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Siebzehntes Kapitel

Die Gewißheit, die aus McNabs Stimme sprach, war nicht zu verkennen. Er war, wie ich mit einemmal merkte, überzeugt, daß der verkleidete Blinde Kinloch sei. Die Plötzlichkeit dieser Erkenntnis raubte mir fast den Atem. Die ganze Bayswater Road hinunter versuchte ich mir die Bedeutung der Tatsache zu vergegenwärtigen, insbesondere, was sich daraus für die weitere Entwicklung des Falles ergab. Denn wenn McNab sich nicht getäuscht hatte, standen wir wohl am Vorabend weiterer bedeutungsvoller Entdeckungen.

Wie es ihm gelungen war, die Verkleidung dieses Menschen zu durchschauen, vermochte ich mir nicht vorzustellen. Wie ich schon gesagt habe, hatte die Redeweise des Blinden in meinen Ohren den Eindruck des unverfälschtesten Londoner Dialekts gemacht. Und der Vergleich zwischen seinem Haar und der Strähne, die im Mordzimmer in Ealing gefunden worden war, besaß bei weitem keine entscheidende Beweiskraft, selbst wenn McNab die vollständige Übereinstimmung der Haarfarbe festgestellt haben sollte. Dunkles Haar ist ja keineswegs sehr selten. Ebensowenig konnte McNab seine Gewißheit aus den Fingerabdrücken schöpfen, denn er hatte ja noch keine Zeit gehabt, sie zu untersuchen, und gewiß noch keine Gelegenheit, sie mit denen zu vergleichen, die an dem zerbrochenen Glas im Mordzimmer gefunden worden waren. Um diesen Vergleich zu ermöglichen, bedurfte es erst eines Besuchs im Archiv für Fingerabdrücke in Scotland Yard.

Wie man sich erinnern wird, war McNab der Ansicht, daß unter Umständen die Fingerabdrücke an diesen Scherben von Kinloch und nicht – wie Inspektor Snargrove meinte – von dem Mörder herrühren konnten. Hinsichtlich dieses Problems fand ich mich zu meinem eigenen Bedauern wieder einmal genötigt, mich der Ansicht Snargroves anzuschließen, obwohl aus anderen Gründen als denen, die für Snargrove ausschlaggebend gewesen waren. Ich vertrat die Ansicht, daß Kinloch, der ja blind war, das Glas auf dem Tisch sehr viel weniger leicht gefunden haben könnte, als der Mörder, der es sehen konnte. Dies schien eine sehr vernünftige Ansicht, aber McNab schob sie zur Seite und erklärte, daß, wenn schon Kinloch nicht fähig war, den Whisky oder das Glas zu sehen, man sich doch vor Augen halten müsse, daß Kinloch ein Schotte sei und immer noch eine Nase besitze. Das war natürlich nichts weiter als ein Scherz. Er pflegte immer derartige Dinge zu sagen, wenn er aus irgendeiner Veranlassung die wirklichen Gründe vor mir verbergen wollte, die ihn zwangsläufig zu der einen oder anderen Schlußfolgerung geführt hatten. Gut! Aber wenn jetzt McNab zu den Leuten von Scotland Yard hinaufkam mit einer Reihe Fingerabdrücke, die sozusagen der genaue Abklatsch derjenigen waren, die bereits bei den Akten über den Mord in Ealing lagen, dann war es recht wahrscheinlich, daß man ihm Fragen stellen würde, die nicht mit einem einfachen Scherz abzutun waren. Wo – so würde man fragen – hatte er diese Fingerabdrücke erlangt – die Fingerabdrücke des Mannes, der als Urheber des Mords in Ealing gesucht wurde? Lieber Gott, ganz Scotland Yard mußte in Bewegung geraten wie ein aufgestörtes Wespennest. Bestand aber im Gegenteil zwischen den zwei Arten Fingerabdrücken keine Übereinstimmung, was konnte dann McNab von diesen neuen Fingerabdrücken für einen Nutzen haben? Soweit ich es beurteilen konnte, nicht den geringsten. Denn wenn es nicht bereits eine authentische Festlegung von Kinlochs Fingerabdrücken gab, waren die, die wir dem angeblichen Dick Hollins abgelistet hatten, völlig nutzlos – da sie für die Identität zwischen Dick Hollins und David Alexander Kinloch nichts beweisen konnten. Mehr als je war es mir rätselhaft, warum McNab so felsenfest davon überzeugt sein konnte.

Jedenfalls konnte ich persönlich noch nicht recht daran glauben, daß Hollins nur eine Maske sein solle. Als das Auto am Marble Arch wegen einer Verkehrsstockung halten mußte, benutzte ich die Gelegenheit, um McNab dies anzudeuten. Ich tat es auch durchaus nicht schonend, denn ich wollte ihn aus seinem zufriedenen Schweigen wecken. Er drehte sich nach mir um und legte mir eine Hand aufs Knie.

»Du mußt lernen, besser zu beobachten, mein Sohn. In deinem Beruf ist das von beinahe ebenso entscheidender Bedeutung wie in meinem. Wenige Leute verstehen zu beobachten. Die meisten können sehen, aber die wenigsten können durch die Dinge hindurchsehen.« Er machte eine Pause und fügte dann, wie ein Zitat, hinzu: »›Sie betrachten das, was ich betrachte, aber sie erblicken nicht, was ich erblicke.‹«

»Heute bist du einmal ein erstklassiger Gehilfe gewesen«, fuhr er fort. »Ich legte großen Wert darauf, daß der Mann auf keinen Fall meine Stimme hört, ja, daß er nicht einmal weiß, daß noch jemand anwesend war. Aber du hast sehr geschickt seine ganze Aufmerksamkeit mit Beschlag belegt, und hast ihm gezeigt, daß du glaubst, er wäre, was er zu sein vorgab.«

»Weil ich's wirklich glaubte. An seinem Dialekt war nicht das geringste auszusetzen.«

»Oh, den Akzent zu treffen, ist sehr leicht. Es handelt sich schließlich nur darum, ein paar Konsonanten und Vokale schlecht auszusprechen. Aber nicht der Akzent ist's, was den Dialekt unserer niederen Klassen ausmacht, sondern der eigentümliche Wortschatz. Und die Dialektausdrücke, die er anwandte, waren alle falsch gebraucht. Aber das war es nicht allein. Er hat dir vorgelesen. Ich gebe zu, es war geschickt gemacht, man hätte es für den echten Londoner Akzent halten können, wenn man nicht, wie ich in diesem Falle, sehr argwöhnisch ist. Trotz alledem hat er allerlei schwere Fehler gemacht.«

»Erzähl mir doch, wieso. Auch ich hatte die Ohren gespitzt und konnte nichts entdecken.«

»Und doch lag es sehr nahe. In dem, was er las, kam mehrere Male das Wort ›Lord‹ vor, und jedesmal hat er das ›r‹ ausgesprochen.«

»Aber«, entgegnete ich, »es ist doch ein ›r‹ in dem Wort ›Lord‹.«

»Stimmt schon, aber kein echter Londoner spricht es wirklich aus.« McNab lachte. »Ihr Engländer behandelt heutzutage alle den Buchstaben ›r‹, als sei er ein Eindringling aus Schottland. Ihr zeigt ihm die kalte Schulter. Du willst es leugnen? Schön. Wir wollen bei dem Wort ›Lord‹ bleiben. Du besuchst doch auch Gerichtsverhandlungen? Nun, sage, hast du je gehört, daß der Verteidiger den Gerichtsvorsitzenden anders anredet als: ›M'lud‹ statt ›Mylord‹.«

Und als ich mich zu einem Protest anschickte, fügte McNab lachend hinzu: »Oh, ich weiß schon, ihr bildet euch ein, ihr sprecht das ›r‹ aus, aber es ist eine Täuschung eurrrerseits. Aber darüber gibt's keine Täuschung, daß der Blinde das ›r‹ ausgesprochen hat. Ohne Zweifel hast du's selbst gehört.«

»Ja, er hat sogar drei ausgesprochen, wo nur eines hingehörte«, sagte ich boshafterweise.

»Das meinst du, aber es ist ihm durchaus nicht eingefallen. Er hat ein einziges ›r‹ ausgesprochen, aber mit genügender Genauigkeit und Deutlichkeit, um mir den Beweis zu liefern, daß er nicht nur kein Londoner ist, sondern ein Schotte.«

»Und die Farbe seines Haares hat dich zur Überzeugung gebracht, daß er Kinloch ist?«

»Die allgemeine Beschaffenheit noch mehr als bloß die Haarfarbe. Es gibt größere Variationen in der Beschaffenheit des Haares als in der Farbe. Ich hielt die in Ealing gefundene Haarsträhne dicht an seinen Kopf und konnte feststellen, daß sowohl die Farbe wie die Beschaffenheit des Haares vollständig übereinstimmten. Aber das war noch nicht alles. Während du seinen Hut in Händen hattest, hatte ich die Möglichkeit, seinen Kopf genau zu betrachten. Du erinnerst dich an die Photographie Kinlochs in Uniform? Auf dem Bild trägt er die Schottenmütze, die mehr von der Stirn frei läßt als irgendeine andere Kopfbedeckung. Das war ein sehr günstiger Umstand. Denn von allen Teilen des menschlichen Gesichts ändert sich die Stirn am wenigsten, noch weniger als die Augen, die ich ja natürlich nicht sehen konnte. Als ich mir vorhin seine Stirn ansah, konnte ich die Identität als nachgewiesen betrachten. In der Form, in der Modellierung, in der Art des Haaransatzes an den Schläfen und über der breiten geraden Stirn erkannte ich die Wahrheit – ich hatte den Mann, den ich suchte, endlich entdeckt.«

McNabs Augen funkelten. Sein sonst bleiches Gesicht hatte einen Anflug von Farbe bekommen. Sein Triumphgefühl war größer, als er es sich sonst gestattete, und ich wunderte mich nicht darüber.

Als wir uns der Redaktion näherten, wo er mich absetzen wollte, fragte ich:

»Was wirst du mit ihm machen?«

»Mit Kinloch?«

»Ja, vielleicht weigert er sich, dir auch nur das geringste mitzuteilen, oder er erzählt dir irgend etwas, was er sich zurechtphantasiert hat.«

»Ich habe nicht die Absicht, ihn das geringste zu fragen. Ich werde ihn unbehelligt sitzenlassen, wo er jetzt sitzt. Er weiß besser als wir, ob er Aussicht hat, die Leute zu finden, die er zu treffen wünscht. Er sitzt dort ja nicht zu seinem Vergnügen. So werde ich ihn ruhig sitzenlassen und sehen, was dabei herauskommt. Er wird uns, ohne es zu wissen, als Köder dienen, um den wichtigeren Fang zu tun, nach dem wir unsere Angel auswerfen.«

»Du beabsichtigst also, ihn überwachen zu lassen?«

»Natürlich. Ehe noch eine Stunde vorbei ist, wird dafür gesorgt sein. Hinter ihm werden zwei Gärtner mit Jäten und Umgraben der Erde beschäftigt sein. Ein Anstreicher wird an dem Gittertor arbeiten, das sich rechts von ihm in nächster Nähe befindet, und wenn du heute nachmittag um fünf zufällig dort vorbeikommen solltest, so wirst du entdecken, daß sich ein Streichholzverkäufer, keine fünf Meter zur Linken, unter dem überhängenden Baum etabliert hat. Also, da bist du angelangt.«

Wir waren vor der Redaktion vorgefahren, und er öffnete den Wagenschlag. Nur widerstrebend stieg ich aus. Es gab so viel, das ich erfahren wollte.

Aber Matheson sorgte dafür, daß ich an diesem Tag keine Gelegenheit mehr hatte. Matheson hatte in der letzten Zeit für die Ealinger Affäre nicht viel mehr übrig. Sie hatte sich bis jetzt für die Zeitung von sehr geringem Wert erwiesen.

»Die Blinden suchen nach einem Blinden!« hatte Matheson eines Tages vor sich hingemurmelt, nachdem er mich über den Stand unserer Nachforschungen ausgefragt hatte. Ich hätte ihm genug erzählen können, um sein Interesse wieder zu wecken, aber meine Lippen waren versiegelt. Die Geheimnisse, um die es sich handelte, waren nicht meine eigenen, sondern die Geheimnisse McNabs, in dessen Dienst Matheson selbst mich gestellt hatte. Ja, als die Affäre sich ihrem Ende zuneigte, bekam ich zu spüren, daß ich mich zwischen McNab und Matheson wie zwischen zwei Mühlsteinen befand. Matheson war natürlich dafür, möglichst viel zu veröffentlichen, während McNab instinktiv dazu neigte, alles für sich zu behalten. So ging es zwischen den beiden immer: »Hinüber – Herüber«, und ich war der Strick, an dem sie zogen. An diesem Abend aber hatte entschieden Matheson die Oberhand, denn kaum hatte ich meinen üblichen Nachrichtendienst erledigt, als er mir, ehe er selbst die Redaktion verließ, noch so viel Extraarbeit gab, daß ich bis nach Mitternacht festsitzen mußte. Und dabei wußte ich, daß während der ganzen Zeit McNab unterwegs war, um die letzte Hand anzulegen und die Falle herzurichten, mit der er den großen Fang zu tun gedachte.

Gegen neun Uhr – ich hatte mich eben gerade damit abgefunden, eine Arbeit zu erledigen, die unser unerfahrenster Volontär ebensogut hätte leisten können – wurde ich ans Telephon gerufen, und es war – McNab. Kaum hatte ich seine Stimme gehört, als ich bereits wußte, daß etwas Neues im Anzug war.

»Bist du's, Chance? Komm sofort herüber. Es ist etwas passiert.«

»Was?« rief ich unwillkürlich, ganz vergessend, daß er sich weigern würde, mir's durchs Telephon zu sagen. Zu meiner Überraschung aber antwortete er mit einer Stimme, die so leise war wie ein Hauch:

» Sie hat ihn gesehen

Im ersten Augenblick konnte ich nicht begreifen, was es bedeutete.

»Meinst du Kin …«

»Ja. Mach, daß du 'rüberkommst. Ich erwarte Howley jeden Augenblick.«

Prompt übergab ich meine Arbeit dem unerfahrenen Volontär. Während ich zu McNab hinübereilte, erinnerte ich mich auch, wer Howley war. Es mußte der Name des intelligenten Polizisten sein, der McNab durchs Telephon von dem Blinden am Enderby-Garten berichtet hatte.

Als ich anlangte, war er noch nicht erschienen, aber McNab erzählte mir inzwischen, was er selbst wußte. Er war gerade heimgekommen, als Howley ihn vom Revier aus anrief. In beinah entschuldigendem Ton hatte der Polizist gesagt, da wir uns bei ihm nach dem Blinden im Enderby-Garten so eingehend erkundigt hätten, werde es uns vielleicht doch auch nicht unwichtig sein, zu erfahren, daß andere Personen ebenso interessiert erschienen. Zunächst glaubte McNab daraufhin, daß Inspektor Snargrove schließlich doch die richtige Fährte gefunden hätte, oder daß die Leute, die er mit der Überwachung Kinlochs beauftragt hatte, irgendeine Ungeschicklichkeit begangen hätten. Aber dann hatte Howley ihm mitgeteilt, eine Dame scheine bei der Sache im Spiel zu sein – und der verblüffende tatsächliche Sachverhalt kam zutage. Dicht bei der Stelle, wo der Blinde sich aufzuhalten pflegte, hatte sich ein Vorfall abgespielt, ein äußerst merkwürdiger Vorfall, der den Polizisten veranlaßt hatte, einzugreifen. Howley war nach seiner Aussage, von Westen her kommend, gegen zwölf Uhr dreißig in die Nähe des Gartens gelangt, als er einen Schrei hörte – eine weibliche Stimme. Beim Näherkommen sah er eine Dame, die sich gegen die Einzäunung des Gartens lehnte und von einem Mann, anscheinend ihrem Begleiter, gestützt wurde. Um die beiden hatten sich ein paar vereinzelte Neugierige angesammelt. Howley hatte dem Herrn geholfen, die Dame in einem zufällig vorbeikommenden Taxameter unterzubringen, und der Herr und die Dame waren miteinander weggefahren. Die Dame schien vollständig zusammengebrochen.

»Aber wo kommt dabei der Blinde ins Spiel?« fragte ich.

»Ich konnte nicht recht verstehen, was Howley dazu sagte. Das ist der Hauptgrund, warum ich ihn heraufgebeten habe. Aber beachte die Zeit, zu der sich der Vorfall zugetragen hat – zwölf Uhr dreißig, das war ungefähr zwei Stunden, ehe wir selbst bei ihm waren und seine Fingerabdrücke nahmen. Das ist die merkwürdige Seite der Sache. Es ist natürlich möglich, daß es sich um einen reinen Zufall handelt, wenn die Dame gerade an dieser Stelle einen Ohnmachtsanfall erlitt. Und von Howley habe ich erfahren, daß die beiden mit dem Blinden nicht im geringsten in Berührung gekommen sind. Kinloch konnte ja auch gar nicht sehen, was vorging. Um so mehr Grund liegt vor, zu hören, was Howley veranlaßt hat, die Ohnmacht der Dame mit dem Blinden in Beziehung zu bringen. Es kommt noch ein anderer Punkt hinzu. Um 8.35 hat Jenkins, das ist mein Zündholzverkäufer – mich angeklingelt und mir berichtet, er sei dem Blinden heimlich bis zu seiner Wohnung in Hollis Street gefolgt und sei eben erst zurückgekehrt. Jenkins war einigermaßen verstimmt. Ich hatte ihn nämlich im Glauben gelassen, seine Aufgabe werde um ungefähr fünf Uhr zu Ende sein. Der Blinde ist aber beinah bis acht Uhr auf seinem Posten geblieben. Das ist wieder ein Grund dafür, daß wir unbedingt mit Howley sprechen müssen. Wenn es sich um einen Ausnahmefall handelt, ist es sehr wichtig angesichts des Vorfalls, der sich früher am Tage zugetragen hat.«

»Es sieht aus, als habe er erwartet, daß die Frau noch einmal zurückkommt.«

»Gewiß, wenn es sich herausstellt, daß es sich bei seinem Längerbleiben wirklich um eine Ausnahme handelt. Und es scheint, daß wir Kinloch eben noch im letzten Augenblick erwischt haben. Einen Tag später, und es wäre vielleicht zu spät gewesen. Aber erwischt haben wir ihn bei alledem. Er kann uns nicht durch die Finger schlüpfen. Tag und Nacht wird er unter Überwachung stehen. Die Aufgabe wird übrigens durch seine Blindheit sehr erleichtert.«

»Du hast einen Posten aufgestellt, der seine Wohnung die ganze Nacht überwacht?«

»Ich habe eine bessere Maßnahme getroffen, die weniger auffällt. Mein Zündholzverkäufer ist in demselben Logierhaus untergebracht. – Wahrscheinlich sogar in dem Bett, das seinem benachbart ist.«

Ich dachte gerade daran, wie leicht jetzt alles war und wie unmöglich es unter diesen Umständen einem Blinden sein mußte, zu entwischen, ja überhaupt zu merken, daß er beobachtet wurde, als es an der Tür klopfte und Howley hereingeführt wurde.

Der Polizist war ein frischer Kerl mit klaren Augen und einer gesunden Gesichtsfarbe und dem üblichen kräftigen Körperbau. Obwohl er jetzt nicht seinen Dienstanzug trug, konnte man sich nicht darüber täuschen, was sein Dienst war. Bolzenstracks aufgerichtet, auf der äußersten Kante eines Stuhls sitzend, berichtete er die Tatsachen, die ich schon von McNab erfahren hatte. Erst als McNab Fragen stellte, kam allerlei bisher nicht Gehörtes zutage.

»Was hat Sie zu der Annahme veranlaßt, daß die Dame sich irgendwie für den Blinden interessierte?« fragte McNab.

»Nun, hauptsächlich die Art, wie sie den Blinden unentwegt über die Schulter des Herrn weg anstarrte, als ich behilflich war, sie in den Wagen zu bringen.«

»Sie wollte wohl nicht gern weg.«

»Ja, und trotzdem starrte sie den Blinden immerzu an, als ob er ein Geist wäre, möcht' ich sagen. Ich habe deshalb den Herrn auch gefragt, ob er gegen den Blinden irgendwelche Beschwerden habe.«

»Was hat er geantwortet?«

»Er hat nichts geantwortet – bloß gelächelt hat er.«

»Haben Sie sich einen Begriff darüber machen können, in welcher Beziehung der Herr zu der Dame stand? Hatten Sie zum Beispiel den Eindruck, daß es Mann und Frau waren?«

Howley schien einen Augenblick unschlüssig.

»Nein, Herr, in dem Augenblick habe ich mich nicht danach gefragt, aber jedenfalls kann ich sagen, daß sie miteinander auf intimerem Fuß gestanden haben, denn sie gebrauchte seinen Vornamen.«

»Oh, und wie lautete der?« fragte McNab.

»Sie hat ihn mit Sandy angeredet. Mehrere Male hat sie ganz leise gesagt, so wie ich jetzt: ›Oh, Sandy‹, beinah ihm ins Ohr, während sie nach dem Blinden hinsah, als hätte sie Angst.«

McNab wechselte mit mir einen raschen Blick.

»Ah, ich versteh' schon.« Seine Stimme verriet Enttäuschung. Dann fuhr er fort: »Und der Blinde – glauben Sie, daß er die Worte gehört hat?«

Howley war sichtlich überrascht.

»O nein. Sie hat den Namen nur geflüstert. Und obwohl ich mich um die Dame kümmerte, behielt ich den Blinden in diesem Augenblick doch scharf im Auge, da ich annahm, daß er den beiden lästig geworden ist, als sie an ihm vorbeigingen. Der Blinde hatte aufgehört zu lesen und sein Gesicht in unserer Richtung gedreht. Wenn er auch natürlich nichts sehen konnte, hatte er wohl aus dem Geräusch und den Schritten in seiner Nähe entnommen, daß dicht bei ihm irgend etwas vorging – er schien sehr aufmerksam zu horchen.«

»Ein dramatischer Moment das, was, Chance?« meinte McNab, mir vielsagend zunickend.

Und wenn – wie jetzt fast erwiesen schien – er mit seiner Behauptung recht hatte und der Blinde Kinloch war – Kinloch auf der Suche nach jener Frau –, dann war es gewiß eine spannende Situation.

»Sagen Sie, Wachtmeister«, meinte McNab nach einer langen Pause, »sind Sie ganz sicher, daß zwischen dem Blinden und der Dame keinerlei Verständigung erfolgt ist?«

Howley schien über die Frage ganz verblüfft.

»Sicher nicht, solange ich an Ort und Stelle war. Was vorher geschehen ist, kann ich natürlich nicht sagen. Der ganze Vorfall, bis die beiden Herrschaften im Auto wegfuhren, hat höchstens zwei oder drei Minuten in Anspruch genommen.«

»Haben Sie gehört, welche Adresse der Herr dem Chauffeur gegeben hat?«

»Jawohl, Herr. Belgravia, Brook Street 3.«

McNab ließ sich am Tisch nieder und zog einen Notizblock zu sich heran. Howley schien die Gründlichkeit, mit der er ausgefragt wurde, zu verblüffen, ja allmählich wurde sie ihm unbehaglich. Aber aus der nachlässigen Art, in der McNab den Notizblock an sich zog, hätte selbst ich, wäre ich nicht eingeweiht gewesen, nicht entnehmen können, daß er im Begriff stand, die erste genaue Adresse niederzuschreiben, die überhaupt je in Verbindung mit dem Ealinger Mord ermittelt worden war.«

»Und die Nummer des Taxameters?« fragte er.

Howley hatte sie nicht gesehen. Da McNab die Augenbrauen etwas hochzog, erklärte er eingehender, er sei mit der Bemühung, der Dame in den Wagen zu helfen und die neugierigen Zuschauer zurückzuhalten, zu sehr beschäftigt gewesen, um auf die Nummer zu achten. Es sah aus, als ob wir wieder einmal auf dem besten Weg zum Erfolg ein Hindernis gefunden hätten. Howley, der nachdenklich auf seine Stiefel hinunterstarrte, machte schließlich zögernd den Vorschlag, sich die Nummer zu verschaffen. Auf Grund eines anderen Vorfalls, der sich kürzlich zugetragen hatte, wußte er, daß der Chauffeur des betreffenden Wagens gewöhnlich an einem Halteplatz der Campden Hill Road auf Fahrgäste zu warten pflegte. McNab griff wieder nach dem Bleistift und notierte die Einzelheiten, die der Beamte angab. Währenddessen bemächtigte ich mich des Adreßbuchs und schlug den Abschnitt Belgravia, Brook Street auf. Wie ich feststellte, war Brook Street eine kurze Wohnstraße hinter Grosvenor Place. Als Bewohner von Nummer drei war ein Dr. med. Christopher Agate angegeben. Das war ein neuer Fingerzeig für mich. Ich schlug jetzt das Ärzteadreßbuch auf, von dem McNab ein Exemplar besaß, und ermittelte, daß Agate, nach Studien in London, im Jahre 1903 in Cambridge seinen akademischen Grad erworben hatte, daß er dann Militärarzt in Indien war, und daß er im Jahre 1909 im British Medical Journal eine Reihe von Artikeln über Militärhygiene veröffentlicht hatte.

Im Begriff, diese Fülle von Informationen niederzuschreiben, stockte ich, denn ich hörte McNab sagen:

»Und nun, Wachtmeister, können Sie uns gewiß eine ziemlich genaue Beschreibung des Herrn und der Dame geben.«

Das konnte Howley. Soweit war seine Aufmerksamkeit nicht durch andere Dinge abgelenkt worden. Er hatte sogar die Einzelheiten in seinem Notizbuch niedergeschrieben. Als seine mächtige Hand in der Tasche verschwand und das Buch herausfischte, und als er nun begann, die Seiten umzublättern, begann mein Puls plötzlich schneller zu schlagen. Endlich bekam man etwas von dem Mann hinter der Szene, von dem wirklichen Mörder, zu sehen. Howley hatte die richtige Seite gefunden und räusperte sich.

»Größe ungefähr fünf Fuß, elf Zoll. Alter zwischen fünfunddreißig und vierzig. Gesichtsfarbe bleich. Augen schwarz, beweglich. Dunkles Haar und stark gestutzter Schnurrbart. Gesichtszüge regelmäßig, kleiner Mund mit schmalen Lippen. Haltung aufrecht. Macht den Eindruck eines Soldaten in Zivil. Kleidung: elegant geschnittener brauner Straßenanzug mit dazu passendem weichen Hut.«

Howley blickte von seinem Notizbuch auf, vermutlich um zu sehen, ob seine Mitteilungen uns irgend etwas zu sagen hatten. McNab, der schweigend dasaß, schien bemüht, sich eine Vorstellung von dem Geschilderten zu machen. Ich erinnerte mich daran, wie McNab auf der Redaktion seinerzeit Matheson erklärt hatte, er sei überzeugt, der Mörder gehöre einer höheren Gesellschaftsschicht an, und höchstwahrscheinlich sei sein Porträt schon einmal in den Spalten des »Record« veröffentlicht worden. Wenn es aber McNab gelang, aus dem Bericht des Polizisten irgendwelche Anhaltspunkte zur Identifizierung des Mörders zu entnehmen, so brachte er mehr fertig, als ich vermochte. Diese Beschreibung war jedenfalls bei weitem nicht individuell genug. Sie hätte auf Hunderte von Personen gepaßt, und wenn sie überhaupt etwas nutzen konnte, dann eher, weil sie eine Reihe von Personen ausschloß, als weil sie auf ein bestimmtes Individuum hindeutete. Jedenfalls machte mir McNab nicht den Eindruck, als ob ihm die Beschreibung viel nütze. Das zeigte schon die Art, wie er dasaß, gedankenvoll zusammengeduckt, die Stirn gerunzelt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die langen dünnen Finger in seinem bereits schon reichlich zerrauften Haar vergraben.

»Und die Frau?« sagte er schließlich.

Howley zögerte, rieb sich nachdenklich sein eckiges Kinn und blickte mit wenig Zuversicht in sein Notizbuch.

»Ich habe sie mir natürlich gut angesehen«, sagte er, »aber ich habe mir keine Aufzeichnungen gemacht. Sie war so aufgeregt, daß es eigentlich schwer ist, zu sagen, wie sie gewöhnlich aussieht. Selbst die Größe zum Beispiel, Herr – es ist bei einer Frau schwer zu beurteilen, wie groß sie ist, wenn sie sich in halber Ohnmacht an jemand lehnt.«

McNab nickte.

»Machen Sie ruhig mal die Augen zu und beschreiben Sie die Frau, wie Sie sie vor sich sehen.«

Howley folgte dem Rat wenigstens so weit, daß er mit zusammengekniffenen Lidern auf seine Stiefelspitzen hinunterstarrte.

»Jung«, verkündete er, »ziemlich groß, aber ziemlich schmal. Sie trug ein marineblaues Kostüm, einen kleinen Hut und helle Strümpfe.«

»Und wie sah sie aus?«

»Schlecht. – Wie ich schon gesagt habe – als hätte sie ein Gespenst erblickt.«

»Ja, aber würde man sie unter normalen Umständen als frisch und gesund aussehend ansprechen?«

»Oh, sie besaß gewiß eine einnehmende Erscheinung.«

McNab lächelte.

»Das besagt wenig. ›Einnehmende Erscheinung.‹ Ich habe mich schon oft gefragt, ob die Polizei diese Phrase von den Reportern übernommen hat oder die Reporter von der Polizei. Beschreiben Sie die Frau ruhig mal im einzelnen. Augen, Nase, Mund, Haar, Stimme – alles, was irgendwie charakteristisch oder eigentümlich sein könnte.«

Howley brauchte darüber nicht lange nachzudenken.

»Sie hatte prachtvolle Augen. Ja, dessen erinnere ich mich gut, wie sie den Blinden anstarrte – braune Augen und mächtig groß – wenigstens in dem Augenblick. Die Augenbrauen dunkel. Deshalb war ich auch so überrascht über die Farbe ihres Haares.«

»Was hat Sie überrascht?«

»Nun, Herr, bei dem engen Hut, den sie trug, konnte man das Haar nicht sehen. Aber als wir sie in den Wagen schafften, verschob sich der Hut, und ihr Haar kam zum Vorschein. Es war blond, und sie trug es lang über die Ohren frisiert. Das Stirnhaar war ins Gesicht gekämmt und dicht über den Augenbrauen glatt abgeschnitten.«

»Und sind Sie der Ansicht, daß dies ihre charakteristischsten Eigentümlichkeiten sind?«

»Die Farbe ihres Haares und ihre Augen, ja«, erwiderte Howley überzeugten Tones.

»Gut. Ich denke, das ist alles, was wir brauchen.«

Er stand auf. Auch Howley arbeitete sich hoch und schob sein Notizbuch in die Tasche.

»Man kann wohl annehmen, Herr, daß hinter dieser Sache etwas Besonderes steckt?« fragte er unsicher.

McNab ging ihm voraus zur Tür.

»Es ist möglich, daß eine sehr ernste Sache dahintersteckt«, antwortete er, ihn am Arm fassend. »Wenn das der Fall ist, können Sie sicher sein, daß Ihre Bemühungen weder unerwähnt noch unbelohnt bleiben werden.«

Als sich die Tür hinter Howley geschlossen hatte, warf sich McNab in seinen großen Korbstuhl. Er schien ermüdet. Ich reichte ihm meine Aufzeichnungen über Dr. Agate.

»Ah, das hat Zeit«, sagte er mit einem Gähnen der Erschöpfung. »Es kann sein, daß es sich nützlich erweist, aber ich zweifle, daß das Auto jemals dort angekommen ist. Von dem Mann, der mit solcher Voraussicht seine Mordtat vorbereitet hat, kann man wohl schwerlich annehmen, daß er sich einen solchen wichtigsten Anhaltspunkt entschlüpfen ließ, dazu noch in einem so ungeeigneten Augenblick, das heißt in Gegenwart eines Polizisten und in Hörweite von Kinloch. Du wirst selbst zugeben, daß das schwerlich die Gelegenheit war, bei der ein so gerissener Kerl einen solchen Fehler begehen würde. Trotzdem –« er ließ den Zettel in die Tasche gleiten – »werde ich morgen früh den Chauffeur aufsuchen und den tatsächlichen Sachverhalt feststellen.«

»Und die Fingerabdrücke? Hast du sie schon untersucht?«

»Jawohl. Die Fingerabdrücke von Kinloch entsprechen nicht denen auf dem Glas.« Er legte sich im Stuhl zurück und kreuzte lässig die Arme hinter dem Kopf.

»Eigentlich ist es seltsam, wie sehr sich der Wert solcher Dinge verändert, sobald die Situation selbst sich wandelt. Es gab eine Zeit, in der ich hoffte, daß die beiden Arten von Fingerabdrücken übereinstimmten. Aber als ich keiner besonderen Gewißheit mehr bedurfte, um voraussehen zu können, daß der sogenannte Hollins in Wirklichkeit Kinloch ist, da hoffte ich im Gegenteil, daß die Fingerabdrücke nicht übereinstimmen würden. Denn wenn die Abdrücke in den Akten bei Scotland Yard nicht Kinlochs Fingerabdrücke waren, dann mußten sie die des Mörders sein. Und sie allein sind schon hinreichend, um ihn an den Galgen zu bringen. Ja, unsere Arbeit ist bald vorbei. Auf alle Fälle kannst du heute nacht nichts mehr für mich tun, mein Jung'.«

Ich verstand und griff nach meinem Hut.

»Und morgen?« fragte ich.

»Und morgen wird sich die Falle über ihm schließen«, sagte er.

Die drohende Gewißheit, die aus diesen so ruhig geäußerten Worten sprach, hypnotisierte mich. Es war nun klar, daß McNab den morgigen Tag als den letzten Tag seiner Arbeit an dem Ealinger Mordfall betrachtete. Meine Gedanken wanderten zum Anfang des Ganzen zurück. Denn der Mann, über dem sich morgen die Falle schließen sollte, wurde von seinem Verhängnis ereilt, einzig und allein, weil es diesem anderen Mann, der sich hier vor meinen Augen mit gekreuzten Beinen in seinem Sessel rekelte, zufällig aufgefallen war, daß die Zwinge eines Spazierstocks auf andere Art abgenützt war als gewöhnlich. Es war ein verblüffender Gedanke. Alles, was dann folgte, alles, was morgen noch folgen sollte, war sozusagen aus diesem Spazierstock hervorgezaubert worden.

Angesichts dieses Wunders, das einer meisterhaften Beobachtungsfähigkeit zu verdanken war, und das ich miterlebt hatte, zweifelte ich nicht im geringsten an dem Gelingen des wenigen, was morgen noch zu tun blieb. Sicher kam die Frau zurück – wie McNab voraussetzte –, um Kinloch aus der unwürdigen Situation zu befreien, in der sie ihn unerwartet gefunden hatte. Bekräftigte doch Howleys Bericht McNabs Ansicht, daß diese Frau mindestens Mitleid, wenn nicht ein wärmeres Gefühl für den Blinden empfand, mit dem sie so lange zusammengelebt hatte. Bestimmt kam sie zurück – und diesmal allein. Howleys Feststellungen garantierten sozusagen dafür. Sie mußte kommen! Kinloch hatte die ganze Zeit damit gerechnet, daß sie einmal kam, und es hatte sich herausgestellt, daß er richtig gerechnet hatte. So war vorauszusehen, daß sie ohne Zaudern in die Falle ging. Ich wollte schon gehen, als mich ein neuer Einfall zurückhielt. Ich fragte McNab, von dem nur der Hinterkopf zu sehen war:

»Und wann wird die Verhaftung vor sich gehen?«

»Das zu sagen, liegt nicht in meiner Macht«, antwortete er. »Die Dame wird sich zweifellos für ihren Besuch im Enderby-Garten die Zeit aussuchen, die ihr paßt.« Er unterbrach sich mit einem Lachen. »Ich sehe schon, was du willst. Du möchtest, daß die Nachricht in keiner anderen Zeitung als in eurer Morgennummer vom Freitag zu finden ist. Deshalb würdest du es vorziehen, wenn die Verhaftung recht spät in der Nacht erfolgt.«

»Wenn möglich! Matheson hat für diese Angelegenheit eine Masse Geld ausgegeben.«

»Nun, wenn das dich tröstet, ich werde wohl schwerlich vor morgen abend in der Lage sein, meine beschworene Anzeige zu erstatten. So werden wenigstens die Abendblätter nichts davon erfahren. Aber von da an wird die Sache in Snargroves Händen liegen.«

»Snargrove?« rief ich.

»Natürlich. Ich habe doch keine Vollmacht, den Menschen zu verhaften. Wenn ich meine Anzeige erstattet und meine Angaben beschworen habe, wenn ich den Inspektor und seine Leute mit dem Haftbefehl in der Tasche bis an die richtige Tür gebracht habe, ist meine Arbeit erledigt.«

»Und Snargrove wird dann in glanzvoller bengalischer Beleuchtung dastehen.«

»Ja. Diese sehr unbequeme Popularität wird mir durch Snargrove erspart bleiben. Es ist ein verdammter Nachteil für einen Detektiv, wenn er zu sehr bekannt ist. Beinahe das einzige, was der Privatdetektiv vor dem Kriminalbeamten voraus hat, ist, daß es ihm möglich ist, im Dunkeln zu bleiben. Aber mach dir keine Sorgen wegen der anderen Zeitungen. Kein anderes Blatt wird in der Lage sein, mehr als eine kurze Notiz über die Verhaftung zu veröffentlichen – wenn überhaupt soviel.« Er deutete auf die Tür. »Also troll dich und setz dich einstweilen an die Arbeit, um deinen Artikel für Freitag früh vorzubereiten. Dann wird England wieder einmal eine Sensation erleben.«

Und tatsächlich setzte ich mich an den Schreibtisch, sobald ich nach Hause kam. Es war etwa drei Uhr morgens, als ich erschöpft ins Bett taumelte.

 

Ich hatte aber keineswegs Lust, mir die ausführliche Schilderung der Verhaftung mit allen ihren Einzelheiten entgehen zu lassen. Deshalb stand ich bereits um zehn Uhr dreißig am andern Morgen an McNabs Tür. Wieder machten wir uns zusammen auf den Weg nach dem Enderby-Garten. Wir verließen den Wagen an der Ecke der Campden Hill Road und gingen zu Fuß nach dem Platz, in dessen Mitte sich die Gartenanlagen befanden. McNab war vergnügt, aber gelassen. Ich verstand es, wie ich fürchte, weniger gut, meine Aufregung zu zügeln. McNab sprach darüber, wie prachtvoll gerade diese Stelle für unseren Zweck geeignet sei. Ein stiller, nicht allzu großer Platz mit nur einer recht schmalen Zufahrt an beiden Enden.

»Wir werden unter Umständen stundenlang zu warten haben, wie du weißt«, sagte er. »Aber innerhalb der Umzäunung des Gartens ist eine Bank, wo wir, ohne aufzufallen, sitzen und uns die Zeit mit Rauchen vertreiben können. Und –« fügte er vergnügt glucksend hinzu – »falls uns die Streichhölzer ausgehen sollten, so werden wir einen Streichholzverkäufer beinahe in Reichweite außerhalb des Gitters finden.«

»Du scheinst sehr sicher, daß die Frau kommt.«

»Sehr sicher! Kinloch war es doch auch, als er sich diese Stelle aussuchte. Und wer kann noch daran zweifeln, nach Howleys Bericht über den gestrigen Zwischenfall? Unbedingt hatte sie das Bedürfnis, mit Kinloch zu reden, als sie ihn da plötzlich als blinden Bettler erblickte. Und ebenso zweifellos hat ihr Begleiter gerade das verhindern wollen, als er sie mit solcher Eile in den Wagen schaffte. Howley hat ihn als ›bleich‹ beschrieben, und ich wette, daß er bleich war – in einem solchen Augenblick. Stell dir einmal seine Lage vor: ohne darauf gefaßt zu sein, sieht er plötzlich, nur ein paar Schritte entfernt, den Mann, der ihn als Mörder entlarven kann, gleichzeitig hat er eine tief erregte Frau auf dem Hals und neben sich einen Polizisten. Kaltblütigkeit? Der Kerl muß geradezu stählerne Nerven haben. Es war sein Glück, daß Kinloch nicht ebenso ein falscher Blinder war, wie er ein falscher Dick Hollins gewesen ist.«

»Und weil er wirklich blind war, konnte er weder ihn noch sie erkennen«, warf ich dazwischen.

»Da hast du schon recht. Aber Kinloch hatte fest darauf gerechnet, daß sie ihn in der ersten Überraschung ansprechen würde, wenn sie ihn als blinden Bettler wiederfand. Sicher muß er für diese Zuversicht triftige Gründe gehabt haben. Die gestrigen Ereignisse zeigen übrigens, daß er sich nicht verrechnet hat.« Im Weitergehen blickte er pfiffig zu mir hinüber. »Du weißt noch nicht viel von den spezifischen weiblichen Eigenarten. Wenn eine Frau sich's in den Kopf gesetzt hat, etwas Bestimmtes zu tun, dann wird sie's auch tun. Du kannst sie einmal, du kannst sie ein zweites Mal daran hindern, aber früher oder später, wenn du gerade an etwas anderes zu denken hast, oder auch nur, wenn du zufällig einmal nach einer anderen Richtung blickst –«

Er stieß einen seltsamen, japsenden Laut aus, machte unvermittelt halt und packte mich am Arm. Als ich mich erschreckt umsah, hob er die Hand und deutete auf etwas. Wir waren inzwischen an eine Stelle der Zufahrtstraße angelangt, von der man den Platz und die Gartenanlagen bequem überblicken konnte. Wie gewöhnlich waren auf dem südlichen Trottoir in beiden Richtungen zahlreiche Passanten unterwegs. Das nördliche Trottoir aber, das am Garten entlang führte, war leer genug. Schon aus dieser Entfernung ließ sich feststellen, daß Kinloch nicht da war.

»Ich seh' auch Jenkins nicht«, sagte McNab. »Peters ist auch nicht da!« fügte er hinzu und begann zu laufen.

McNab war als erster dort. Ich hätte nie gedacht, daß er so schnell laufen könne. Eine genauere Besichtigung der Stelle, an der wir Kinloch hätten finden müssen, ergab allerlei vielsagende Einzelheiten. Von Jenkins mit seinen Streichhölzern war allerdings keine Spur vorhanden, ebensowenig von Roberts und Pilcher, den beiden, die innerhalb der Umzäunung eifrig mit Jäten und Umgraben hätten beschäftigt sein sollen. Von Peters' Anwesenheit legte lediglich die grüne Ölfarbe Zeugnis ab, die auf einem Teil der eisernen Umzäunung glänzte. Wir konnten genau sehen, wo er aufgehört hatte. Der eine der Stäbe war gerade zur Hälfte gestrichen, der obere Teil leuchtete frischgrün, während der untere noch rostig und farblos war. Aber all das stellten wir erst nachträglich fest. Was am meisten ins Auge fiel, war der dreibeinige Feldstuhl des Blinden, der einsam auf dem Trottoir stand. Das dicke Buch lag, mit dem Gesicht nach unten, aufgeschlagen auf dem Pflaster. McNabs vier Aufpasser und der Mann, den sie bewachen sollten, waren spurlos verschwunden.

McNab, der die Szene einen Augenblick mit zusammengekniffenen Augen musterte, trat ans Gitter, berührte den frischen Anstrich und betrachtete seine Fingerspitzen.

»Die Farbe ist noch ganz flüssig«, murmelte er. »Es muß eben im Augenblick geschehen sein.« Dann zeigte er mir, wie nahe der Stuhl des Blinden der Stelle war, an der der Anstreicher plötzlich seine Arbeit unterbrochen hatte, und meinte:

»Wenigstens muß Peters 'ne Chance gehabt haben.«

Aber ich konnte sehen, daß ihm die Sache sehr nahe ging.


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