüttelte, dem Inspektor ein Zeichen mit den Augen.

»Müßte in Blut gebadet sein«, erklärte er dem Inspektor. »Ich will Ihnen etwas sagen, Green: der Mann, der den tödlichen Stoß geführt hat, wußte, wie man mit einem Messer umgeht. War an den Gebrauch einer solchen Waffe gewöhnt. Er hat von unten nach oben gestoßen, statt von oben nach unten, was das Natürliche wäre.«

Der Inspektor schnüffelte unter den Möbeltrümmern herum. Man merkte ohne weiteres, daß er hoffte, irgend etwas zu entdecken, das der Mörder zurückgelassen hatte. Ich sah, wie er sich dabei in acht nahm, nichts zu verrücken oder anzufassen. Nur von seinen Augen machte er Gebrauch. Die andern sahen zu. Es dauerte nicht lange, bis er sich plötzlich bückte und etwas unter dem umgefallenen Wandschirm herausfischte. Dann sah ich, was es war: ein Spazierstock aus ziemlich hellem Holz. Der Inspektor betrachtete ihn nachdenklich. Dann kam er zu uns herüber.

»Der scheint mir auch nicht gerade in ein Arbeitszimmer zu gehören«, meinte er, »ich möchte gern wissen, ob –«

Er unterbrach sich und sagte statt dessen: »Dr. Dunn, wie groß war wohl der Mann, der diesen Stock zu benutzen pflegte?«

Der Doktor streckte die Hand nach dem Stock aus. Mit einemmal sah ich ihn ziemlich heftig zusammenfahren.

»Großer Gott!« flüsterte er.

»Was?« fragte der Beamte überrascht. »Was ist denn los?«

»Ach so, Sie meinen«, stammelte der Doktor hastig, »Sie meinen, der Mörder hat diesen Stock hier vergessen.«

Der andere nickte:

»Er muß mindestens sechs Fuß groß gewesen sein, wenn ein so langer Stock für ihn handgerecht sein sollte.«

»Mindestens«, stimmte der Doktor ziemlich eilig zu, während er sich probeweise auf den Stock stützte. »Vielleicht noch ein bißchen mehr.«

Die Untersuchung dauerte an. Ungeduldig hörte ich zu. Wie lange wollte man mich noch festhalten? Die Postausgaben unseres Blattes und die erste Morgenausgabe waren schon unterwegs. Meine einzige Hoffnung war jetzt noch die zweite Stadtausgabe, die um drei Uhr morgens das Haus verließ. Die aber mußte ich unbedingt noch erwischen.

Ich war schon am Rand der Verzweiflung angelangt, als der Inspektor mich endlich entließ, nachdem er zunächst noch telephonisch mit einer vorgesetzten Stelle beraten und dann meine Redaktion angerufen hatte, um sich meine Identität bestätigen zu lassen, aber ich mußte das Polizeiauto benutzen. Immerhin war es noch früh am Tag, als sie mich endlich in der Redaktion ablieferten.

Ich konnte feststellen, daß ich in der Redaktion bereits eine berühmte Persönlichkeit geworden war. Die Setzer rissen sich um mein Manuskript. Und als meine Arbeit beendet war, teilte mir Matheson mit, daß später am Tag Lord Babbington mich zu sprechen wünsche. Lord Babbington war der Besitzer des »Record«. Ich machte ein erstauntes Gesicht.

»Es geschieht nicht oft«, knurrte Matheson, »daß der Umgang mit zweifelhaften Persönlichkeiten einem zu einer solchen Auszeichnung verhilft.«

 

Ich hatte kaum zehn Minuten in meinem Bett gelegen – so wenigstens kam es mir vor –, als es wie rasend an der Tür klopfte. Man schob einen Zettel durch den Türspalt, und als ich, erst halbwach, aus dem Bett getaumelt war, stellte ich fest, daß er die Weisung enthielt, so rasch als möglich wieder nach Ealing hinauszufahren, um McNab zu unterstützen, der von der Zeitung hingeschickt worden war, um neue Informationen einzuholen. Als ich mich anzog, fiel es mir auf, wie hell es schon draußen war. Ich sah auf die Uhr. Es war beinahe Mittag. Ich hatte ungefähr fünf Stunden geschlafen. Der Nebel war verschwunden. Jetzt erst fand ich Zeit, an den Menschen Ponsonby Paget zu denken. An den Menschen, den ich gekannt und dem ich zugetan gewesen war, während sein Tod bislang nichts anderes für mich gewesen war als ein sensationelles Ereignis, über das ich zu berichten hatte. Ich kann sagen, daß auf der ganzen Fahrt nach Ealing ich mit aufrichtiger Trauer an ihn dachte.

Jetzt war es nicht schwierig, unter den Häusern der Tookworth Avenue dasjenige zu erkennen, dessen Besitzer er gewesen war. Ein Polizist stand vor der Tür, um die unzähligen Neugierigen abzuwehren, die das Grundstück belagerten. Die Auffahrt war mit einem Strick abgesperrt, um das Betreten des Hauses auf diesem Wege unmöglich zu machen. Diese Vorsichtsmaßregel schien besonderen Eindruck auf das vor dem Gartengitter versammelte Publikum zu machen. Immer wieder reckten sie die Hälse und deuteten auf den Kies des abgesperrten Weges. Aber es war da eigentlich nichts zu sehen als die Räderspuren und Fußabdrücke der vielen Leute, die die Auffahrt schon benutzt hatten, ehe man den Einfall gehabt hatte, sie abzusperren. Auf dem Rasen tummelten sich die Pressephotographen, die das Haus aus allen Windrichtungen aufnahmen. Meinen Bekannten von der Nacht her, den Inspektor des Polizeireviers, fand ich im Vorraum. Seine Bedeutung war wesentlich herabgedrückt, seit die prominenten Leute von Scotland Yard erschienen waren. Er war jetzt kaum mehr als eine Art Türsteher. Mit einem Kopfnicken gab er dem Posten vor der Tür Weisung, mich eintreten zu lassen. Gleichzeitig winkte er mir.

»Inspektor Snargrove wünscht Sie zu sprechen«, erklärte er. »Kommen Sie hier herum.«

Snargrove genoß, wie ich wußte, einen gewissen Ruf. Bis jetzt war ich mit den Tatsachen der Mordtat zu sehr beschäftigt gewesen, um mir über die Beweggründe eine Ansicht zu bilden. Aber ich hatte mit ziemlicher Selbstverständlichkeit angenommen, daß der Mord von einem überraschten Einbrecher begangen worden sei, irgendeinem Vagabunden, der um das Haus herumschlich und die angelehnte Tür entdeckte, durch die ich selbst später das Haus betreten hatte. Jetzt, wo ich erfuhr, daß sich die lokalen Polizeibehörden veranlaßt gesehen hatten, die Unterstützung der Polizeizentrale in Scotland Yard anzufordern, zerfloß meine Theorie, daß es sich um einen verhältnismäßig einfach gelagerten Fall handle, zu nichts.

Der Revierinspektor klopfte behutsam an, als stehe er vor der Tür eines Krankenzimmers, steckte den Kopf durch den Spalt, um mich anzumelden, und gab mir dann den Weg frei.

Inspektor Snargrove lag auf den Knien und untersuchte mit einer Lupe in der Hand die Wand gegenüber dem Kamin mit großer Gründlichkeit. Seine Begrüßung bestand darin, daß er, ohne den Mund zu öffnen, mir zuwinkte, ihm aus dem Licht zu gehen. McNab saß neben dem Kamin. Neben ihm stand ein Unbekannter, der dem Feuer den Rücken kehrte. Die Leiche war entfernt worden. Sonst schien man nichts im Zimmer angerührt zu haben, es war alles noch so, wie ich es zuerst erblickt hatte. Weder McNab noch der andere, ein schmaler Mensch mit scharfen, asketischen, beinahe priesterlichen Zügen, kümmerte sich auch nur im geringsten um mich. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Snargrove.

Der Kriminalbeamte untersuchte eine Reihe dunkler Flecke, die auf der ungemusterten grauen Tapete zu sehen waren. Sie befanden sich etwa drei Fuß über dem Boden. Sie wiederholten sich in Abständen, und zwar waren immer drei zu einer Gruppe vereinigt. Der mittelste Fleck saß dabei etwas höher als die beiden anderen. Jede solche Gruppe lag etwa zwei Fuß von der andern entfernt. Nicht alle Flecke zeichneten sich mit derselben Deutlichkeit ab. In der Nähe der Tür, die ins Innere des Hauses führte, waren sie schwächer.

Ehe ich mich von meiner Verwunderung erholt hatte, schob Snargrove seine Lupe in die Tasche, stand auf und kam zu uns. Er war ein Mann von kräftigem Körperbau und frischer Gesichtsfarbe, mit kalten, graublauen Augen, wie man sie bei Menschen mit diesem Teint so häufig trifft, und einem langen, hängenden Schnurrbart.

»Ich denke«, sagte er, sich niederlassend, »wir sind jetzt in der Lage, unserem jungen Freund hier ein paar Fragen – einige wenige intelligente Fragen vorzulegen.«

Der Mann mit dem schmalen Mund und dem Asketengesicht setzte sich jetzt ebenfalls. McNab wies mir einen niederen Stuhl an, der dicht neben ihm stand. Snargrove nickte mir aufmunternd zu. Aus der Tasche zog er den Bericht, den ich für den »Record« geschrieben hatte.

»Ihre Aufzeichnungen haben sich als sehr nützlich erwiesen, Mister Chance. Sehr nützlich! Trotzdem werden einige Einzelheiten, scheint mir, bei Ihnen im ungewissen gelassen.«

»Alles, was ich weiß, steht zu Ihrer Verfügung.«

»Gut. Das ist Mister Freelys Angelegenheit.«

Der Mann mit dem schmalen Mund, auf den Snargrove mit einer Handbewegung gewiesen hatte, nickte kurz. Seine Fragen waren rasch und präzis. Man mußte fix sein mit der Antwort. Snargrove ließ einem Zeit zum Nachdenken, Freely nicht.

»Mister Paget erwartete Sie gestern nacht?«

»Ja. Er bat mich zum Essen.«

»Für wieviel Uhr?«

»Elf.«

Mister Freely zog die Augenbrauen hoch. Das sollte mich wohl aus der Fassung bringen. Ich berichtete ausführlich über das Telephongespräch, das ich mit dem Ermordeten geführt hatte.

»Es war ihm sehr an Ihrem Besuch gelegen?«

»Jawohl.«

»Hm, woher wissen Sie das so genau?«

»Nun, ich kann mich gut erinnern, daß er leise vor sich hin fluchte, da es schien, als könne ich nicht kommen. Und ich hatte bis dahin ihn noch niemals fluchen gehört.«

»Er war erregt?«

»Sehr.«

»Hatten Sie den Eindruck, daß noch jemand anders erwartet wurde?«

»Er hat niemanden erwähnt, und ich erwartete durchaus, ihn allein zu finden.«

»Mister Chance, wenn eine Karaffe mit Whisky und zwei Gläser auf dem Tisch hier bereitgestellt gewesen wären, hätten Sie geglaubt, daß eines dieser Gläser für Sie bestimmt war?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Mister Paget kannte meine Gewohnheiten. Als ich ihn zum erstenmal in seinem Klub aufsuchte, hatte er mich gedrängt, einen Schluck zu nehmen.«

»Und bei späteren Gelegenheiten nicht mehr?«

»Nie. Er war ein Mann, der für solche Kleinigkeiten ein sehr gutes Gedächtnis hatte.«

»Sie sind hier gegen ein Uhr angekommen, wie der Polizist sagt.«

»Drei Minuten nach eins, nach meiner Uhr.«

»Sie legten so großen Wert darauf, Mister Paget zu sprechen, daß Sie trotz der späten Stunde das Haus betreten haben. Worauf ist das zurückzuführen?«

»Ich war, als ich hier ankam, selbst unschlüssig, ob ich versuchen sollte, ins Haus zu gelangen oder gleich umkehren. Schließlich ging ich um das Haus herum, um festzustellen, ob irgendwo noch Licht zu sehen war. Ich wollte Herrn Ponsonby Paget wenigstens beweisen, daß ich ihn nicht einfach im Stich gelassen hatte.«

Mister Freely stellte sich vor mich.

»Strecken Sie die linke Hand aus«, sagte er und suchte in seiner Tasche.

Als ich ziemlich ärgerlich ihm die Hand hinstreckte, zog er eine Lupe aus der Tasche und musterte meine Hand sehr gründlich. Ich fand es etwas lächerlich, nachdem so lange Zeit verflossen war, noch meine Hände derart genau zu betrachten.

»Danke. Nun erzählen Sie bitte, was Ihnen zuerst auffiel, als Sie das Zimmer betraten.«

»Der heruntergerissene Vorhang und die umgestürzten Stühle. Dann sah ich einen Fuß unter dem Tisch herausragen.«

»Das erschreckte Sie und Sie hielten sich rasch am Tisch fest?«

»Es hat mich beunruhigt, aber nicht erschreckt. Ich hatte den Fuß schon gesehen, ehe ich bis an den Tisch gelangt war.«

»Da irren Sie sich, Mister Chance. Sie sahen den Fuß erst, als Sie am Tisch standen. Obwohl das Zimmer erleuchtet war, lag die Leiche im Schatten an einem Ende des Tisches.«

»Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, mich am Tisch festgehalten zu haben.«

Mister Freely lächelte.

»Streiten Sie das nicht so eifrig ab. Es ist eine Tatsache, die nur dazu dienen könnte, Sie von allem Verdacht der Beteiligung an dem Verbrechen reinzuwaschen. Sehn Sie mal her!«

Er führte mich an den Tisch und nahm eine Zeitung weg. Ich erblickte vier Kreise, die mit Kreide auf das polierte Holz gezeichnet waren.

»Dies sind die vier Finger Ihrer linken Hand. Der Daumenabdruck ist auf der unteren Seite der Tischplatte. Großartige Fingerabdrücke, denn Sie haben im ersten Schreck fest zugegriffen und gleichzeitig ist Ihre Hand feucht geworden. Der Mann, von dem diese Fingerabdrücke herrühren, hat plötzlich etwas erblickt, auf das er nicht gefaßt war, und der kalte Schweiß brach ihm aus. Vergleichen Sie einmal selbst. Sehen Sie sich zum Beispiel die Spiralen an, die die Hautlinien des Mittelfingers beschreiben, und die Linien, die in einem Halbkreis zur Seite biegen, als wollten sie der Berührung mit der doppelten Querlinie hinter dem ersten Fingergelenk aus dem Wege gehn – das sind Ihre Fingerabdrücke.«

Nach einem flüchtigen Vergleich mußte ich zugeben, daß Freely recht hatte. Aber ich konnte mich nicht erinnern, mich am Tische festgehalten zu haben.

»Wir hatten einen ganz bestimmten Grund dafür, Mister Chance, Ihnen dieses kleine Experiment vorzumachen. Ihr Beruf, der von Ihnen scharfe Beobachtung verlangt hat, macht Sie für uns zu einer verläßlicheren Informationsquelle als andere, auf die wir gewöhnlich rechnen können, aber – hm – wie Sie sehen – Sie sind auch nicht unfehlbar. Überlegen Sie sich, bitte, die Antwort auf meine nächste Frage sehr genau.«

Er wartete, bis ich zustimmend genickt hatte.

»James Brown, der Butler, erklärt, daß der Schlüssel dieser Tür immer innen im Schloß steckenbleibt. Als Sie das Zimmer verließen, um Hilfe herbeizurufen, war da die Tür verschlossen oder nicht?«

Es war für mich recht demütigend, daß ich mich daran nicht erinnern konnte, aber es war mir völlig aus dem Gedächtnis entschwunden, und nach kurzem Zögern äußerte ich mich dementsprechend.

»Das ist jammerschade«, meinte Freely, »aber recht natürlich. Sie waren eben ganz und gar von dem Gedanken in Anspruch genommen, Hilfe herbeizuholen. Indessen habe ich hier noch etwas Leichteres.« Er trat an den Tisch und nahm den Spazierstock in die Hand, den der Revierinspektor in meinem Beisein unter dem umgestürzten Wandschirm herausgefischt hatte. »Ist das vielleicht Ihr Stock?«

»Nein. Ich benutze nie einen Stock.«

»Betrachten Sie ihn genauer. Haben Sie ihn vielleicht früher schon gesehen, zum Beispiel bei Herrn Paget?«

Es war ein langer, kräftiger Eichenstock von der gewöhnlichsten Art. Die einfache Krücke war ziemlich schmutzig.

»Niemals. Für Herrn Paget wäre der Stock viel zu lang gewesen und außerdem bei weitem nicht elegant genug.«

»Großartig! Das bestätigt die Aussage des Butlers, der die Idee, daß sein Herr einen Gegenstand dieser Art besessen haben sollte, geradezu mit Hohngelächter begrüßt hat. Wir können also so ziemlich gewiß sein, daß der Stock von dem Mörder zurückgelassen worden ist.«

Freelys Miene legte große Zufriedenheit an den Tag. Auch Snargrove nickte zustimmend. Als Freely den Stock wieder auf den Tisch legte, klopfte es an der Tür. Ein Polizeibeamter trat ein, der mit äußerster Vorsicht ein viereckiges Papierblatt auf der ausgestreckten Hand trug. Freely befahl ihm, das Papier auf den Tisch zu legen. Ich konnte auf der weißen Papieroberfläche fünf regelmäßige Kleckse sehen und erriet sofort, daß es die Fingerabdrücke des Ermordeten sein mußten.

»Ich denke, wir erledigen das gleich, was, Snargrove?«

Auf diese Frage seines Kollegen stand Snargrove auf und trat an den Tisch. McNab blieb sitzen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht zwischen den Händen, ersichtlich tief in Gedanken versunken. Mich dagegen erfüllte ein so brennendes Interesse an den Vorgängen, daß ich ebenfalls an den Tisch trat, und zwar wählte ich meinen Posten an der anderen Tischseite gegenüber den beiden Spezialisten von Scotland Yard. Wenn man Journalist ist, hat man ein dickes Fell und fürchtet eine gelegentliche Zurückweisung nicht. Den beiden Beamten schien es aber gar nichts auszumachen, daß ich zusah. Jetzt bemerkte ich, daß auf dem Tisch eine ganze Anzahl verschiedener Gegenstände systematisch aufgereiht war. Eine merkwürdig widerspruchsvolle Zusammenstellung! Zuerst ein Überzieher mit Pelzkragen und pelzbesetzten Ärmelaufschlägen, dann ein Paar Lackschuhe, ein kleiner Haufen Glasscherben, ein gewöhnlicher Briefumschlag, eine halbvolle Karaffe mit einer Flüssigkeit, die wie Whisky aussah, eine dreieckige Spiegelscheibe, anscheinend der Überrest eines Handspiegels, und zuletzt der bereits erwähnte dicke Eichenstock.

Die beiden Kriminalisten begannen ihre Arbeit mit dem Häufchen Glassplitter. Freely nahm eine Pinzette heraus und sortierte sie damit in zwei getrennte Gruppen. Als er mit seiner Arbeit fertig war, sah ich, daß nun die beiden Glashäufchen die Überreste zweier Becher darstellten. Snargrove, der interessiert zugesehen hatte, zog jetzt eine kleine Schachtel aus der Tasche, aber Freely schob nach einigem Nachdenken zwei oder drei Glastrümmer des einen Bechers noch zu der Gruppe des andern hinüber. Dann bestäubte der Inspektor das Ganze mit einem grauen Pulver aus seinem Kästchen. Nachdem sie etwa eine Minute gewartet hatten, strich Freely mit einem weichen Pinsel vorsichtig über die eingestäubten Glasflächen. Das Ergebnis verblüffte mich. Es war, wie wenn man eine photographische Platte entwickelt. Auf dem Glas wurden Fingerspuren sichtbar.

»Wir haben ihn!« murmelte Snargrove. »Wir haben ihn! Das ist das Glas, das er benutzt hat.«

Freely richtete sich auf, warf einen Blick auf das Papier, das die Fingerabdrücke des Ermordeten zeigte, und nickte zustimmend. Selbst ich konnte sehen, daß die Fingerspuren auf dem Glas andere waren, sogar der Größe nach. Um das eine – wohl das von Mr. Ponsonby Paget benutzte – Glas kümmerten sich die beiden Kriminalisten jetzt nicht mehr. Sie kehrten an den Kamin zurück und ließen sich nieder, sehr zu meiner Enttäuschung. Ich war neugierig, wozu die andern Beweisstücke dienen sollten, ganz besonders interessierte mich, was der Briefumschlag wohl enthalten könne.

»Wir sind jetzt beinahe schon in der Lage, den Hergang des Verbrechens zu rekonstruieren«, sagte Snargrove, sich behaglich zurechtrückend. »Rufen Sie James Brown, den Butler. Wir haben noch ein oder zwei ergänzende Fragen an ihn zu stellen.«

Der Butler erschien. Seine zitternden Hände zeugten von einer gewissen Nervosität. Bei meinem ersten Zusammentreffen mit ihm hatte ich in der Aufregung den Mann nicht genauer betrachtet. Jetzt, als er vor Snargrove stand, holte ich das nach. Er war Anfang der Fünfziger, neigte zur Korpulenz, hatte Säcke unter den Augen und das glatte, maskenhafte Gesicht, das für seinen Beruf charakteristisch ist. Und trotz der Erregung, die mir bei seinem Eintreten aufgefallen war, verriet sich keine Nervosität mehr in der Verbeugung, mit der er den Inspektor begrüßte.

»Nach Ihrer Aussage haben Sie in der vergangenen Nacht keinen Besucher in diesen Raum geführt«, begann Snargrove.

»Jawohl, mein Herr, das stimmt.«

»Hatte Mister Paget gelegentlich Besucher, die nicht von Ihnen angemeldet wurden?«

»Häufig.«

»Auch spät in der Nacht?«

»Unzählige Male.«

»Sie konnten die Stimmen hören?«

»Jawohl, entweder wenn ich vor dem Zubettgehen noch durchs Haus ging, um überall abzuschließen, oder manchmal auch, wenn Mister Paget nach mir klingelte und Erfrischungen servieren ließ.«

»Haben Sie bei einer solchen Gelegenheit auch einmal eine Frauenstimme gehört?«

»Jawohl, mein Herr, sehr oft sogar.«

Snargrove nickte.

»Welcher Gesellschaftsklasse gehörten diese Damen an?« fragte er dann.

Der Butler zögerte mit seiner Antwort, worauf Snargrove rasch hinzufügte: »Nun hör'n Sie mal! Ein Mann in Ihrer Stellung muß doch auf Grund der äußeren Erscheinung und der Stimme ungefähr fähig sein, zu sagen, welcher Gesellschaftsklasse die Betreffende angehört.«

»Nun, sie gehörten den verschiedensten Klassen an. Von der Kammerzofe bis zur Dame der Gesellschaft, möcht' ich sagen.«

»Und haben Sie sich je eine Meinung darüber gebildet, was diese Leute hier zu suchen hatten und warum sie so spät kamen?«

Brown machte eine Bewegung des Unbehagens.

»Nun, im allgemeinen war man sich darüber einig – im Dienstbotenzimmer unten, meine ich –, daß es sich bei diesen Besuchen um Geschäfte handelte, die mit der Zeitung zu tun hatten, und daß unter diesen Umständen die Leute natürlich keinen Wert darauf legten, gesehen zu werden.«

Ich sah, wie McNab bei dieser Antwort den Butler schnell und prüfend anblickte. Auch er fragte sich also, ob sich dieser Mann mit seinem maskenhaften Gesicht der Ironie bewußt war, die in seinen Worten lag. Auch Snargrove griff die Äußerung auf.

»Sie sagen, ›natürlich‹. Wollten Sie damit andeuten, daß die Leute kamen, um Mister Paget allerlei Klatsch zur Verwendung im ›Augenöffner‹ zuzutragen?«

Aber Brown war nicht der Mann, der sich ausholen ließ. Der Funke, der einen Augenblick in seinen Augen aufgezuckt war, erlosch. Wie jemand, der bereits mehr gesagt hat als er beabsichtigte, ließ er sein Gesicht wieder zur hölzernen Maske erstarren.

»Das weiß ich nicht, mein Herr. Ich habe es jedenfalls nie gehört.«

Snargrove lachte. Ich hörte eine gewisse gespielte Gleichgültigkeit darin.

»Und wie stand es mit den Männern, die kamen, Mister Brown?«

»Männer kamen nie, wenigstens nicht zu so später Stunde.«

»Wenn also vergangene Nacht noch nach Mitternacht ein Mann hier im Hause war, so würden Sie das als einen ganz außergewöhnlichen Fall bezeichnen?«

»Aber ganz gewiß, mein Herr. Als einen ganz ungewöhnlichen Fall.«

»Ich danke Ihnen. Damit ist's genug.«

»Und nun«, meinte Snargrove, als die Tür sich leise hinter dem Butler geschlossen hatte, »können wir zur Rekonstruktion des Hergangs schreiten.«

Die kalte, langsame, gelassene und besonnene Art, in der diese Männer zu Werk gingen, hatte etwas Unheimliches. Mußten sie doch annehmen, daß der Mörder jede weitere Minute, die verging, benutzte, um wieder einen Kilometer zwischen sich und die Verfolgung zu legen. Und trotzdem saßen sie hier und bedachten langsam und methodisch den Fall von allen Seiten. Aus McNabs Haltung war zu schließen, daß sie schon seit Stunden so gesessen hatten. Übrigens blickte jetzt, bei Snargroves Worten, McNab interessiert und lebhaft zu ihm auf.

»Schießen Sie los, Inspektor«, sagte er.


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