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Fünfzehntes Kapitel

Das Gebimmel hatte noch nicht aufgehört, als McNab zu mir ans Fenster herüberglitt, mich auf die niedrige Bank in der Fensternische niederdrückte und selbst am andern Ende Platz nahm.

»Daß du mir nicht den Mund öffnest, Chance! Merk dir das. Kein Wort! Wie groß die Versuchung auch sein mag. Wenn du irgend etwas sagen möchtest, steck den Daumen in die Westentasche.«

Er nahm mir die Photographie aus den Händen und legte sie mit der Bildseite nach unten auf einen kleinen Tisch, der in der Nähe unserer Bank stand. Ich nickte verständnisinnig. Meine Augen hingen gierig an der Tür. Endlich flog sie auf. Die asthmatische Stimme der Haushälterin verkündete:

»Dr. Dunn möchte Sie sprechen.«

Als der Besucher mitten im Zimmer stand, erhob sich McNab von seinem Sitz. Seine Begrüßung klang jedoch recht herzlich.

»Sehr erfreut, Sie zu sehen, Doktor.«

Der Doktor schien nicht ganz so erfreut. Seine Blicke wanderten mit einem Ausdruck des Mißtrauens zu mir hinüber. Man konnte ihm am Gesicht absehen, daß er versuchte, sich zu erinnern, wo ich ihm schon einmal begegnet sein mochte. McNab rückte einen Stuhl zurecht und bemerkte, sozusagen meine Gegenwart erläuternd:

»Das ist Mr. Chance, Doktor. Ich denke, daß Sie schon mit ihm zusammengetroffen sind, und zwar –« fügte er ganz beiläufigen Tones hinzu – »am Montag, den 15. Januar, in Ealing.«

Während dieser Worte blickte mir der Doktor unverwandt ins Gesicht, und ich tat selbstverständlich dasselbe. Plötzlich veränderte sich der Ausdruck seiner Augen. Er hatte mich erkannt. Und dann kam noch etwas anderes in seinen Blick – etwas, das Furcht zu sein schien.«

»Nehmen Sie doch Platz, Doktor«, sagte McNab einladend. »Ich bin wirklich froh, daß Sie gekommen sind.«

»Sie haben mich erwartet?«

»Entweder Sie oder jemand anders. Wie ich schon in meinem Briefchen an Sie bemerkte, ich brauche jemand, der mir eine Reihe von Fragen beantwortet, die mit den Vorgängen in der Mordnacht zu tun haben.«

»Nun, ja, ich bin damals von der Polizei hinzugezogen worden«, gab Dr. Dunn zu.

McNab hatte inzwischen seinen Platz neben mir am Fenster wieder eingenommen. Zwischen ihm und dem Doktor stand der kleine Tisch. Die Photographie, die darauf lag und deren weiße Papierrückseite grell gegen das dunkle Holz abstach, sah wie ein unschuldiges Blatt Papier von einem Notizblock aus. Unserem Besucher war leicht anzumerken, daß er sich nicht recht wohl in seiner Haut fühlte. In seinem hochlehnigen Stuhl, der dem Fenster voll zugekehrt war, schien er wie auf Nadeln zu sitzen, etwa wie ein Patient beim Zahnarzt. Ja, das war es. Er bot ganz den Anblick eines Mannes, der alle Kräfte sammelt, ehe sich der Zahnarzt daran macht, ihm eine bösartige Wurzel zu ziehen. Hier stand ein Kampf bevor, in dem List gegen List stand. Es war ein Gedanke, bei dem ich mich unwillkürlich straffer aufrichtete.

»Ich bin sehr beschäftigt«, bemerkte Dr. Dunn in einem Ton der Abwehr.

»Natürlich sind Sie das«, entgegnete McNab. »Nach dem – soll ich sagen – Urlaub – den Sie sich kürzlich gönnten, müssen Sie mit Ihrer Praxis sehr in Rückstand gekommen sein. Wie ich mir habe sagen lassen, finden sich Patienten nur ungern mit einem Vertreter ab, selbst wenn er noch so tüchtig ist. Trotzdem war es sehr klug von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Es wird Ihnen in der Folge nicht nur Zeit, sondern auch Unannehmlichkeiten ersparen.«

»So schrieben Sie bereits in Ihrer Mitteilung, die, wie ich zugeben muß, meine Neugier erregte«, nickte der Doktor mit einem Versuch, unbefangen zu erscheinen.

Ich war mir zwar völlig darüber im unklaren, was McNab mit seinem Besucher vorhatte. Aber das eine war mir völlig klar, daß er in diesem Besucher ein Gefühl erregt hatte, das man wahrscheinlich weitaus besser Furcht als Neugierde genannt hätte. Ich fand die Situation jetzt außerordentlich spannend. Noch vor zehn Minuten hatte ich mich durch den äußeren Anschein der Dinge so gröblich täuschen lassen, daß ich annahm, unsere Untersuchung sei ins Stocken geraten. Nun hatte man mir im Handumdrehn gezeigt, daß in meiner Abwesenheit mancherlei vorgegangen war und daß die Ereignisse jetzt mit Schnelligkeit und Nachdruck aufeinanderfolgten. Mit unvermuteter Plötzlichkeit merkte ich in dem Augenblick, wo ich diese beiden Männer an dem kleinen Tisch einander gegenüber sitzen sah, daß dieses Zusammentreffen ein ganz entscheidender Augenblick war – vielleicht der Augenblick, in dem die ganze Geschichte des Mordfalls eine völlig neue Wendung nahm. Man kann sich vorstellen, wie fesselnd es war, die beiden in diesem kritischen Moment zu beobachten. Zunächst schien keiner von beiden übermäßig darauf aus, mit dem Gegner handgemein zu werden. Der Doktor beschränkte sich deutlich auf die Defensive, und McNab wirkte wie ein Boxer, der spähend um einen allzu vorsichtigen Gegner kreist, seine Kräfte abschätzt und nach einer Blöße Ausschau hält.

Und dann schlug McNab mit unvermuteter Plötzlichkeit zu.

»Und wann«, fragte er, »haben Sie Kinloch zum letztenmal gesehen?«

Der Doktor runzelte nachdenklich die Stirn.

»Kinloch?« wiederholte er. »Kinloch? Ich erinnere mich irgendwie an den Namen, aber ich kann nicht genau –«

Schnell wie der Blitz hatte McNab nach der Photographie gegriffen, sie herumgedreht und dem andern vor die Augen gehalten. Und in diesen Augen spiegelten sich rasch hintereinander Überraschung, Wiedererkennen, Schrecken und Entsetzen.

»Großer Gott!« stammelte er.

McNab lächelte zufrieden.

»Ich danke Ihnen, Dr. Dunn. Demnach ist das Bild tatsächlich recht ähnlich. Und das ist gerade der Punkt, dessen ich sicher sein wollte.«

Dunn hob rasch den Kopf.

»Warum? Warum wollten Sie dessen sicher sein?« fragte er.

McNab tippte mit dem Finger auf die Photographie.

»Nach diesem Mann wird im Zusammenhang mit dem Mord in Ealing gesucht. Es wäre ziemlich nutzlos, der Presse eine Photographie zur Verfügung zu stellen, nach der niemand ihn erkennen könnte.«

Ein bleiernes Schweigen folgte. Langsam schien sich der Doktor die Folgen klarzumachen, die aus der Veröffentlichung der Photographie erwachsen mußten. Ich selbst beschäftigte mich übrigens in diesem Augenblick mit dem Gedanken, wie McNab dazu gebracht werden könnte, mir das Bild zunächst einmal zur ausschließlichen Veröffentlichung im »Record« zu überlassen. Dann griff Dunn nach der Photographie, nachdem er erst ein- oder zweimal ungeschickt die Hand danach ausgestreckt, sie aber dann wieder zurückgezogen hatte.

»Er – er hat sich beträchtlich verändert, seitdem diese Aufnahme gemacht worden ist«, meinte er. »Ich glaube kaum, daß er an Hand dieses Bildes identifiziert werden könnte.«

»Immerhin haben Sie ihn rasch genug erkannt«, erinnerte McNab.

»Gewiß. Aber ich erinnere mich an ihn, so wie er hier dargestellt ist. Nicht wahr?«

McNab runzelte finster die Stirn.

»Blindheit kann nicht soviel ausmachen«, äußerte er in aggressivem Ton.

»Ah, das wissen Sie also auch – daß er blind war – nun, ich kann Ihnen sagen, daß Blindheit den Gesichtsausdruck sehr stark verändert. Das haben Sie vielleicht nicht gewußt. Das Gesicht eines Menschen, der sehen kann, verändert sich dauernd. Es spiegelt sozusagen die mannigfachen seelischen Regungen wieder, die von dem ausgelöst werden, was die Augen in jedem Augenblick wahrnehmen. Aber wenn die Augen auch nicht mehr sehen, verlieren die Gesichtsmuskeln ihre Schmiegsamkeit. Das Gesicht wird ruhig, ja starr. Der ganze Gesichtsausdruck verändert sich, ja selbst die Form des Gesichts wird anders.«

Jetzt, wo er über ein Thema sprach, das innerhalb seines eigenen beruflichen Gebiets lag, schien der Doktor etwas zuversichtlicher zu werden. McNab schwieg. Er schien über das, was er eben gehört hatte, nachzudenken. Jetzt beugte sich Dunn vor und tippte seinerseits mit dem Finger auf das Bild auf dem Tisch.

»Wenn Sie Lust haben, können Sie das Bild hier natürlich veröffentlichen. Aber ich kann Ihnen die Versicherung geben: wenn Sie ein Bild des blinden Kinloch danebensetzen, würden Sie selbst sich weigern, zu glauben, daß beides Bilder desselben Mannes sind,«

Es schien, als hätte sich das Blatt zuungunsten McNabs gewendet. Sein Gesicht war ernst, er betrachtete die Photographie. Wenn er selbst blind gewesen wäre, hätte sein Gesicht nicht hölzerner und starrer sein können. Schließlich blickte er auf.

»Wenn die Dinge so liegen«, sagte er, »sehe ich mich zu einem Schritt gezwungen, den ich lieber vermieden hätte. Ich werde Sie zwingen müssen, uns mitzuteilen, wo dieser Mann sich jetzt verborgen hält.«

Der andere schüttelte entschlossen den Kopf.

»Das kann ich nicht.«

»Sie wollen sagen: das will ich nicht.«

»Nein; ich meine genau das, was meine Worte besagen. Ich habe nämlich in Voraussicht dessen, was nun eingetreten ist, mich geweigert, mich von ihm über seine Pläne informieren zu lassen.«

»Seine Pläne?«

Der Doktor schlug die Beine übereinander und lehnte sich im Sessel zurück. Er schien sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden zu haben.

»Ja, es muß Ihnen doch klar sein, daß nichts mich zwingen kann, Ihnen mitzuteilen, was ich selbst nicht weiß.«

»Gewiß. Aber ich habe den Eindruck, Doktor, daß es sich doch als nützlich erweisen würde, wenn Sie uns wenigstens das mitteilen, was Sie wissen.«

Der hilflose Seufzer, der diese Worte begleitete, rief auf Dr. Dunns Gesicht ein Lächeln hervor. Er schien jetzt die Oberhand zu haben, und seine Haltung und sein Benehmen verrieten, daß er sich dessen auch durchaus bewußt war. Zwanglos, beinahe herablassend, lehnte er sich zu McNab hinüber.

»Ich möchte Ihnen von vornherein das eine raten«, erklärte er vertraulichen Tones. »Verschwenden Sie keine Zeit an Kinloch. Zunächst habe ich die Überzeugung, daß Sie ihn nicht finden werden – er schien wenigstens dessen völlig sicher –, außerdem würde er Ihnen, falls Sie ihn selbst finden könnten, nicht nützen, denn er ist über jeden Verdacht der Mitschuld an dem Mord erhaben. Und obwohl er dabei war, als der Mord begangen wurde, war er blind und hat nichts gesehen – nicht das geringste, das Ihnen weiter helfen könnte.«

McNab zog ungläubig die Brauen hoch.

»Und trotzdem wünscht er, nicht gefunden zu werden?«

»Er wünscht es nicht – und das ist gewiß zu bedauern. Aber das ändert nichts an der Tatsache. Glauben Sie übrigens, daß ich mich irgendwie hätte in die Sache hineinziehen lassen, wenn er schuldig wäre?«

Er hatte die Frage in einem scharfen und etwas ungestümen Ton gestellt. Aber trotzdem gab McNab keine Antwort darauf.

»Und trotzdem wünscht er, nicht gefunden zu werden!« wiederholte er.

»Es macht einen üblen Eindruck, das gebe ich zu –« Der Doktor stockte.

»Wenn er wirklich unschuldig ist, so ist es einfach unmöglich, einen vernünftigen Grund dafür anzugeben«, bemerkte McNab, und jede Silbe, die er sprach, verriet Unglauben.

»So, meinen Sie? Und wenn nun eine Frau in die Sache verwickelt wäre?«

McNab blickte blitzschnell auf, als habe diese Andeutung ihn völlig unvorbereitet überrascht.

»Ah – eine Frau? Gewiß ändert das die Sache, soweit es sich darum handelt, Kinlochs gegenwärtiges Verhalten zu deuten.« Er machte eine Kunstpause und fügte hinzu: »Aber es bestehen nicht die geringsten Anzeichen, nicht der Fetzen eines Beweises dafür, daß irgendeine Frau in die Angelegenheit verwickelt ist.«

So auffällig, wie es irgend ging, schob ich bei dieser Bemerkung den Daumen in die Westentasche. Ich wünschte, McNab an das dreieckige Spiegelbruchstück zu erinnern, das man im Mordzimmer gefunden hatte. Aber er nahm gar keine Notiz von mir. Wie ich ihm später sagte, hätte ich den Daumen genau so gut in den Mund stecken können. Und als der Doktor nichts erwiderte, spann McNab nachdenklich seinen Faden weiter. »Ja, wenn ich wüßte, daß eine Frau dahintersteckt, so würde ich Kinlochs Verhalten verstehen. Ich glaube sogar, ich wäre durchaus bereit, mich Ihrer Ansicht hinsichtlich seiner Unschuld anzuschließen, denn ich habe beobachtet, daß, wenn ein Mann etwas ganz ungewöhnlich Törichtes tut, dann gewöhnlich eine Frau dahintersteckt – wenn man sie nur ausfindig machen kann.«

»Und es steckt eine Frau dahinter!« erklärte Dr. Dunn und klopfte dabei auf den Tisch. »Und eine recht gerissene sogar, das können Sie mir unbesehen glauben. Und weiß Gott, es wird Ihnen auch nichts anderes übrigbleiben, denn ich bin sehr im Zweifel, ob Sie oder irgendein anderer je auch nur soviel von ihr zu Gesicht bekommen werden.«

»Bitte, weiter«, sagte McNab, nervös aufspringend.

Aber Dunn schien durch seinen Eifer beunruhigt worden zu sein. Er schüttelte den Kopf.

»Vielleicht habe ich bereits zuviel gesagt. Ich habe Kinloch gegenüber Pflichten, wie Sie wissen.«

»Oh, stehen die Dinge so?« rief McNab, plötzlich haltmachend. »Und ist's nicht einigermaßen seltsam, daß so viele Leute es für ihre Pflicht halten, sich zwischen die Justiz und einen Verbrecher zu stellen? Zum Beispiel Sie, Doktor, decken Kinloch, während Kinloch es für nötig hält, diese Frau zu decken, und die Frau deckt wiederum den Kerl, der den Mord begangen hat.« Er musterte mit einem sonderbaren Ausdruck Dunn von Kopf bis zu Fuß. »Ich denke, Doktor, zwischen Ihre Person und einen notwendig gewordenen chirurgischen Eingriff werden nicht so viele Hindernisse von Freunden des Patienten geworfen, wie hier mit Ihrer gütigen Mitwirkung – zwischen den Henker – und seinen Patienten.«

Dunn errötete bis an die Augen und sprang schwer atmend auf. Mein erster Gedanke war, daß er beabsichtigte, sich irgendwie für den Hieb zu rächen, den ihm McNab versetzt hatte. Jedenfalls aber gewann er rasch seine Selbstbeherrschung wieder und bemerkte mit einer Anspielung auf McNabs Zornesausbruch:

»Wenigstens, mein Herr, kann ich aus Ihrem Benehmen mit Gewißheit schließen, daß ich nicht zuviel gesagt habe.«

Diese Worte, die er in steifer, feindseliger Art herausstieß, brachten McNab seine gute Laune zurück.

»Oh«, antwortete er, als der Doktor nach seinem Hut griff, »was Sie gesagt haben, genügt mir durchaus, um weiter zu kommen. Sie haben die Situation ganz prachtvoll geklärt. Sie sind nicht der Ansicht? Nun, dann gestatten Sie mir, Ihnen zu versichern, daß ich mit Bestimmtheit erwarte, binnen einer Woche die Hand auf Kinloch, dann auf die Frau und zu guter Letzt auch auf den Mann zu legen, den sie deckt.«

»Und auf Grund dessen, was ich gesagt habe?« fragte der andere, ihn anstarrend.

»Fast ausschließlich.«

Dunn dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann mit allen Anzeichen der Erleichterung den Kopf.

»Nein«, sagte er, »das ist unmöglich.«

»Sie haben behauptet, nicht zu wissen, wo Kinloch sich aufhält. Um Ihnen zu beweisen, daß ich Ihnen das glaube, werde ich Ihnen mitteilen, wie ich zu Werk zu gehen gedenke«, meinte McNab. »Wenn ich annehmen sollte, daß Sie mit Kinloch Fühlung haben, so wäre das, wie Sie selbst zugeben werden, meinerseits eine unverzeihliche Fahrlässigkeit. Nicht wahr?« Dunn nickte zustimmend, und McNab fuhr fort: »Gut also. Hier ist der Beweis, daß ich Ihrer Versicherung Glauben schenke. Um Kinloch zu finden, werde ich folgendermaßen vorgehen. Ich brauche nur die Tatsachen, die uns bekannt sind, zu ordnen, sie logisch zu gruppieren und dann die nötigen Schlußfolgerungen zu ziehen.« McNab schien darauf auszugehen, die Haltung des Doktors durch einen geschickten Stoß ins Herz zu erschüttern. Das schloß ich aus der Art, wie er sprach, und der Umständlichkeit, mit der er auf seine Pointe lossteuerte. Er war dicht an Dr. Dunn herangetreten, so daß sie sich aus unmittelbarer Nähe in die Augen sahen. Der Doktor kniff mißtrauisch die Lider zusammen, als McNab ihn etwas von oben herab mit dem Zeigefinger auf die Brust tupfte.

»Ihre Praxis in Ealing ist drei Wochen lang von einem Stellvertreter wahrgenommen worden. Sie sind am 3. April Hals über Kopf abgereist. Ihre Patienten hatten keine Ahnung davon, daß Sie London verließen. Sind Sie bereit, uns zu sagen, wohin Sie gereist sind, und mich es nachprüfen zu lassen? Nein? Dann will ich Ihnen sagen, daß es sich um ein Zusammentreffen mit Kinloch handelte. Bis kurz vor Ihrer Abreise haben Sie häufig bei einer Anwaltsfirma in Chancery Lane vorgesprochen, die auf dem Inseraten weg nach Kinloch suchte. Es war gar kein schlechter Einfall, das Inserat weiter erscheinen zu lassen, als Ihnen längst bekannt war, wo Kinloch steckte. Die List hat sogar eine Zeitlang ihre Schuldigkeit getan. Aber Ihre plötzliche Abreise und Ihre lange Abwesenheit haben mich darüber belehrt, daß es sich um einen Kniff handelte.« McNab nickte. »Wie Sie sagten, haben Sie die Frau, von der wir sprachen, niemals gesehen, und ich darf wohl annehmen, daß Sie höchstwahrscheinlich den Mann, der hinter dem Mord steckt, erst recht nicht gesehen haben? Gut. Am 3. April, vielleicht auch etwas früher oder später, haben Sie Kinloch gefunden. Aber der Mord in Ealing ist bereits am 15. Januar begangen worden. Wo hat Kinloch in der Zwischenzeit gesteckt? Hat er sich irgendwo allein verborgen gehalten? Verborgen gehalten hat er sich, aber er war nicht allein. Unter den gegebenen Umständen mußte ein Blinder jemanden bei sich haben, der sich um ihn kümmerte – und der Betreffende muß Mitwisser des Geheimnisses gewesen sein. In Betracht kommen dafür entweder der unbekannte Täter oder die Frau, wenn nicht beide. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es die Frau war, und ich werde Ihnen auch sofort sagen, warum. Als Sie jedoch auf der Szene erschienen, haben Sie Kinloch allein vorgefunden. Daraus ergibt sich, daß der Ort, wo Sie ihn gefunden haben – gleichgültig, wo es nun war –, nicht der Ort war, wo er so lange verborgen gehalten wurde. Habe ich's nicht getroffen? Sie möchten's nicht zugeben?« McNab lachte.

»Aber ich will noch weitergehen. Ich will es riskieren, die Vermutung aufzustellen, daß der- oder diejenige, der Kinloch dahin gebracht hat, wo Sie ihn gefunden haben, Doktor – und es muß ihn jemand dorthin gebracht haben –, ihn dort hat sitzenlassen und mit Blitzzugsgeschwindigkeit verduftet ist. Ah, ich sehe Ihnen an, daß ich recht habe. Natürlich mußten die Leute so handeln! Sie konnten sich nicht das Risiko leisten, von Menschen gesehen zu werden, die ihr gesundes Augenlicht besaßen und der Polizei eine Personalbeschreibung liefern konnten. Es wäre ja geradezu eine Sünde gewesen, auf die Art alles zu verpfuschen, nachdem ihnen der unerhörte Glücksfall beschieden gewesen war, daß der einzige unbeteiligte Zeuge des Mordes sich als blind erwiesen hatte. Und jeder Schritt, den diese Leute nach dem Mord getan haben, beweist, wie gut sie es verstanden, seine Blindheit in ihrem Interesse nach besten Kräften auszunutzen.«

Dunn rührte sich nicht. McNabs Zeigefinger berührte von neuem seine Brust.

»Doktor, hat Ihnen Kinloch mitgeteilt, wo er die ganze Zeit bis zu Ihrem Zusammentreffen gelebt hat?«

»Nein, das hat er nicht getan.«

»Weil er es selbst nicht gewußt hat. Es muß natürlich irgendein entlegener Winkel gewesen sein, denn das verringerte die Gefahr einer zufälligen Entdeckung, es verhinderte auch, daß er selbst herausbringen konnte, wo er sich befand, bis man ihn genügend bearbeitet und so weit herumgebracht hatte, daß er versprach, den Mund zu halten. Und dieser Teil der Aufgabe ist natürlich der Frau überlassen worden. Was? Ja, wie die Dinge lagen, brauchte sie noch nicht einmal besondere persönliche Reize zu haben, sie konnte sogar häßlich sein, wenn sie nur über die Stimme einer Sirene verfügte! Auf alle Fälle haben ihre kleinen Mittel Erfolg gehabt.«

Über den Schluß von McNabs Gedankengängen schien Dunn überrascht zu sein.

»Hier kann ich Ihnen nicht ganz folgen«, behauptete er.

»Aber bis dahin sind Sie mit meiner Auffassung einverstanden?«

»Ich möchte mich dazu nicht äußern.«

»Gut. Ihre Lippen sind versiegelt. Nicht wahr? Durch das Versprechen, das Sie Ihrem Freund gaben? Immerhin haben Sie vorhin angedeutet, daß er Pläne hat.«

»Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, daß ich mich geweigert habe, sie mir anzuhören.«

»Ah, aber bedenken Sie doch, wie bezeichnend es ist, daß er überhaupt irgendwelche Pläne hatte. Pläne sind weiter nichts als Mittel, um irgendein Ziel zu erreichen. Und obwohl Sie über die Mittel, deren er sich zu bedienen gedenkt, gänzlich uninformiert sein können, ist es durchaus denkbar, daß Sie über das Ziel, das Kinloch ins Auge gefaßt hat, durchaus Bescheid wissen. Ja, ich muß sagen, es ist gar nicht unwahrscheinlich, daß Sie sich geweigert haben, seine Pläne anzuhören, weil das Ziel, dem diese Pläne galten, ihnen persönlich nicht behagte.«

Ob das ein Schuß aufs Geratewohl war oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls trat Dunn nervös von einem Bein aufs andere und wich McNabs Blick aus.

»Ich dachte«, bemerkte er ablenkend, »Sie wollten mir erzählen, wie Sie Ihre Hand auf Kinloch zu legen gedenken.«

»Geduld! Wir sind gleich soweit.«

Aber McNab schien keine Eile zu haben. Er ließ uns ruhig warten, bis er sein Zigarettenetui aus der Tasche gezogen und sich seine Zigarette mit einer Sorgfalt ausgewählt hatte, als handle es sich um eine Zigarre. Ich hatte zwar nicht unter der tiefen inneren Beunruhigung zu leiden, die in Dr. Dunns Gesicht sich in jedem Augenblick deutlicher verriet, aber zumindest war ich ebenso ungeduldig.

McNab tat ein oder zwei Züge. Dann griff er nach Kinlochs Photographie und betrachtete sie eingehend.

»Also hier«, sagte er, »haben wir einen jungen Herrn, der gewisse Pläne im Kopf hat. Worauf laufen diese Pläne hinaus? frage ich mich. Ganz gewiß nicht auf die Festnahme des Mörders, denn in diesem Fall wäre der rascheste Weg, zum Ziel zu kommen, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen und das zu bekunden, was ihm bekannt ist. Das hat er nicht getan. Wenn er der Polizei in die Hände fallen sollte, wird diese Unterlassung übrigens bedenklich gegen ihn ins Gewicht fallen. Demnach steht also der Mann, der Mörder, mindestens nicht unmittelbar im Brennpunkt seiner Pläne. Eigentlich müßte das allerdings der Fall sein, denn Sie selbst, Doktor, haben mir feierlich erklärt, er sei in keiner Weise an dem Verbrechen mitbeteiligt. Sie sind darüber sogar in Hitze geraten. Und wenn ich dieses Bild betrachte, so kann ich das durchaus verstehen. Das ist ein vertrauenerweckendes Gesicht. Freimütig, offen, anständig. Das Gesicht eines Menschen, der mit jedem Gedanken bestrebt sein müßte, auf seiten der Justiz gegen das Verbrechen Partei zu ergreifen. Was kann also geschehen sein, um seinen natürlichen Instinkt ins Gegenteil zu verkehren, und die Entrüstung, die ein Verbrechen, wie die Bluttat von Ealing, in einem solchen Mann ohne weiteres auslösen muß, zu verhindern? Ich kann mir zwei Ursachen dafür vorstellen: entweder ist der Mann durch seine Erlebnisse im Krieg später demoralisiert worden, so daß diese Photographie, die aufgenommen wurde, ehe er nach Frankreich an die Front ging, nicht mehr sein getreues Abbild ist – entweder ist das der Fall, oder er ist von einer Frau umgarnt worden, die ihm sein moralisches Unterscheidungsvermögen geraubt hat. Sowohl der Krieg wie die Frauen sind Kräfte, durch die Männer demoralisiert werden können und demoralisiert werden.«

Ich glaube, McNab legte jetzt Kinlochs Bild, das er noch einmal betrachtet hatte, wieder auf den Tisch, denn er hörte auf zu sprechen. Ich sah es nicht, denn meine Augen waren die ganze Zeit auf Dunn gerichtet, der unter McNabs Worten immer erregter wurde. Seine Hände ballten sich.

»Die Frage ist«, nahm McNab seine Erörterung wieder auf, »welche der beiden Kräfte in unserem Fall verantwortlich gewesen ist – der Krieg oder eine Frau?«

»Eine Frau!« platzte Dunn heraus. »Jawohl, eine Frau! Bei Gott – von ihr umgarnt – ja, es stimmt schon.«

»Dann laufen Kinlochs Pläne unzweifelhaft darauf hinaus, sie wiederzufinden. Das können Sie ruhig als unbestreitbare Tatsache annehmen. Nun erhebt sich die Frage: wie soll er sie finden? Beachten Sie, wie sehr er schon von vornherein im Nachteil ist. Er hat sie nie erblickt. Wir können auch ohne weiteres annehmen, daß sie ihn beim Abschied keineswegs über ihren Namen und über ihre Adresse aufgeklärt hat. Und der Ort, wo sie ihn verlassen hat, war selbstverständlich nicht der, wo sie mit ihm gelebt hatte, und wo natürlich immer Personen zu finden sein mußten, die sie kannten und über sie aussagen konnten.«

»Ja, es war weit weg von dort«, flüsterte Dunn, der sich anscheinend nicht mehr genügend beherrschen konnte, vor sich hin.

»Das können Sie ja gar nicht wissen«, erklärte McNab herausfordernden Tones.

»So? Das kann ich nicht wissen? Sie vergessen, daß Kinloch aus der Zeitdauer der Reise auf die zurückgelegte Wegstrecke schließen konnte.«

»Aber es ist ganz gut möglich, daß sie sich in einem Kreis bewegt haben, daß sie immer dieselbe Wegstrecke von neuem zurücklegten, und daß dies eigens geschah, um Kinloch in die Irre zu führen.«

Dunn zauderte. Er hatte anscheinend große Lust, McNabs zuversichtliche Behauptung zu widerlegen, schien aber gleichzeitig auch Angst davor zu haben, sich auf weitere Redereien einzulassen. Schließlich aber sagte er doch:

»Nun, von einer Stelle weiß Kinloch genau, daß sie nicht zweimal daran vorbeigekommen sind.«

McNab schüttelte den Kopf.

»Ein Blinder kann so etwas nicht gut behaupten«, erklärte er mit Nachdruck.

»So, kann er das nicht?« platzte Dunn in ungeduldigem und ironischem Tone heraus. »Meinen Sie? Aber wenn er blind ist, so ist er doch nicht taub! Die übrigen Sinne sind durch seine Blindheit doch nicht beeinflußt. Konnte er zum Beispiel vielleicht nicht bemerken, daß sie einmal, und zwar nur einmal, eine lange Strecke bergab gefahren sind, daß am Fuß der Steigung die Straße eine scharfe Kurve nach rechts machte, ehe sie eine Ortschaft passierten, und daß am Ende dieser Ortschaft er zur Linken die Brandung hörte, und zwar so dicht, daß der Gischt bis in den Wagen geweht wurde? Konnte er nicht wahrnehmen, daß in das Geräusch der Wellen auf dem steinigen Strand sich die Töne eines Horns mischten, die von rechts her kamen, von einer Stelle hoch über ihm, und konnte er nicht aus dem Sonnenschein, den er auf der linken Wange spürte, entnehmen, daß die See südlich lag?«

»Er hat die See rauschen hören?«

»Ja, gewiß, aber nur etwa fünf Minuten lang, und es war das einzige Mal. So kann man also nicht behaupten, daß sie im Kreise gefahren sind.«

McNab seufzte leise.

»Ein kluger Kopf, dieser Kinloch. Ich wünschte, ich hätte ihn schon erwischt.«

Dunn schüttelte den Kopf.

»Das würde Ihnen nichts nützen. Die andern waren auch nicht auf den Kopf gefallen und haben dafür gesorgt, daß alles, was er in Erfahrung bringen konnte, sich auf Dinge bezog, die keineswegs wesentlich waren. Was? Er war doch sogar völlig im Dunkeln über den Namen des Dorfes, in dem er lebte.«

»Dorf? Unsinn! Ein einsames Haus vielleicht, wenn Sie so wollen, das in der Mitte eines großen Grundstücks versteckt war, aber kein Dorf«, widersprach ihm McNab.

»Aber es war doch ein Dorf. Wenn es auch anscheinend einsam genug gelegen war. Die Dorfstraße ist merkwürdigerweise durch Gittertore abgeschlossen – soviel weiß Kinloch. Und das Nest liegt hoch oben zwischen Bergen.«

Jetzt schüttelte wieder McNab abwehrend den Kopf.

»Niemals kann man versucht haben, ihn in einem Dorf verborgen zu halten. So was ist einfach unmöglich. Wenn Sie je in einem Dorf gelebt hätten, wüßten Sie das. Gerade auf dem Dorf ist man sehr neugierig, wenn ein Fremder auftaucht. Und erst recht, wenn es sich um einen Blinden handelt. Man hätte ihn ja von dem gegenüberliegenden Haus aus sehen können, und zwar täglich.«

»Und doch war's ein Dorf!« wiederholte Dunn ungeduldig. »Freilich lag kein Haus gegenüber. Zumindest erstreckte sich, wie es scheint, ein Gemeindeanger von einer guten halben Meile Breite zwischen der einen Hausreihe und der gegenüberliegenden.«

McNab grübelte eine Weile und blickte dann mit einem pfiffigen Ausdruck im Gesicht auf.

»Sie werden mich nicht dazu bringen, Doktor, nach einem Dorf Jagd zu machen, das nur in Ihrer Phantasie existiert. Ich bin hinter Kinloch her, und mindestens so leidenschaftlich, wie er hinter der Frau. Und was mehr ist, ich werde ihn finden. Und mit meiner Hilfe wird er dann auch die Gesuchte finden können.«

Dunn schien etwas aus der Fassung gebracht.

»Ohne meine Hilfe«, fuhr McNab fort, »ist es ziemlich unwahrscheinlich, daß er sie finden wird. Die Aussichten stehen allzusehr zu seinen Ungunsten. Noch nicht einmal ihren Namen kennt er. Bei den meisten von uns würde das schon hinreichen, uns von dem Beginnen abzuschrecken. Aber wenn wir zu all dem noch hinzufügen, daß der, der die Suche beabsichtigt, blind ist –«

Dunn hatte einen halblauten unartikulierten Ruf ausgestoßen. McNab schien über diese Unterbrechung überrascht. Er hörte auf zu reden und blickte den Doktor nachdenklich an.

»Fahren Sie fort«, sagte Dunn.

»Wenn wir zu all dem noch hinzufügen, daß der, der die Suche beabsichtigt, blind ist«, wiederholte McNab, »so bleibt dennoch auf der Gegenseite die wichtige Tatsache bestehen, daß, aller dieser von vornherein bestehenden Hindernisse ungeachtet, Kinloch sich bereits einen genauen Plan zurechtgelegt hat. Als Sie mit ihm sprachen, hatte er bereits einen gewissen Begriff davon, wie man die Frau auffinden könne. Daraus schließe ich, daß er doch einiges über sie wußte. In der Tat war es, wenn man genauer darüber nachdenkt, kaum vermeidlich, daß er eins oder das andere erfuhr, wo er doch längere Zeit mit ihr in engster Verbindung stand. Zum Beispiel: ich persönlich bin zu der Ansicht gekommen, daß die Leute, die in die Ermordung Ponsonby Pagets verwickelt sind, zu den sogenannten höheren Gesellschaftsklassen gehören. Kinloch würde dank seines Gehörs ohne weiteres in der Lage sein, festzustellen, ob ich recht habe. Ihre Stimme, die Betonung und die Sprechweise sowie die Worte, die sie gebrauchte, mußten ihre ungefähre gesellschaftliche Stellung verraten. Und wenn die Frau auch noch so sehr auf der Hut gewesen sein mag, war es unvermeidlich, daß ihr vieles entschlüpfte, aus dem selbst ein Mann von mittelmäßiger Intelligenz recht weitgehende Rückschlüsse ziehen konnte. Ich will damit nicht behaupten, daß er so bestimmte Angaben, wie die ihres Namens und ihrer Adresse, auf diesem Wege erfahren könnte, aber es ist in hohem Maße unwahrscheinlich, daß Kinloch nichts über ihre Gewohnheiten erfahren haben sollte, über das, was ihr gefiel und mißfiel, über die Orte, für die sie eine besondere Vorliebe hegte, über die Städte, die sie kennengelernt hatte, über die Straßen, die ihr näher vertraut waren, und sogar – denn wir haben es mit einer Frau zu tun – die Geschäfte, die sie bevorzugte. Lauter Dinge dieser Art. Gut. Nun stelle ich mir einmal vor, ich stünde in Kinlochs Schuhen und müßte mich fragen, wie ich es unter gleich ungünstigen Voraussetzungen anpacken würde, um die Frau zu finden.«

McNab nahm sich – wenigstens mir schien es so – recht lange Zeit, um die von ihm zuletzt aufgeworfene Frage zu beantworten. Er blieb unbeweglich stehen, dicht vor Dr. Dunn, aber – dessen bin ich sicher – ohne sich in diesem Augenblick meiner Gegenwart, wie Dr. Dunns Gegenwart bewußt zu sein. Was Dr. Dunn empfand, kann ich nicht sagen. Jedenfalls stand er fast ebenso unbeweglich wie McNab selbst. Und ich? Ich wagte es kaum, laut zu atmen, denn ich begriff, daß McNab sich in den Kopf gesetzt hatte, diesen so schwer auffindbaren Kinloch in dem Moment zu erwischen, wo er sich aufmachte, um nach der Dame zu suchen. Schon begann ich zu fürchten, daß McNab sich da ein Problem gestellt habe, das selbst für sein fruchtbares Hirn zu schwer zu lösen sei, als er plötzlich die Augen öffnete.

»Es gibt für ihn nur einen Weg.«

»Nun?« flüsterte Dunn mit erschreckt aufgerissenen Augen.

»Es liegt auf der Hand, daß er nicht herumlaufen und nach ihr Ausschau halten kann.«

»Nun?« wiederholte Dunn. Seine Stimme bebte.

»Er wird in einer Straße oder an einem Weg, den sie mehr als einmal in seiner Gegenwart erwähnt hat, warten, bis sie vorbeikommt. Und ich sage Ihnen, in diesem Augenblick sitzt er dort, ein Blinder, ein Buch in Blindenschrift auf den Knien, mit lauter Stimme lesend, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.«

Es war verblüffend, zu sehen, wie diese Behauptung auf Dunn wirkte. Sein Gesicht hellte sich mit einemmal auf. Er lachte, und die Heiterkeit platzte derart explosiv aus ihm heraus, daß es unmöglich war, an ihrer Echtheit zu zweifeln. Es war das gutmütige, aber etwas verächtliche hemmungslose Losbrüllen, das verletzend wirken kann wie eine Ohrfeige. Ich spürte, wie mein Gesicht vor Zorn rot wurde. Aber McNab schien nicht im geringsten aus der Fassung gebracht.

»Sie sind nicht meiner Meinung, Doktor?« sagte er ganz gelassen, aber mit einer leichten Beimischung von Verwunderung, die eine Antwort geradezu herausforderte.

»Nicht im geringsten«, erklärte Dunn rundheraus. »Eine hoffnungslosere Sache habe ich in meinem Leben noch nicht gehört. Großer Gott, da könnte er ja sitzen und warten bis zum Jüngsten Tag. Ja sogar, wenn die Frau zufällig des Weges kommen sollte, wie kommen Sie dazu, anzunehmen, daß sie auch nur die geringste Notiz von ihm nimmt – vorausgesetzt, daß sie ihn überhaupt bemerkt –, wenn sie keine Lust dazu hat?«

»Ich nehme gar nicht an, daß sie es wagen würde, mit ihm zu reden, selbst wenn sie es sogar sehnlichst wünscht. Aber schließlich wird Kinloch sein Verhalten nicht nach dem eingerichtet haben, was ich denke, sondern nach dem, was er selbst denkt. Und wenn die Frau bei ihm alle ihre Künste hat spielen lassen, ihn genügend in Bann geschlagen hat – Sie wissen, daß ich das annehme – um sicher sein zu können, daß er den Mund hält – wenn das so ist, dann wird Kinloch immer aus dem Glauben heraus handeln, daß sie eine zärtliche Schwäche für ihn hat. Er wird in der Überzeugung leben, daß sie nicht wortlos an ihm vorbeigehen wird, wenn sie ihn da sitzen sieht.«

Dr. Dunn griff nach seinem Hut, als hoffe er auf diese Weise sein ungläubiges Grinsen verbergen zu können.

»Einleuchtend ist das«, meinte er, »aber ganz und gar phantastisch. Ich brauche wirklich keine Angst zu haben, daß Sie meinen Freund auffinden und in diese abscheuliche Affäre hineinziehen.«

»Nein? Mann, Doktor! Wenn Sie genügend Einblick hätten, dann könnten Sie nichts Besseres tun, als jetzt auf den Knien darum zu beten, daß ich der erste bin, der ihn findet.«

Dunn war bereits auf dem Weg zur Tür, aber McNab sprach so eindrucksvoll, daß er haltmachte und sich umdrehte.

»Als erster?« fragte er. »Was meinen Sie damit?«

»Bevor der andere Mann ihn findet«, sagte McNab, ihm zunickend. »Sie scheinen nicht zu sehen, daß Kinloch sich aus eigenem Entschluß wieder in diese abscheuliche Affäre hineinbegeben hat – hineinbegeben, nachdem er bereits glücklich heraus war. Warum eigentlich? Ah, wissen Sie, ich bin mir keineswegs sicher, ob wirklich Kinloch sich so sehr täuscht, wenn er glaubt, daß bei dieser Frau eine gewisse Zuneigung zu ihm entstanden ist. Solche Dinge geschehen.«

Dunn, der an der Tür stand, schüttelte den Kopf.

»Sie haben mir zuviel Phantasie. Wenn es wahr wäre, hätte sie ihn ja auch nicht zu verlassen brauchen«, sagte er und hielt McNab die Hand hin.

»Wahrscheinlich gab es ein Dutzend gewichtiger Gründe dafür, daß sie ihn verlassen mußte. Und beachten Sie folgendes –« McNab hielt des Doktors Hand fest –, »vielleicht war für sie gerade der gewichtigste Grund der, daß sie ihre aufkeimende Neigung zu ihm bemerkte.« McNab machte eine kleine Pause. – »Sie selbst scheinen für Kinloch eine starke Zuneigung zu haben, Doktor, wenn man nach allem urteilt, was Sie getan und gesagt haben. Nun gut, das sollte es Ihnen leichter machen, daran zu glauben, daß es einem andern ebenso geht.«

Dr. Dunn ging, ohne von meiner Anwesenheit Notiz genommen zu haben. Wenigstens verabschiedete er sich nicht von mir. Als McNab, der ihn hinausbegleitet hatte, zurückkehrte, warf er sich wie erschöpft in einen tiefen Sessel.

»Du hast von ihm wenig Kleingeld herausbekommen«, sagte ich.

»Habe ich ihm denn was zu wechseln gegeben?«

»Nein. Im Gegenteil scheint's dir gelungen zu sein, ihm etwas zu nehmen.«

»Was denn?«

»Eine zentnerschwere Last von der Brust.«

McNab schien von meinem Hohn nicht im geringsten getroffen. Er schlug die Beine übereinander und legte sich mit einem mächtigen Gähnen in seinen Sessel zurück.

»Das war gerade, was ich erreichen wollte«, sagte er. »Aber es war nicht das einzige, was ich erreicht habe.«

Das traf mich völlig unerwartet. Ich mußte ein wenig nachdenken.

»Demnach war alles, was du über die Methode, mit der du Kinloch habhaft zu werden gedenkst, nur ein Bluff?«

Mit einem Ruck saß McNab aufrecht.

»Meinst du, daß er das auch gedacht hat?«

»Beim Himmel, nein. Der ist die Einfalt selbst. Er hat alles für wahr gehalten wie das Evangelium.«

Aufatmend versank McNab wieder in seinem Sessel.

»Und das war's auch, Chance, wahr wie das Evangelium. Ich beabsichtige, morgen das ganze Westend nach Kinloch abzusuchen, und ich erwarte durchaus, ihn in der Situation vorzufinden, die ich beschrieben habe. Aber was mir am meisten Kopfzerbrechen macht, ist die Frage, warum Dunn in dieser Art gelacht hat, als er meinen Plan hörte. Ich hätte es verstanden, wenn ihn die Sache amüsiert hätte. Aber er war plötzlich beinahe übermütig. Warum? Ich muß allein darüber nachdenken – sowohl über das, was er gesagt hat, Chance – als über das, was er nicht gesagt hat. Vor allem aber muß ich die Lösung dafür finden, warum Dr. Peter Dunn meinen kleinen Plan so außerordentlich belustigend gefunden hat. Komm aber morgen gegen Mittag wieder herauf. Um die Zeit wird mein ganzer Apparat bereits arbeiten. Matheson kannst du sagen, daß du den ganzen Tag für mich beschäftigt sein wirst.«

So verließ ich ihn, obwohl mir viele Fragen auf der Zunge brannten, und überließ ihn dem Nachdenken über das Problem, das er sich gestellt – über das Lachen Dr. Dunns, das er so seltsam gefunden hatte. Selbst kluge Menschen haben, wie ich mir habe sagen lassen, ihre stupiden Augenblicke. Und ich war ziemlich sicher, daß zur Zeit Francis McNab einen seiner weniger erleuchteten Momente hatte, denn ein wahnwitzigerer Plan, einen Vermißten aufzufinden, war mir noch niemals zu Ohren gekommen.


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