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Elftes Kapitel

Am folgenden Mittwoch – ich kam gerade von dem zur Feststellung der Todesursache festgesetzten Termin zurück, der übrigens auf Wunsch der Polizei für eine weitere Woche vertagt worden war – ersuchte mich Matheson, zu McNab zu gehen und ihn zur Rede zu stellen.

»Er scheint sich mit Snargrove überworfen zu haben«, meinte Matheson mürrisch. »Unser Blatt wird darunter zu leiden haben. Das geht auf keinen Fall. Snargrove ist plötzlich sehr schweigsam geworden.«

Er nahm eine polizeiliche Bekanntmachung, die die übliche Überschrift trug, und reichte sie mir.

»Bringen Sie ihm das hinüber. Das ist alles, was Snargrove uns über den Mordfall hat zukommen lassen. Nicht ein Wort mehr, als was man an jeder Anschlagsäule lesen kann. Zeigen Sie nur McNab einmal, was er angestellt hat. Sie können auch hinzufügen, daß es in Zukunft Lord Babbington schwer werden dürfte, ihm besondere Vergünstigungen für seine Tätigkeit zu verschaffen, wenn er – hm – sich bei den Behörden unbeliebt macht.

Während Matheson sich auf diese Art das Herz erleichterte, überflog ich die Bekanntmachung.

»Gesucht: Junger, dunkler, gutgekleideter Mann, etwa sechs Fuß groß, von kräftigem Körperbau, aber mit stark hinkendem Gang. Der Betreffende ist, wie festgestellt wurde, am Montag, den 15. Januar, nachts in Ealing gewesen. Zweckdienliche Meldungen sind an Scotland Yard oder das nächste Polizeirevier zu richten.«

»McNab wird dieser Zettel nicht gefallen. Das alles steht in völligem Gegensatz zu seiner eigenen Theorie.«

Sofort spitzte Matheson die Ohren.

»Demnach hat er also eine Theorie? Wie lautet sie denn?«

»Er hat nichts darüber gesagt.«

»Aber er meint, daß Snargrove auf dem falschen Weg ist?«

»Und wie! – Wie ein verirrtes Schaf!«

Das war ein Brocken, an dem Matheson geraume Zeit schweigend kaute. Ich wußte übrigens genau, was in seinem Kopf vorging. Er überlegte, ob sich der Mordfall Paget nicht zu einer besonderen Sensation des Blattes ausgestalten ließe, wobei die Voraussetzung war, daß die Zeitung eine Richtung einschlug, die dem Weg, den die behördliche Untersuchung ging, aufs schärfste entgegengesetzt war. In anderen Worten, er dachte sich, wenn ein Bruch mit der Polizei schon unvermeidlich sei, so brauche er deshalb doch nicht unbedingt unvorteilhaft zu sein.

»Sagen Sie ihm«, erklärte Matheson schließlich, »daß er auf die volle Unterstützung unseres Blattes rechnen kann, wenn der Weg, den er einschlägt, nur halbwegs vernünftig ist.«

»Auch gegen die Polizei?« erkundigte ich mich.

»Gegen jeden«, bellte er.

Ich fand McNab in luftiger Höhe, in seinem Büro, das auf die Themse hinausblickte.

»Matheson hat erklärt, er sei bereit, dich bei jedem Angriff auf die Methoden der Polizei mit dem ganzen Einfluß des Blattes zu decken«, verkündigte ich.

»So, will er das? Nun, ich bin gar nicht gesonnen, einen Angriff auf die Polizei zu unternehmen. Die Polizei hat das Beste getan, was sie konnte, und in den meisten, den allermeisten Fällen, ist das recht viel.« Er machte ein paar Schritte durchs Zimmer. »Eine feine Sache wäre das! Die Polizei anzugreifen!« Er machte halt und blickte mich pfiffig an. »Du hast mich mal gefragt, warum ich mich auf dieses Handwerk verlegt habe. Nicht wahr? Und ich will dir aufrichtig antworten: es steckt mir im Blut. Mein Vater war ein Polizist.«

»Ach, das hab' ich nicht gewußt.«

Er nickte.

»Jawohl; und obwohl er als Bezirksinspektor gestorben ist, war er früher einmal nichts als ein schlichter Dorfpolizist, der kurz vor meiner Geburt in der Angelegenheit einiger irischer Verschwörer Großartiges geleistet hatte.« McNab betrachtete nachdenklich seine Stiefelspitzen. »Snargrove ist immerhin nicht die ganze Polizei. Wir müssen uns nicht dazu verleiten lassen, von dem Soldaten auf den General zu schließen.«

Ich benutzte den Augenblick, um die polizeiliche Bekanntmachung aus der Tasche zu ziehen.

»Matheson möchte wissen, ob du ihm irgendwas über diesen Wisch schreiben willst.«

Er las die Bekanntmachung durch und begleitete die einzelnen Sätze gleich mit einem Kommentar.

»›Junger, dunkler, gutgekleideter Mann‹ – jawohl, das haben sie alles bloß hingesetzt, weil's wohl jemand war, der sein Haar gut zu bürsten pflegt. Sie haben die Haare mikroskopisch untersucht. In welchem Alter hören Männer gewöhnlich auf, 'ne Haarbürste zu benutzen?

›Etwa sechs Fuß groß‹ – das wollen sie aus der Länge des Spazierstocks schließen.

›Mit stark hinkendem Gang‹ – da ist wieder der Stock im Spiel. Ein Trugschluß meiner Ansicht nach.« Er blickte mich an. Die Sache ging ihm gegen den Strich. »Menschenskind«, rief er, »dem Ding riecht man ja die Trugschlüsse auf Meilen an!« Er drängte mir die Bekanntmachung wieder auf. »Nein, sag Matheson nur, ich hätte nichts dazu zu sagen.« Und damit schob er mich samt meiner polizeilichen Bekanntmachung vor die Tür.

 

Als der für die amtliche Festsetzung der Todesursache bestimmte zweite Termin gekommen war, suchte ich indessen, auf Mathesons Wunsch, McNab auf und fragte ihn, ob er mich begleiten werde. Dies schlug er mir rundweg ab.

»Mit dem Fall bin ich fertig. Den fass' ich nicht mehr an«, erklärte er kurz.

»Nun ja, gewiß, es ist ein ziemlich schwieriger Fall«, räumte ich ein.

Ein verächtliches Schnauben war die Antwort.

»Matheson«, fuhr ich fort, »ist scharf auf die Sache. Er wäre bereit, dir hinsichtlich der Spesen freie Hand zu lassen, unter der Voraussetzung, daß du deiner Sache sicher bist und eine saftige Sensation daraus machen kannst, wie der ›Record‹ sie gewöhnt ist. ›Aber es wär' ihm selbst um einen einzigen Pfennig zu schade‹, erklärt' er, ›wenn alles, was du kannst, darin besteht, zu dem, was Snargrove behauptet, ja und amen zu sagen.‹«

Er fuhr herum und starrte mich an.

»Sieht's denn aus, als ob ich das täte?«

»Aus dem, was du Snargrove in Ealing gesagt hast, schien mir's allerdings nicht hervorzugehen, aber da du dich jetzt weigerst, dich weiter mit der Angelegenheit zu befassen, muß ich annehmen, daß du die Sache noch einmal gründlich überlegt hast und daß deine Ansichten sich geändert haben.«

»Hör mal, Chance«, unterbrach er mich. »Ich will wenigstens mitgehen und hören, was beim Termin an Aussagen vorgebracht wird. Es ist ja immerhin möglich, daß vielleicht Snargrove zu einer anderen Auffassung gekommen ist.«

Mehr wollte ich ja nicht.

Wir langten ziemlich früh an und gingen, um uns die Zeit zu vertreiben, in den kleinen Vorraum, wo die verschiedenen, von der Polizei zusammengetragenen Beweisstücke auf einem Tisch ausgestellt waren. Während wir noch in dem Raum waren, erschien Snargrove, um den Tisch unter die Obhut eines uniformierten Polizisten zu stellen. Er tat so, als habe er McNab nicht gesehen. Der kleine Saal, in dem die Verhandlung stattfand, war von neugierigem Publikum überfüllt. Nachdem ich meine Aussage gemacht hatte, über deren Inhalt ja bereits berichtet worden ist, gelang es mir, einen Platz am Pressetisch zu erwischen. Von da aus konnte ich McNab auf der kleinen Tribüne am rückwärtigen Ende des Saales beobachten. Inspektor Snargrove machte unter atemlosen Schweigen aller Anwesenden seine Aussagen über die ersten Feststellungen in der Mordnacht, und McNab hörte gespannten Gesichts zu. Bevor aber Snargrove seine Aussage beendet hatte – die von dem, was er uns vorgetragen hatte, in keiner wesentlichen Einzelheit abwich –, stellte ich überrascht fest, daß McNabs Gesichtsausdruck sich gewandelt hatte. Gegen den dunklen Hintergrund der Täfelung der Galerie gesehen, hatte sein Gesicht vorher bleich, überanstrengt und unzufrieden ausgesehen – es war das Gesicht eines Menschen gewesen, der mit allem, was er hört, nicht einverstanden ist, und dem es gegen den Strich geht, ohne daß er sagen kann, warum –, jetzt aber hatte sich das alles völlig geändert, sein Gesicht war zwar immer noch bleich, aber es war mit einem Male – der einzige Ausdruck, der es wiedergibt, ist: erleuchtet! – Seine dunklen Augen glänzten wie Lampen. Als unsere Blicke sich trafen, stand er auf, deutete nach der Tür und verließ seinen Platz. Mein Herz begann zu pochen. Irgend etwas ganz Bedeutungsvolles war geschehen. Ich verließ den Pressetisch. Es war im Grunde ja auch nicht nötig, den Wahrspruch abzuwarten. Der wurde uns vom Ferndrucker später auch auf die Redaktion geliefert. Nach der Aussage Snargroves war auch ganz klar, zu welcher Feststellung man gelangen würde. »Vorsätzlicher Mord durch einen oder mehrere Unbekannte.« Ich eilte hinaus.

McNab stand im Korridor und wartete auf mich. Seine Augen glänzten noch immer. Selten habe ich einen Mann gesehen, der so vor Eifer glühte. Ohne allen Zweifel war er auf eine überraschende und unerwartete Entdeckung gestoßen. Und da ich wußte, was er für ein Mensch war, hatte ich sofort die Überzeugung, daß es keine »Ente« war, sondern etwas, das wirklich auf den unerklärbaren Mord ein ungeahntes Licht warf.

»Wir wollen doch noch mal einen Blick auf das Beweismaterial werfen«, sagte er, meinen Arm nehmend.

Wir gingen in den Vorraum hinaus. McNab nickte dem Polizisten zu, der an der Tür Wache stand. Der Mann beachtete uns kaum. Mit vorgestrecktem Hals und Augen, in denen sich tiefe Ehrfurcht malte, war er bemüht, so gut es ging, zu erhaschen, was der große Mann von Scotland Yard drin im Saal aussagte.

McNab stürzte sich wie ein Raubvogel auf den Spazierstock und unterzog ihn einer gründlichen Musterung von oben bis unten. Seine Hände, die den Stock hielten, zitterten.

»Du hast damals gehört, daß ich behauptete, das Mordzimmer müsse dunkel gewesen sein, als die blutigen Hände ihre Spuren auf der Tapete hinterließen?« fragte er mich. Seine Stimme bebte vor unterdrückter Erregung.

»Ja, ich habe es gehört. Du hast dich natürlich getäuscht, denn das Zimmer war hell erleuchtet, als ich es betrat.«

Aber er schüttelte mit großer Entschiedenheit den Kopf.

»Ich habe mich nicht geirrt, mein Jung. Siehst du den Stock? Untersuch ihn mal genauer und sag mir, was du 'rausgefunden hast.«

Ich nahm den Stock und untersuchte ihn sorgfältig.

»Beschreib ihn mir mal«, befahl McNab.

»Es ist ein ganz gewöhnlicher, billiger, schwerer Eichenstock – der von einem sehr großen Menschen benutzt worden sein muß – und unterscheidet sich sonst in nichts von anderen Stöcken dieser Art«, erklärte ich verwundert. Ich hatte etwas ganz Besonderes erwartet.

»Und trotzdem unterscheidet sich der Stock von andern. Paß auf. Halt ihn mal grad nach unten, als ob du damit gehen wolltest. Merkst du nicht, daß die untere Fläche nach einer Seite abgeschrägt ist? Und zwar nach der Seite, die man sozusagen den Absatz nennen könnte? Ein Spazierstock, den du selbst benutzt hast, würde an der Seite leicht abgeschrägt sein, die deinem rechten Bein am nächsten ist. Da du ein Rechtshänder bist, wird jeder Stock früher oder später sich an der deinem Körper zugekehrten Seite abnutzen. Ebenso würde der Stock eines Linkshänders auf der Seite abgeschrägt sein, die seinem linken Bein am nächsten ist. Denn niemand stützt den Stock genau senkrecht auf. Immer ist der Stock in Hüfthöhe näher am Körper als an den Stiefeln.«

»Aber hier ist keines von beiden der Fall«, unterbrach ich ihn, die Spitze des Stockes in die Höhe haltend. »Die Zwinge ist abgenutzt, sogar sehr abgenutzt, aber weder auf der rechten noch auf der linken, sondern auf der hinteren Seite.«

»Vollkommen zutreffend. Ich habe erklärt, daß der Mann seine abscheuliche Tat im Dunkeln begangen hat. Ich habe recht behalten. Er hat sie auch im Dunkeln getan, und dieser Stock beweist es.«

Trotz der Zuversicht, mit der McNab sprach, konnte ich den Eindruck nicht loswerden, als habe er plötzlich den Verstand verloren. Ich beobachtete ihn besorgt. Er hatte den Stock wieder an sich genommen und verschlang das armselige Ding mit den Augen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Verzückung. Ja, er sah aus wie ein Gelehrter, der den Körper irgendeines widerwärtigen, aber seltenen Reptils mit der ganzen Ehrfurcht des Kenners untersucht. Was ich daraus machen sollte, wußte ich selbst nicht. Ich erlebte einen der Augenblicke, wo das Gehirn die Arbeit verweigert. Ich hatte eine verschwommene Erinnerung an Moses und den Stab, den er in eine Schlange verwandelte.

Dann blickte McNab auf und begann zu reden, ganz im Tone eines Professors, der seine Vorlesung beginnt.

»Hier haben wir einmal den Beweis«, sagte er, »für den Wert der logischen Methode. Trotz der Darstellung des Falles, die Inspektor Snargrove gegeben hat, und trotz deiner selbstsicheren Aussage, die seine Auffassung zu unterstützen schien, konnte ich einfach nicht glauben, daß der Raum erleuchtet war, als die blutigen Hände des Mörders sich an der Tapete abdrückten. Nein, ich konnt's einfach nicht glauben. Eine solche Handlungsweise entbehrte jedes Sinnes. Und alle Handlungen haben irgendeinen bestimmten Sinn, der sich dahinter verbirgt und aufgespürt werden kann. Und so bin ich denn zur Belohnung für diese Treue, mit der ich an meinen Prinzipien festhielt, schließlich auch auf den verblüffenden wahren Sachverhalt gestoßen.«

Seine Weitschweifigkeit konnte einen zur Verzweiflung bringen. McNab stand in diesem Augenblick dem verknöchertsten und langatmigsten Kathedergelehrten in nichts nach.

»Ich verstehe nicht, was der Stock dir Besonderes sagen kann«, erklärte ich, um ihn zu etwas größerer Eile zu veranlassen.

»Nein? Nun, und ich kann dir sagen, der ganze Mordfall erhält dadurch ein anderes Gesicht. Eine seltsame Gestalt, dieser Mörder! Aber es ist schon so gut, als hätte er die Schlinge um den Hals.«

Er legte den Stock auf den Tisch zu den anderen Beweisstücken zurück. Allmählich schien er aus seiner Ekstase zu erwachen.

»Ich muß sofort mit Matheson sprechen«, erklärte er in einem ganz verwandelten Ton. »Wir werden Geld brauchen – einen Haufen Geld. Aber, das weiß der Himmel, der Zeitung wird's die Kosten wert sein, das ist ein Fall, der in der Welt noch mächtiges Aufsehen erregen wird, Chance.«

Er strebte nach der Tür. Ich hielt ihn fest. Mein Eifer war jetzt erwacht.

»Erzähl mir mehr!« drängte ich.

Aber er schüttelte mich ab.

»Du ungläubiger Thomas, du blinde Fledermaus! Da, vor deinen Augen hast du's ja. Wenn du's nicht sehen kannst, dann ist's nur eine gute Schulung für dich, wenn du deine Ungeduld noch ein bißchen zügeln mußt.«

Noch einmal packte ich ihn am Ärmel, aber er riß sich los.

»Nein, nein! Matheson muß der erste sein, der von der Sache hört.«

Und damit war er aus der Tür, ja, er rannte beinahe.


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