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Erstes Buch
Der Mord in Ealing

Erstes Kapitel

Am Themsekai war es mit dem Nebel sogar noch schlimmer als vorher in den Straßen. Kinloch fand es merkwürdig, daß die paar Schritte Weg so viel ausmachen sollten, aber unbestreitbar: es war noch schlimmer! Der Schwefelgeschmack, den der Nebel hinterließ, wurde stärker, und gleichzeitig machte sich eine neue Nuance bemerkbar, ein scharfer Geruch, der wahrscheinlich den Beitrag der Themse zu den Annehmlichkeiten des Abends darstellte.

Jedenfalls aber kam man am Themsekai leichter vorwärts. Vorhin, in den Straßen, war Kinloch beinahe jeden Augenblick gegen einen anderen Passanten angerannt, um mit derselben Wucht wieder zurückzuprallen. Und wieviel fremde Hände hatte er an sich dulden müssen! Gewiß, manche von diesen Händen bemühten sich, nur schonend, im letzten Augenblick den Zusammenprall abzuwehren, aber es gab auch Hände, die stießen einen ungeduldig zur Seite, Ellbogen wurden einem rücksichtslos in die Rippen gebohrt, und so glich die Straße für einen Menschen in Kinlochs Verfassung sehr rasch der Szene eines wüsten Traums. Jetzt, nachdem er endlich bis zum Themsekai gelangt war, war zwar sein Vorankommen immer noch recht langsam und unsicher, aber er hatte mehr Raum, um sich vorwärtszutasten, und er konnte freier atmen, denn der Themsekai lag so schweigend und verlassen da, wie die Straße eines schottischen Dorfes an einem Sonntagnachmittag.

Mit den wenigen Geräuschen, die überhaupt hörbar wurden, erlaubte sich der Nebel, wie Kinloch bald bemerkte, allerlei sonderbare Scherze. Manche Geräusche verstärkte er über Gebühr, und manche andere erstickte er wie in Watte. Das Husten und Niesen eines der vereinzelten Fußgänger zum Beispiel schallte laut und deutlich über den breiten Fahrweg herüber. Wenn ein Zug über die Brücke rollte, dröhnte es wie Donner. Aber als die Uhr am Turm des Parlamentsgebäudes sieben schlug, klangen die Töne dünn und silbrig zitternd durch die verhangene Luft.

An der Mündung der Villiers Street geriet Kinloch indessen wieder, hilflos stolpernd, in den Strom eilfertiger Passanten. Das eine Gute aber hatte es: er lief nicht mehr Gefahr, den Eingang zur Untergrundbahn zu verfehlen. Alles strebte eiligen Schritts in dieser einen Richtung. Der Strom fegte ihn ohne weiteres mit in den Schalterraum hinunter. In einer Nacht wie dieser hatten es alle eilig, bald ihr schützendes Heim in irgendeinem Vorort draußen zu erreichen.

Er stand in der Schlange, die sich vor den Billettschaltern gebildet hatte, hörte die knappen Antworten des Schalterbeamten, hörte die Geldstücke auf das Zahlbrett knallen, hörte das Trappeln der unzähligen Füße, die die Treppe nach dem Bahnsteig hinunterstrebten, und dachte an den Gegensatz zwischen dem Schicksal all dieser geschäftigen, zielbewußten Leute und seinem eigenen. Er hatte keinen Anlaß zur Eile! Niemand saß zu Hause und wartete auf den Augenblick, wo sein Hausschlüssel im Schloß klirrte. Zeit bedeutete für ihn nichts. Der Nebel? In den paar Stunden, bis Kinloch wieder in die Stadt zurückkam, war er sicher noch dicker geworden. Seltsam, wie sehr er gerade jetzt seine Einsamkeit fühlte. Langsam, krampfhaft sich am Geländer festhaltend, kroch er die Treppe hinunter, während ungezählte Menschenmassen an ihm vorbeihetzten und sich in ganzen Schwärmen in die Züge stürzten. Von ihnen allen existierte für Kinloch nichts als das Trommeln ihrer geschäftigen Absätze. Wären seine Empfindungen nicht so abgestumpft gewesen, hätte er eine warnende Vorbedeutung darin sehen müssen, daß ihn mitten in dieser Menschenmenge das Gefühl völliger Vereinsamung überkam. War es doch, als habe das Schicksal ihn herausgegriffen – ihn unter allen seinen Mitmenschen –, um ihn in die seltsame Kette von Ereignissen zu verstricken, die in dieser Nacht ihren Anfang nehmen sollten. In dieser Art scheint das Schicksal immer zu Werke zu gehen. Es bedient sich eines Menschen zu Zwecken, die der Betreffende im gegebenen Augenblick keineswegs vorhersehen kann. Aus keinem ersichtlichen Grund fühlt er sich eines Tages bewogen, eine bestimmte Straße einzuschlagen statt einer anderen, und gerade in dieser Straße stößt ihm dann etwas zu, was den ganzen weiteren Verlauf seines Lebens in neue Bahnen lenkt.

Als Kinloch die Untergrundbahn in Ealing-Broadway verließ, stieß er auch dort noch immer auf den Nebel, der sich kalt und feucht auf seinem Gesicht niederschlug, wenn auch die unerfreulichen Gerüche und Beimischungen des Stadtinnern verschwunden waren. Kinloch holte sich Auskunft über die einzuschlagende Richtung bei einem einsamen Droschkenchauffeur, den das Schicksal in diese Einöde verschlagen zu haben schien. Der Mann war freundlich, obwohl ein Blick auf Kinlochs Kleider ihm gezeigt haben mußte, daß er in ihm keinen Fahrgast zu erwarten hatte. Tastend machte sich Kinloch daran, seinen Weg nach Albany Road zu suchen, denn das war die Straße, wo Peter Dunn lebte, und auf Peter Dunn hatte er seine Hoffnung gesetzt. Jemand, der mit Kinloch in derselben Spelunke hauste, hatte für ihn Peter Dunns Adresse im Ärzteadreßbuch auf der Stadtbibliothek nachgeschlagen. Derselbe Mann – er lebte vom gewerbsmäßigen Bettelbriefschreiben – hatte Kinloch das Fahrgeld bis Ealing vorgestreckt. In seiner Art war er eigentlich ein wirklich guter Kamerad, denn ihre gemeinschaftliche Kasse reichte nicht für mehr als für das Billett von Charing Cross bis Ealing, und dabei liefen sie noch alle beide Gefahr, hungrig zu Bett zu gehen, wenn Kinlochs Mission scheiterte.

Es war zum erstenmal in Kinlochs Leben, daß er jemanden aufsuchte, um ihn anzubetteln. Freilich zweifelte er keinen Augenblick an dem Erfolg. Aber der Mann, den er angehen wollte, war ein früherer Freund, und das machte ihm die Unternehmung besonders bitter. Er bemerkte es mit einer gewissen Überraschung, hatte er doch geglaubt, allmählich ein ziemlich dickes Fell bekommen zu haben. Während er nun im Dunkeln weiterstolperte, begann er innerlich sich lebhafter mit Peter Dunn zu beschäftigen – vielleicht, um sich selbst in dem Vorhaben, zu dem er sich entschlossen hatte, zu bestärken. Er reihte noch einmal alle die kleinen Erlebnisse aneinander, die er und Peter Dunn in glücklichen Tagen einst gemeinsam gehabt hatten. Vielleicht war das das Schlimmste, was Kinloch tun konnte, die vergangenen Tage wieder heraufzubeschwören – denn es verschärfte nur noch den Gegensatz zwischen dem, was sein Leben einst gewesen, und dem, was es jetzt geworden war – zwischen dem Mann, der er jetzt war, ein verhärteter, verbitterter und beinahe völlig skrupelloser Mensch, mit einem Wort: während er sich mit dem Menschen beschäftigte, der er früher gewesen war, erblickte er sich erst wirklich in seiner jetzigen Gestalt.

Je mehr er sich erinnerte, und je näher er Dunns Tür kam, desto deutlicher sah er, was aus ihm geworden war. Und ein gewisser falscher Stolz sprach jetzt auch sein Wort mit. Wie hatte er doch sein eigenes Leben verpfuscht, während Dunn vorangekommen war. Und – das kam noch hinzu – die ganzen letzten sechs Jahre über hatte er nichts von Peter Dunn gehört. Was kann alles in sechs Jahren geschehen. Um es rundheraus zu sagen: er fürchtete, seinen Freund aus früheren Tagen verheiratet zu finden – vielleicht hatte er sogar Kinder, lebte das geordnete und ruhige Leben eines geachteten praktischen Arztes. Bei diesem Gedanken stockte Kinlochs Fuß. Mit einemmal gewann der Begriff »Peters Frau« für ihn Wirklichkeit, eine schreckliche Wirklichkeit, die ihn einschüchterte. Er stellte sich Peter Dunn mit der unbehaglichen Aufgabe belastet vor, seiner Frau einen Freund vorzustellen, dem die Ellbogen aus den Ärmeln sahen. Er sah die Dame selbst vor sich, ein gefrorenes Lächeln auf den Lippen und einen feindseligen Blick in den Augen, wie sie sich im stillen fragte, was wohl das Stubenmädchen über den seltsamen Besucher denken mochte.

Noch stand er zaudernd auf der völlig verlassenen Straße, von widerwärtiger Unentschlossenheit gequält, hin- und hergerissen zwischen der Scham und dem Bewußtsein, daß er Hilfe dringend brauche, als er hinter sich den schweren Tritt eines Polizisten hörte.

Das Schicksal war bereits eingesprungen und hatte die Entscheidung getroffen, die er nicht zu treffen wagte. Unbewußt schob ihn eine unbekannte Macht dem Schicksal entgegen, das ihm bevorstand, und die Entscheidung darüber, ob er seinen Freund aufsuchen oder umkehren sollte, lag nun nicht mehr in seinen eigenen Händen. Denn als er mechanisch den Fuß hob, um weiterzugehen, hörte er die dröhnenden Tritte hinter sich rascher werden, und gleich darauf legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter.

»Warum drücken Sie sich hier herum?«

»Ich habe mich verirrt.«

Er stammelte wie ein Kind, etwas verwirrt, wie ein Mensch, der zu plötzlich aus einem Traum erwacht. Verirrt! Gewiß, er hatte sich verirrt. Aber lange vor dieser Nacht. Vielleicht war es dieser Gedanke, der seine Verwirrung noch steigerte. Der Polizist erblickte darin nichts als Schuldbewußtsein. Mit einem raschen Griff hatte er Kinlochs zitternder Hand den Spazierstock entwunden.

»Humbug, mein Freund! Sie treiben sich hier in einer ganz bestimmten Absicht herum. Der Fall ist klar. Seit einer halben Stunde beobachte ich Sie. Sie kommen gefälligst mit.«

Seine Hand verließ Kinlochs Schulter und packte ihn dafür am Kragen.

»Ich suche nach dem Haus Albany Road Nummer 28«, protestierte Kinloch. Er war endlich wach geworden.

Der Polizist grunzte verächtlich.

»Sind da wahrscheinlich zum Essen eingeladen, was?«

»Nein – ich – ich will Dr. Dunn konsultieren.«

»Versuchen Sie mir keinen Bären aufzubinden. Dr. Dunn hat keine Patienten von der Sorte – es sei denn, daß wir ihn bei Unfällen als Polizeiarzt heranziehen. Marsch jetzt!«

Er verdrehte Kinloch den Arm im Gelenk und trat ihm gleichzeitig mit großer Gewalt auf den linken Fuß. In Kinloch brauste es auf, der Mensch glücklicherer Tage, der Sandy Kinloch von einst, regte sich vorübergehend.

»Sie versuchen wohl Dr. Dunn als Polizeiarzt Arbeit zu verschaffen?« erkundigte er sich und schob den Polizisten zur Seite.

Sofort fiel der Mann mit einer Brutalität, die ihm sichtlich Genuß bereitete, über ihn her. Von anderen Unglücksgenossen hatte Kinloch genug über diesen Typus des Polizisten erzählen hören. Die durch nichts gerechtfertigte Mißhandlung, die der Kerl ihm zugefügt hatte, entsprang wahrscheinlich der Absicht, ihn zum Widerstand zu reizen, und »Widerstand gegen die Staatsgewalt« konnte dann erfolgreich zur Bekräftigung jeder ernsteren Beschuldigung benutzt werden, die es dem Beamten beliebte, gegen ihn vorzubringen. Denn – das lag ja auf der Hand – warum sollte jemand, der sich schuldlos fühlte, sich widersetzen? Kinloch wußte aus Erfahrung, daß immer noch hier und da der berüchtigte Typus des Polizeibeamten existierte, der es für absolut notwendig hält, »Fälle« zu konstruieren, um seine Existenzberechtigung darzutun.

Sein Fuß schmerzte ihn rasend, aber er unterdrückte die ganz natürliche Versuchung, den Kampf fortzusetzen.

»Schön«, sagte er, »vorausgesetzt, daß ich Dr. Dunn sprechen kann, ist es mir ganz gleichgültig, ob Sie mich zu ihm führen oder ihn zu mir bringen.«

Vielleicht war die lässige Gleichgültigkeit, mit der er es sagte, nicht ganz ohne Wirkung auf seinen Gegner geblieben. Vielleicht aber auch – und das war wahrscheinlicher – hatte der sich inzwischen an den letzten Rüffel erinnert, der ihm wegen einer gleichen, willkürlichen Festnahme zuteil geworden war. Auf alle Fälle ließen die dicken Wurstfinger seinen Kragen fahren und faßten wieder seinen Arm. Der Polizist sagte:

»Albany Road liegt auf unserem Weg. Wir können im Vorbeigehen mal bei Dr. Dunn klingeln.« Aber die triumphierende Sicherheit, mit der er sein Opfer bisher gepackt gehalten hatte, hatte sich etwas vermindert.

Wie es sich herausstellte, lag die Albany Road gleich um die nächste Ecke. Ein paar Schritte noch – gerade hatte sein Wächter die äußere Gittertür eines Grundstücks aufgestoßen – und Kinloch hörte, wie eine Haustür zuschlug. Er konnte im Dunkeln nicht unterscheiden, ob jemand das Haus betreten oder verlassen hatte. Hastig griff er an seinen losgerissenen Kragen und versuchte ihn wieder mit der Krawatte in Verbindung zu bringen, die ebenfalls unter der brutalen Behandlung gelitten hatte. Dann dröhnte eine Stimme von der Haustür her:

»Was ist los, Wachtmeister?«

Der Polizist zerrte seinen Gefangenen vor. Er schien sich jetzt nicht mehr ganz wohl in seiner Haut zu fühlen.

»Dieser Mann, Herr Doktor – ich habe ihn dabei erwischt, wie er sich in verdächtiger Weise herumdrückte. Er behauptet, er kennt Sie und wollte Sie aufsuchen.«

»So, so, er kennt mich, sagt er. Leuchten Sie ihm doch mal ins Gesicht.«

Ein Aufschrei.

»Sandy – Sandy Kinloch, bei allen –« Dunn unterbrach sich. Seinem flinken, im Sehen geschulten Blick war der traurige Zustand seines Besuchers nicht entgangen. Der Polizist ließ Kinlochs Arm, den er noch immer gepackt hielt, fahren, als habe er sich die Finger verbrannt.

»Oh, Sandy, mein guter, armer Junge, Sandy!« Dunns Stimme war gedämpft.

Der Polizist hatte den Spazierstock seinem Eigner wieder zugestellt und verschwand im Eilschritt durch das Gittertor. Kinloch atmete auf. Es war ein großer Trost, den Kerl fortgehen zu hören. Dunn schob die Hand in Kinlochs Arm.

»Na, na, nu komm doch 'rein!« sagte er.

»Aber Peter, deine – deine – Frau«, stammelte Kinloch.

»Meine – was?« rief Dunn und machte halt.

»Ich kann mich eigentlich vor anständigen Leuten nicht sehen lassen. Wird sie's nicht übel aufnehmen?«

»Du meinst, sie hat Angst um ihre feinen Stühle und so weiter, was? Wer hat dir denn erzählt, ich wäre verheiratet?«

»Niemand. Ich hab's erraten.«

»Da hast du danebengeschossen, Sandy: hier gibt's keine Hexe, die mir die Zimmer mit ihrem Porzellan und ihrem Weiberkrimskrams verstellt. Also, Jung, wisch dir die Stiefel ab und komm endlich 'rein.«

Dunn hat später erklärt, er habe auf den ersten Blick gesehen, wie es mit Kinloch stand. Diese Behauptung ist ohne Zweifel zutreffend. Sein Blick, der Blick eines geschulten Fachmannes, konnte ihn wohl von Dingen unterrichtet haben, die für andere nicht so leicht erkennbar waren. Er erklärte indessen, daß er sich damals jeder Äußerung über den Schicksalsschlag enthielt, der seinen Freund getroffen hatte. Lediglich habe er sich einen kleinen Scherz über die Länge von Kinlochs Haaren erlaubt, um ihm ein wenig über die Befangenheit hinwegzuhelfen. Im übrigen hat sich Kinloch auf diese Bemerkung nicht weiter eingelassen. Dunn hätte wahrscheinlich nicht verstanden, daß dort, wo Kinloch während des letzten Jahres gelebt hatte, ein gewisses Vorurteil gegen Leute bestand, deren Kopf zu glatt geschoren war. Die glattgeschorenen Köpfe, denen man in Rowton Street begegnete, waren auf Staatskosten so glatt geschoren worden, und ohne daß man die Besitzer dieser Köpfe um die Erlaubnis gefragt hätte.

Später, nach einer Mahlzeit, wie sie für Kinloch die ganze Zeit über nur eine verschwommene Erinnerung aus der Vergangenheit gewesen war, saßen sie in dem gemütlichen Arbeitszimmer des Arztes, und Kinloch erzählte seine Geschichte. Er erzählte weitaus mehr, als hier wiedergegeben werden muß. Nicht, daß diese Einzelheiten langweilig oder unerfreulich wären, aber sie haben keine direkte Beziehung zu den Dingen, die später folgen sollten. Kinlochs wirkliche Geschichte begann eigentlich erst in dieser Nacht, sowenig die beiden Männer es sich träumen ließen.

Dunn hörte schweigend zu, bis Kinloch geendet hatte, er beschränkte sich auf ein gelegentliches Knurren oder ein anderes Zeichen der Entrüstung. Als Kinloch zu Ende war, schlug der Doktor mit dem Schürhaken in die Kohlen, daß es knallte. Im stillen schien er den Wunsch zu haben, Maxtones Kopf einen solchen Hieb zu versetzen. Denn Kinloch hatte die Erzählung seiner Erlebnisse mit den Erfahrungen beendet, die er mit Maxtone gemacht hatte. Maxtone war der Redakteur, der ihn in die Patsche gebracht hatte.

Langes Schweigen folgte. Dann meinte Dunn hilflos:

»Ich hab' niemals verstehen können, warum du's getan hast, Sandy.«

»Was denn?« Kinloch fuhr auf. Er war in seine Erinnerungen an Maxtone versunken gewesen.

»– Daß du dich mit der lächerlichen Tintenschmiererei befaßtest und die glänzenden Aussichten, die du damals hattest, zuschanden gemacht hast.«

»Ich konnt' eben nicht anders, Peter.«

Ein ungläubiges Knurren war Dunns Antwort.

»Ich habe ja auch früher einen gewissen Hang zur Dichterei gehabt«, sagte er, »aber wie ich gefunden habe, ist es eine der wenigen Versuchungen, denen man ohne große Mühe widerstehen kann.«

Kinloch lachte. Das erste von Herzen kommende Lachen seit vielen Tagen.

»Ja, du alter Pillendreher, und auch noch stolz bist du darauf. Aber deshalb wirst du auch nie wissen, was wahre Schöpferfreude ist – was es bedeutet, eine Idee aufzugreifen, ihr Fleisch und Blut zu geben und mit zu erleben, wie der Keim des Einzigartigen sich entfaltet – aus dem Nichts.«

»Jawohl – und es wird auch nichts daraus.«

Dunns Erwiderung, die er zwischen den Zähnen herausstieß, verriet einen ausgeprägten Widerwillen, der vielleicht nur durch den maßlosen Enthusiasmus ausgelöst worden war, den Kinlochs Worte verrieten. Aber in diesem Augenblick war Kinloch überempfindlich. Das Bewußtsein seiner Not drückte auf ihn. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß Dunn ahnte, was kommen würde – eine Bitte um Hilfe –, und daß er diese Bitte wenigstens teilweise übelnahm. Für Kinloch, der eben noch sich herzlich gefreut hatte, war es wie eine eisige Dusche. Sein lange verloren geglaubter Stolz kehrte ihm plötzlich wieder zurück – wie auch andere Dinge in dieser Nacht plötzlich zu ihm zurückkehrten. Er wollte es Dunn schon zeigen. Nicht um das Geringste würde er bitten. Er sah in Dunns Vorwurf eine Warnung, weiterzugehen. Er sprang auf. Aber Dunn beachtete ihn nicht.

»Na, ich denke, ich muß gehen«, sagte Kinloch mit einer großen Geste.

»Gehen?« wiederholte Dunn. »Wohin denn?«

»Dahin, wo ich mit meinem Gekritzel nun einmal hingekommen bin. Ein Loch in einer Spelunke in Rowton Street«, entgegnete Kinloch bitter.

Dunn drückte ihn mit einer gewissen Gewalttätigkeit wieder in seinen Stuhl.

»Du brauchst nicht so empfindlich zu sein. Wenn ich zornig bin, Sandy, so ist's doch nur wegen des Interesses, das ich an dir nehme – wo ich doch weiß, was du mal für Fähigkeiten gehabt hast. Mensch, Mensch – aber verdammt empfindlich bist du immer gewesen, mein Junge.«

»Was sollen die Vorwürfe mir jetzt nützen?« meinte Sandy verdrossen. »Was hätte ich schon anders tun sollen als schreiben? Und was für einen Doktor würde ich wohl abgeben, jetzt, wo der Krieg mich zugrunde gerichtet hat?«

Und jetzt machte Dunn einen großen Fehler.

»Nicht jetzt – aber wenn du deine medizinischen Prüfungen gemacht hättest, wärst du nie an die Front gekommen, und das, was dir jetzt passiert ist, wäre dir niemals zugestoßen«, erklärte er hartnäckig.

Sofort lief Kinloch die Galle über.

»In einem Etappenlazarett hätt' ich mich herumgedrückt – weit von der Schußlinie –, meinst du?« entgegnete er hitzig.

Und ohne daß sie recht wußten wie, nahm der Konflikt immer schlimmere Formen an. Ohne jeden Zweifel hatte Dunn die Absicht gehabt, seinem Jugendfreund unter die Arme zu greifen. Später, als Kinloch ruhig über die Vorgänge nachzudenken Zeit fand, sah er das auch ein. Wußte er doch, daß Dunn nicht zu den Leuten gehörte, die gute Ratschläge erteilen, wenn sie nichts sonst zu geben gewillt sind. Ja, Dunn hatte wahrscheinlich die Absicht, mehr für seinen Freund zu tun, als dieser je erhofft hatte; gerade deshalb beanspruchte er aber auch – dafür war er ein dickköpfiger Schotte – das Recht, den Anlaß zu benutzen, um seinem Freunde Ratschläge zu erteilen.

Der Bruch trat unvermutet ein, noch ehe einer von den beiden gewahr wurde, wohin ihr Zank führte. Dunn, dem das Blut zu Kopf stieg, begann seinem Freund eine lange Strafpredigt zu halten. Kinloch, den das Bild, das sein allzu aufrichtiger Freund von ihm entwarf, quälte und ekelte, verletzte seinen Freund mit einer giftigen Anspielung, die peinlich nach der Spelunke roch, in der er sich verborgen gehalten hatte.

Dunn sprang wütend auf.

»Über mein Etappenlazarett hast du eben geredet«, brüllte er, »und ich kann dir sagen, es wär' besser für dich gewesen, du wärst in eben dem Etappenlazarett krepiert. Es hätt' dir wenigstens die Sorte Existenz erspart, die du jetzt führst.«

Jetzt standen sie beide, und diesmal machte Dunn keinen Versuch mehr, seinen Freund zurückzuhalten. Er schnaubte vor Erregung. Sein Schlüsselbund klirrte, so sehr zitterte seine Hand, als er eine Schublade des Schreibtisches aufriß. Aber Kinloch wies das Geld, das man ihm anbot, jetzt zurück. Nach den Bemerkungen, die auf beiden Seiten gefallen waren, war es ihm nicht mehr anders möglich.

»Wie du willst«, sagte Dunn achselzuckend.

»Glücklicherweise bin ich nicht ganz ohne einen roten Heller«, verkündete Kinloch mit lächerlicher Pomphaftigkeit. Obendrein war es eine Lüge. »Es wäre auch unerträglich gewesen, mit deinem Geld zugleich noch eine Beleidigung einstecken zu müssen.«

»Oh, ich wollte dich nicht beleidigen«, sagte Dunn beinahe demütig.

Kinloch gab keine Antwort.

Als sie an der Tür standen, stieß Dunn einen plötzlichen Ausruf aus.

»Himmel, das hatt' ich ja ganz vergessen!« rief er.

»Was?« erkundigte sich Kinloch überrascht.

»Der Nebel! Ich kann dich nicht weglassen, Kinloch. Der Nebel ist dicker als vorher. Selbst der Hund von 'nem Bettler könnt' heut nacht nicht heimfinden.«

Vielleicht lag es an dem ungewohnten Gebrauch des Nachnamens – immer bisher war er für Dunn Sandy gewesen und nichts anderes – vielleicht erblickte er in dem Wort Bettler eine persönliche Anspielung – auf alle Fälle fühlte sich Kinloch aufs neue tief verletzt. Wortlos stolperte er die Stufen hinunter und durch die Gittertür auf die Straße.

Dunn lief ihm nach.

»Komm zurück, Sandy«, rief er. »In einer Nacht wie heute –«

»Was macht mir der Nebel schon aus, Dunn«, rief Kinloch mit einem erkünstelten Auflachen zurück und warf das Gittertor knallend ins Schloß.

Dunn, der Gewissensbisse fühlte, wollte ihm folgen, aber Kinloch entfernte sich, so schnell es ging. Bei dem dichten Nebel genügten ein paar Schritte, um ihn unauffindbar zu machen.

Freilich war Kinloch noch nicht weit gelangt, als er haltmachte. Er war in einer verteufelt schiefen Lage. Es war schon nach elf Uhr. Er war kilometerweit von Rowton Street entfernt und hatte keinen Pfennig Fahrgeld in der Tasche. Er stand gegen eine Mauer gelehnt. Von den Bäumen über ihm troff klatschend die Feuchtigkeit auf ihn herab. Die nasse Straße war leer und verlassen. Weiß Gott, jetzt war er abgekühlt. Eine gute halbe Stunde blieb er so stehen, und sein dumpfes Hirn quälte sich mit der fatalen Lage, in die sein närrischer Zank mit Dunn ihn gebracht hatte. Auch hatten seine Kleider in dem kurzen Intermezzo mit dem Polizisten ziemlich gelitten. Wenn auch sein Anzug längst abgeschabt gewesen war, so war er doch ursprünglich von guter Qualität gewesen, und er hatte ihn immer sorgfältig geschont. Es ist etwas ganz Wunderbares, welche Wichtigkeit der Zustand des letzten, des allerletzten anständigen Anzugs für einen Mann erlangt, der am Ende seiner Hilfsmittel angelangt ist. Bei einer Unterredung mit jemand, bei dem man beschäftigt werden könnte, läßt sich der Zustand des Schuhwerks mehr oder weniger verbergen, einen schäbigen Hut kann man nachlässig hinter dem Rücken halten, aber auf dem Anzug ruhen aller Augen. Der erste Eindruck, nach dem viele Menschen urteilen, hängt davon zum großen Teile ab. Aber selbst diese Sorgen nahmen Kinloch nicht allzu lange in Anspruch. Es gab einen Gedanken, der ihn bald ausschließlich beschäftigte: wie sollte er wieder nach der Rowton Street gelangen? Durch die Sperre der Untergrundbahn kann man sich ohne Fahrkarte nicht hindurchdrücken. Dann erinnerte er sich, daß es in Ealing auch einen Bahnhof der Great Western Eisenbahn gab. Wenn es ihm gelang, unbemerkt in einen Zug zu schlüpfen, hatte er eher Aussicht, bei der Ankunft auf dem Paddington-Bahnhof den Billettkontrolleuren durch die Finger zu schlüpfen – der Bahnhof war ja so groß –, und wenn's nicht gelang und er festgenommen wurde, so hatte er wenigstens ein Nachtquartier.

Er hatte schon eine gewisse Strecke auf dem Weg nach der Eisenbahnstation zurückgelegt, als ihm etwas ganz Neues einfiel. Vielleicht hätte es ihn gar nicht beschäftigt, wenn nicht an diesem Abend seine Erinnerung an bessere Zeiten wieder geweckt worden wäre. Und zwar handelte es sich darum: wenn er Gefahr laufen mußte, festgenommen zu werden, so mußte er dafür sorgen, daß sein wirklicher Name nicht bekannt wurde. Gewiß, es wirkt fast komisch, daß er auf einmal in dieser Beziehung so empfindlich geworden war. Auf alle Fälle ist es Tatsache, daß er systematisch sämtliche Taschen durchsuchte und auch den geringsten Fetzen Papier, der als Anhalt zu seiner Identifizierung dienen konnte, zerriß und wegwarf. Dunn durfte nichts erfahren. Das war dabei wohl sein leitender Beweggrund. So ließ er, wie auf einer Schnitzeljagd, auf seinem langen Weg durch Straßen und Alleen eine Fährte von kleinen Papierfetzen hinter sich, und erst als die Arbeit getan und seine Taschen völlig leer waren, begann er sich darum zu kümmern, wohin er eigentlich ging.

Der Nebel schien noch genau so dicht wie früher. Er bildete eine beinah undurchdringliche Mauer. Dahinter mußten die Häuser liegen, lange Reihen von Häusern. Nur der vielleicht zwei Meter breite Rasenstreifen des Vorgartens trennte sie von der Straße. Trotzdem verriet kein Geräusch, kein Lebenszeichen, daß sie existierten. Geradesogut hätte er durch die Straßen einer ausgestorbenen Stadt hinken können.

Kurze Zeit darauf stellte er fest, daß er an einem langen eisernen Gitter entlang ging. Das Eisenwerk war außerordentlich massiv. Kinloch hatte das Gefühl, daß es seine Massigkeit nur öffentlichen Geldern verdanken könne. Er hatte außerdem den Eindruck, bereits über den Kreis der Vororte hinausgeraten zu sein, und wußte nicht mehr recht, welche Richtung er einschlagen sollte. Schließlich machte die Straße eine weit ausholende Kurve und begann bergan zu steigen. Kinloch war jetzt seiner Sache gewiß: er wußte, daß er nicht diesen Weg gekommen war!

Ein Frösteln der Beunruhigung lief über ihn hin. Von Zweifeln gequält, machte er halt. Welchen Weg sollte er einschlagen? Es war sehr kalt. Die Kälte drang feucht und frostig bis auf die Haut. Seine Kleider trieften beinahe von der Nässe, mit der der Nebel sie gesättigt hatte. Er beugte sich vor, bemüht, irgendeinen Laut zu erhaschen, aber er hörte nichts als das gespenstische Klatsch, Klatsch, wenn die Nässe von den Bäumen jenseits des Gitters zu Boden troff.

Er stapfte weiter und ließ seinen Stock an den Stäben des Gitters entlang laufen. Er hoffte, auf diese Art den Eingang zu einem Haus zu finden, wo er sich nach dem Weg erkundigen konnte. Als sich das als vergeblich erwies, ging er über den Fahrdamm nach der anderen Seite, in der Hoffnung, dort endlich ein bewohntes Grundstück zu entdecken. Nachdem er sich an einer hohen, glatten Mauer entlang getastet hatte, gelangte er schließlich zu einem kleinen eisernen Gitterpförtchen, das unbedingt zu einer Villa gehören mußte. Kinloch stieg, ohne sich lang zu besinnen – es war eigentlich doch schon sehr spät –, ein paar Stufen hinauf und zog die Klingel. Er hungerte jetzt derart nach dem Laut einer menschlichen Stimme, daß es ihm schon willkommen gewesen wäre, wenn jemand nur das Fenster aufgerissen und ihn angeschnauzt hätte. Aber selbst das geschah nicht. Es kam keine Antwort. Er läutete immer wieder und wieder, bis endlich der gespenstische, leere Widerhall der Klingel im Innern des Hauses ihn darüber belehrte, daß es zur Zeit unbewohnt sein mußte.

Wieviel Straßen er dann noch durchirrte, um endlich ein menschliches Wesen ausfindig zu machen, wußte er nicht. Aber eines vergaß er nie, den Augenblick, wo er, um eine Ecke biegend, gegen etwas stieß, was sich weich und menschlich anfühlte, gegen einen untersetzten, beleibten Mann in einem dicken Überzieher, dessen Kragen und Aufschläge mit Pelz besetzt waren. Der Mann wäre beinahe gefallen. Er packte Kinloch, um sich auf den Beinen zu halten.

»Verdammt!« brüllte er den Mann, der ihm so unerwartet in die Arme gelaufen war, wütend schüttelnd an. »Können Sie denn gar nicht sehen?«

Die Begegnung war so unerwartet, daß Kinloch nicht gleich Worte fand.

»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte er schließlich. »Aber ganz bestimmt sind Sie rascher gegangen als ich.«

Der Fremde war schon im Begriff gewesen, weiterzueilen, aber jetzt machte er halt.

»Hm, höflich sind Sie wenigstens. Sie haben mich wohl erkannt?«

Als Kinloch stockend ihm auseinandergesetzt hatte, was ihm fehle, stieß er ein sanftes Pfeifen aus. Dies war, wie sich gleich darauf zeigte, keineswegs ein Zeichen des Mitgefühls.

Er kam wieder näher. »Sie wissen wohl hier in der Gegend nicht Bescheid?« erkundigte er sich.

Kinloch fragte sich verwundert, wer der Mann wohl sein könnte, der es als selbstverständlich annahm, daß jeder, der ihm auf der Straße begegnete, ihn kannte. Dabei versuchte er zu erklären, daß er nicht nur die Gegend nicht kenne, sondern auch im Augenblick überhaupt nicht wisse, wo er sich befinde. Er werde, so fuhr er fort, äußerst dankbar sein, wenn man ihm den Weg nach der Eisenbahnstation zeigen könne.

Der beleibte Herr im Überrock antwortete zunächst gar nichts. Er schien da im Nebel mit sich selbst über irgend etwas zu Rate zu gehen.

»Ich kann Ihnen einen weitaus besseren Weg zeigen«, sagte er schließlich. »Sie sind gerade der Mensch, den ich brauche. Man könnte es beinahe für einen Fingerzeig der Vorsehung halten, daß wir uns getroffen haben. Jawohl, Herr. Mir ist es, als könnte ich darin den Finger Gottes entdecken, obwohl ich im allgemeinen nicht abergläubisch bin.«

Er schob seine Hand unter Kinlochs Arm. Die Hand zitterte so sehr, daß es Kinloch auffiel. Der Fremde war ganz ersichtlich in einem Zustand besonderer Erregung oder Besorgnis. Es war Kinloch unbehaglich. Er schüttelte die Hand ab.

»Sagen Sie mal, Herr, wir wollen zur Sache kommen. Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Eine geringfügige Gefälligkeit, für die ich viel bezahlen werde.«

»Wieviel?«

Der Mann im Pelzmantel zauderte. Für den verzweifelten Zustand Kinlochs ist es sehr bezeichnend, daß er sich nach der Höhe der Belohnung erkundigte, ohne erst zu fragen, welchen Dienst man eigentlich von ihm verlangte.

»Fünf Pfund für ungefähr 'ne kleine halbe Stunde. Das scheint reichlich genügend.«

Kinloch lachte. Die Aussicht, die sich ihm jetzt plötzlich bot, war überwältigend. Der beleibte Herr aber faßte das Lachen anders auf. Er hielt es anscheinend für Ironie.

»Fünf Pfund. Das ist doch gewiß genug«, meinte er.

»Das hängt von den Umständen ab. Ich hab' schon die eine oder andere halbe Stunde erlebt, die ich selbst für fünfhundert Pfund nicht noch einmal mitmachen möchte.«

»Aber hier handelt es sich bloß darum, in einem ruhigen Zimmer still auf einem Stuhl zu sitzen und mit ein paar Bogen Papier zu rascheln.«

Kinlochs Hoffnungen sanken auf den Nullpunkt. Er hatte den Eindruck, daß er es mit einem Irren zu tun hatte, freilich einem harmlosen Narren, der frei umher lief. Es war nicht anders möglich. Wer sonst würde auch in einer solchen Nacht zu Fuß unterwegs sein? Dann erinnerte er sich auch, daß der Fremde erwartet hatte, von ihm erkannt zu werden. Wahrscheinlich weil er sich in seiner Verrücktheit einbildete, sein Bild sei in allen Zeitungen. Jetzt wurde, was erst Vermutung gewesen war, für Kinloch zur Gewißheit, und dementsprechend sah er auch alle seine Hoffnungen zunichte werden.

Wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen«, meinte er in beschwichtigendem Tone, »will ich Sie nach Hause bringen. Ihre Familie wird schon beunruhigt sein.«

»Es ist Ihnen zu wenig?« fragte der Fremde. Sein Ton war scharf und nicht der eines Geistesgestörten.

Kinloch schüttelte den Kopf.

»Gewiß nicht! Im Gegenteil, es ist zuviel, außer wenn es sich dabei um eine zweifelhafte Angelegenheit handelt.«

»Es steckt nichts dahinter, worüber Sie sich Sorgen machen müßten. Wenn ich Ihnen soviel biete, so geschieht das, weil, wie ich offen zugeben muß, ich heute nacht keine geeignetere Persönlichkeit hätte finden können, und wenn ich ganz London abgesucht hätte. Kommen Sie! Die Zeit drängt. Sind wir einig?«

Aber sein Eifer, den er nur schlecht zu verbergen vermochte, weckte in Kinloch einen neuen Verdacht.

»Sie müssen mir schon die Sache etwas deutlicher erklären«, sagte er. Er wunderte sich selbst über sein Widerstreben, den Fremden zu begleiten.

Ein Ausruf der Ungeduld antwortete ihm.

Ein eigenwilliger, herrischer Mensch muß das sein, dachte Kinloch jetzt. Gewiß kein Irrsinniger im üblichen Sinn des Wortes. Es war ganz klar, daß der Fremde einen Ausbruch des Unwillens nur mit Mühe beherrschte, während der junge Mann sich unschlüssig mit dem Angebot herumschlug. Jetzt sprach er wieder, und es war ganz deutlich, daß er sich Gewalt antat, um gelassen zu bleiben.

»Ich habe eine wichtige Unterredung in meinem eigenen Haus. Es kommt jemand zu mir, mit dem ich etwas zu besprechen habe, und es ist von äußerster Wichtigkeit, daß eine dritte Person zugegen ist. Es handelt sich nicht darum, daß der Betreffende der Zusammenkunft als Augenzeuge beiwohnt, noch weniger soll er alles belauschen, was gesagt wird. Es soll lediglich meinem Besucher vor Augen geführt werden, daß ich nicht allein bin. Weiß Gott, von allen Leuten in England bin ich gewiß am wenigsten derjenige, der sich hilflos in eine Ecke drängen läßt, junger Freund. Darüber würden Sie sich sofort im klaren sein, wenn ich Ihnen meinen Namen nennen würde. Deshalb hatte ich auch – ich müßte das eigentlich erst gar nicht erwähnen – für einen Zeugen der Unterredung gesorgt. Der Mann hat mich aber im Stich gelassen. Der verdammte Nebel!« platzte er schnaufend heraus. »Chance ist drin verloren gegangen.«

»Chance?« wiederholte Kinloch verblüfft.

»Hab' ich Chance gesagt? Nun schön«, er lachte. »Es ist doch eine Chance, die Ihnen fünf Pfund in Aussicht stellt, mein Freund, und nötig haben Sie sie auch. Sind Sie jetzt endlich einverstanden?«

»Herr«, war die Antwort, »ich bin ein Mensch, der sich längst des größten Teils seiner Skrupel hat entledigen müssen. Und um in diesem Augenblick fünf Pfund zu verdienen, würde ich vieles tun.«

Ein kurzes Knurren des Herrn im Pelz zeigte in wenig taktvoller Weise dessen Zufriedenheit.

»Das hab' ich mir gedacht«, bemerkte er. »'n Gentleman, der ein bißchen aus dem letzten Loch pfeift. Just das, was ich brauche für mein Geld. Ich verstehe nicht, wieso Sie sich einen Augenblick besinnen konnten.«

Die plumpe Vertraulichkeit, die er plötzlich angenommen hatte, hatte aber eine ganz andere Wirkung als die, die er wahrscheinlich beabsichtigte.

»Ich habe gesagt, den größten Teil meiner Skrupel bin ich losgeworden. Unglücklicherweise sind mir aber zwei oder drei noch geblieben.«

»Nun, Mann, Sie können ganz beruhigt sein. Selbst wenn Sie soviel Skrupel hätten wie Ihre unverheiratete Tante – deshalb könnten Sie doch ruhig mitkommen. Ich engagiere Sie weder zu einem Einbruch noch zu irgendeiner Gewalttat. Sie bringen sich auch nicht in Gefahr, verhaftet zu werden. Ich bitte Sie ja in mein eigenes Haus – in meinen eigenen Angelegenheiten. Genügt das nicht zu Ihrer Beruhigung?«

»Durchaus«, stimmte Kinloch zu. Er atmete auf. »Solange die Polizei aus dem Spiel bleibt, sind mir fünf Pfund genug.«

Der Fremde faßte ihn wieder unter dem Arm und strebte eifrig mit ihm die Straße entlang. Kinloch zerbrach sich vergeblich den Kopf, was das Wort »Chance« bedeutete, das der andere vorhin gebraucht hatte. Gewiß, der Fremde hatte einen ungeschickten Versuch gemacht, das Wort nachträglich in einem anderen Sinn zu gebrauchen. Aber Kinloch war sich vollkommen darüber klar, daß es sich in Wirklichkeit um einen Namen handelte, und zwar um den Familiennamen des Mannes, dessen Aufgabe nun er selbst übernehmen sollte. Der Name war dem Fremden in einem Augenblick der Aufregung entglitten. Chance: der Name war recht ungewöhnlich. Man konnte ihn nicht leicht vergessen.

Auf alle Fälle schien der Herr im Pelzmantel besorgt, sich nicht noch mehr entschlüpfen zu lassen. Als sei er wütend auf sich selbst, blieb er völlig schweigsam, bis sie sein Haus erreicht hatten. Dann öffnete er mit seinem Schlüssel eine Tür, die – in Anbetracht des Umfanges des Gebäudes – unter gar keinen Umständen der Haupteingang sein konnte – und führte Kinloch durch einen Korridor in sein Arbeitszimmer. Der Raum war sehr lang und ziemlich schmal. Ein gewaltiges, prasselndes Feuer sandte ihnen seine Glut entgegen, als sie daran vorbei nach einer Nische gingen, die anscheinend bereits für Herrn Chance eingerichtet worden war. Diese Nische schien von einem großen halbrunden Erkerfenster gebildet zu werden, das wahrscheinlich auf den Rasen hinter dem Haus hinausging. Hier sah sich Kinloch also untergebracht, nachdem er vorher zunächst einmal über den Wandschirm gestolpert war, den man vor der Nische aufgestellt hatte, damit Herr Chance, beziehungsweise sein Vertreter, vom Zimmer aus nicht gesehen werden konnte – vielleicht auch, damit er nicht ins Zimmer hineinsehen konnte. Erst als Kinloch an dem Tisch hinter diesem Wandschirm saß, öffnete der Fremde wieder den Mund.

»Ihnen fällt in dieser Komödie nur eine stumme Rolle zu«, sagte er. »Sie haben nichts weiter zu tun, als in dem Augenblick, wo ich das Signal gebe, Ihre Anwesenheit bemerklich zu machen. In dem Augenblick rascheln Sie dann ein bißchen, als ob Sie mit geschäftlichen Papieren hantierten. Auf keinen Fall aber lassen Sie sich sehen oder öffnen Sie den Mund. Und merken Sie sich vor allem eines« – dabei bohrte er Kinloch seinen plumpen Zeigefinger in die Rippen –, »es ist sehr leicht möglich, daß ich das vereinbarte Signal überhaupt nicht gebe.«

»Was soll denn das für ein Signal sein?«

»Wenn ich dreimal mit dem Schürhaken aufklopfe«, gab der Fremde prompt zur Antwort. »Wir werden jetzt eine Probe veranstalten.«

Bei dieser Probe wurde sofort klar, daß alles von vornherein sorgfältig arrangiert worden war – es war sogar dafür gesorgt, daß der Mann den Schürhaken auch wirklich zur Hand hatte, wenn er ihn brauchte. Kinloch konstatierte es im stillen, während er auf dem Tisch umhertastete, um das Papier zu finden, mit dem er rascheln sollte. Als sein seltsamer Gastgeber zu ihm zurückkehrte, nachdem er dreimal laut und deutlich mit dem Schürhaken geklopft hatte, und Kinloch ihn darauf aufmerksam machte, daß er vergessen habe, für Papier zu sorgen, warf ihm der Fremde etwas zwischen die Finger.

»Da, probieren Sie das einmal. Ich denke, es wird in Ihren Ohren wie Musik klingen.«

Kinloch machte den Versuch, und es war wirklich ein prachtvolles Geräusch: das leise Knistern, das man von einer neuen, noch unabgegriffenen Note der Bank von England erwarten darf. Aber immerhin war, wie Kinloch bemerkte, das Geräusch nicht stark genug, um auf größere Entfernung vernehmlich zu sein. Ja, wenn gesprochen wurde, konnte es gänzlich überhört werden.

»Dann werden Sie eben husten. Natürlich, es ist heute eine rauhe und kalte Nacht. Warum sollte man da nicht husten? In der Tat, es ist vielleicht ganz gut, wenn Sie von Zeit zu Zeit husten – natürlich erst, wenn ich das Signal gegeben habe. Es wird meinen Besucher daran erinnern, daß noch ein Dritter zugegen ist.«

Und damit ließ der seltsame Gastgeber seinen Gast allein. Was er tat oder wohin er sich begab, wußte Kinloch nicht. In diesem Augenblick war es ihm auch gleichgültig, denn fast augenblicklich begann er sich in glühenden Farben auszumalen, wie er die unverhoffte Fünfpfundnote am besten anlegen könne. Er hielt den Geldschein noch immer zwischen den Fingern und brachte ihn zum Knistern. Der leise, raschelnde Laut sprach zu ihm wie eine aufmunternde Stimme. Für ihn stellte in diesem Augenblick dies Stück Papier einen phantastischen Reichtum dar. Er achtete nicht darauf, wie die Zeit verfloß.

Dann hörte er murmelnde Stimmen am entgegengesetzten Ende des Zimmers und fuhr zusammen. Eine Tür fiel ins Schloß. Kinloch entrang sich seinen Träumen, setzte sich aufrecht und spitzte die Ohren. Er hörte, wie Stühle umhergeschoben wurden, als wünsche man es recht bequem zu haben, bevor man sich endgültig an die Geschäfte setzte. Dann klirrten Gläser. Dies war ein Zeichen freundschaftlichen Verkehrs, und Kinloch hatte den Eindruck, als sei sein Wirt allzu furchtsam gewesen, wenn er sich einen Dritten zum Schutz ins Haus geholt hatte.

Geraume Zeit drang nur sehr wenig von dem, was gesprochen wurde, an Kinlochs Ohren. Die beiden Männer unterhielten sich halblaut in einem gleichmäßigen, gedämpften Murmeln. Entweder um den anderen eindringlicher überzeugen zu können, oder einfach, um Kinloch nicht hören zu lassen, was sie besprachen. Im übrigen dachte Kinloch nicht daran, sie zu belauschen. Sein einziger Gedanke war, das verabredete Signal nicht zu überhören, und die Belohnung, die man ihm schon ausgezahlt hatte, auch ehrlich zu verdienen. Er befand sich in einer Stimmung stiller Glückseligkeit, denn er hatte das bestimmte Gefühl, daß sein Schicksal von jetzt ab sich zum Besseren wenden würde – daß die schlimmste Stunde, die ihm beschieden gewesen, vorbei war. So saß er hinter seinem Wandschirm. Die Hand, in der er noch immer die Banknote hielt, bewegte sich nicht. Er wagte nicht mehr, damit zu spielen, um nicht vorzeitig seine Anwesenheit zu verraten. Und da seine Kleider vom Nebel durchnäßt waren, mußte er sich sehr Gewalt antun, um den Husten niederzukämpfen, der in diesem Augenblick durchaus noch nicht erwünscht gewesen wäre. Dann wurde ganz plötzlich das Gespräch der beiden hitzig und erregt. Eine der beiden Stimmen wurde unvermittelt laut und durchdringend, als wollte man Kinloch darauf aufmerksam machen, daß der kritische Augenblick heranrücke.

»Ah, Sie denken also, Sie haben mich in die Enge getrieben?«

Blitzgleich kam Kinloch ein Gedanke. Er glaubte die Situation jetzt zu verstehen. Der Besucher war ein Erpresser!

»Das hängt ganz von Ihnen selbst ab«, kam die Antwort.

»Wieso?«

»Na, na, für einen Mann von Welt wie Sie, ist das wirklich eine Frage, die zu stellen sich erübrigt.«

»Ah so? Sie erübrigt sich? Ja, wirklich, es kann schon sein – wenigstens einem Teufel gegenüber, wie Sie einer sind.«

»Von Teufel kann hier nicht die Rede sein«, sagte der andere. »Ich bin weder Teufel noch Engel. Ich bin nichts als ein schlichter Geschäftsmann und durchaus bereit, mich mit Ihnen zu einigen. Tun Sie doch nicht so, als ob Ihnen bei dieser Sache irgend etwas überraschend käme.«

»Keineswegs. Ich war darauf gefaßt.«

Kinloch fand in der Art, wie diese Worte hervorgestoßen wurden, etwas Unheildrohendes. Aber als Antwort kam nur ein gelassenes Lachen.

»Na also, dann wär' es am besten, wir würden jetzt sofort an die geschäftliche Seite der Sache herantreten.«

Die drei letzten Worte begleitete ein dreimaliges Aufklopfen, dessen einzelne Schläge genau hörbar waren. Kinloch reagierte sofort in der Art, wie es vorher mit ihm besprochen worden war.

»Was war das?«

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, stieß jetzt Kinloch noch ein Husten aus, das ihm über Erwarten echt gelang. Er hörte, wie sein Arbeitgeber in selbstzufriedenem Ton antwortete:

»Wir sind hier nicht allein. Auch ich habe meine kleinen Vorbereitungen für unsere heutige Zusammenkunft getroffen.«

Wieder gähnte eine Pause im Gespräch. Der Fremde schien bemüht, sich in der neuen Situation zurechtzufinden, die durch die Gegenwart eines Dritten geschaffen war. Er brauchte aber nicht lange dazu.

»Donnerwetter, das also ist Ihr kleiner Trick, was? Aber diesmal sind Sie damit an den Unrechten gekommen!«

Plötzlich hörte Kinloch das eilige Scharren und Trampeln von Füßen. Gläser prasselten auf den Boden, und gleich darauf folgte das Poltern eines umgeworfenen Tisches.

Ein wilder Schrei: »Hände weg! Hände weg!«

Das entsetzte Kreischen gab Kinlochs Nerven einen Ruck. Er sprang auf. Er hörte das Geräusch eines Kampfes, Stühle stürzten um. Der dicke Teppich dämpfte den Lärm. Kinloch war sich irgendwie bewußt, daß der Mann, der ihn für diesen Abend gemietet hatte, hilferufend auf sein Versteck zutaumele. Doch beinahe noch, ehe er fähig war, ein Glied zu rühren, drang ein Geräusch an seine Ohren, das er wiedererkannte, ein Ton, der den Gehörsnerven unerträglicher noch ist als jeder Schrei, den Schmerz oder Furcht erpressen können – ein seltsames, müdes Aufseufzen – und gleich darauf der Fall eines schweren Körpers, der wie ein Sack zu Boden plumpst. Im Dunkeln machte Kinloch einen Satz nach vorwärts, stolperte in den Wandschirm hinein, stürzte bei dem Versuch, das Gleichgewicht wieder zu gewinnen, nach vorn über, verfing sich in den Beinen eines Stuhls und schlug, mit dem Kopf voran, auf den Boden. Während er mit den Händen hastig um sich tastete, um seinen Spazierstock wieder zu erwischen, der ihm als Waffe dienen sollte, gerieten seine Hände in etwas Warmes, Feuchtes, Klebriges.

»Ah, die Ratte verläßt ihr Loch!« höhnte eine Stimme.

Kinloch wußte sofort, daß der Fremde auf ihn losging. Er schien aber lange zu brauchen. Er ging langsam, als ob er selbst eine Verletzung davongetragen habe, oder als ob die umgestürzten Möbel ihm im Weg seien.

Kinloch schob sich in fieberhafter Hast an der Wand entlang. Ihn trieb die schwache Hoffnung, rechtzeitig noch eine Tür oder ein Fenster zu finden. Er hörte seinen Gegner dicht hinter sich, aber ein instinktiver Ruck zur Seite half ihm, den gierig ausgestreckten Händen zu entrinnen, und er setzte seine Flucht weiter fort. Es war jetzt still im Zimmer, so still, daß Kinloch im Dunkeln die raschen Atemzüge des Verfolgers und den unterdrückten Fluch hören konnte, den sein unerwartetes Entrinnen hervorrief. Jawohl, anscheinend hatte sich der Mann bei dem Kampf selbst verletzt. Sein leiser, schleichender Schritt klang ungleichmäßig.

Ein gellender Schrei zerriß unvermutet plötzlich die Stille:

»Tu's nicht! Oh, tu's nicht!«

Das war eine Frauenstimme. Der schrille, beschwörende Ruf, der Kinloch verriet, was er nie vermutet hatte: die Gegenwart einer Frau ließ ihn plötzlich anhalten. Im selben Augenblick fiel der Mann über ihn her. Seine Finger krallten sich in Kinlochs Haar, rissen ihm den Kopf nach rückwärts. Der Kerl verfügte über die Kräfte eines Irrsinnigen.

In diesem grauenvollen Augenblick brach Kinlochs Mut zusammen. Er wimmerte um Gnade, wiederholte stammelnd den flehenden Ruf der fremden Frau.

»Nicht! Nicht! Sehn Sie mich doch an, ich bin –«

Aber ein schwerer Schlag schmetterte krachend auf seinen Schädel nieder. Ein blendender Blitz zuckte durch sein Hirn, und er fiel wie ein Sack zu Boden.


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