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Viertes Buch
Der zweite Bericht des Journalisten Godfrey Chance

Vierzehntes Kapitel

Sich seiner Erfolge zu erinnern in der Stunde des Mißerfolgs, und seiner Mißerfolge in der Stunde des Erfolges, sei, so hatte McNab oft zu mir gesagt, das beste Mittel, um immer einen kühlen Kopf zu behalten. Gelingen und Mißlingen sah er als sehr ernst zu nehmende seelische Versuchungen an. Das eine macht uns geneigt, die Dinge zu optimistisch zu sehen, das andere, sie zu schwarz zu färben. Ich aber hatte immer gefunden, daß McNab weitaus besser mit den Erfolgen fertig wurde als mit den Mißerfolgen. Wenn er sich lediglich vorübergehend einmal gehemmt sah, so vermochte er es zu überwinden. Ja, es wirkte anregend auf ihn, schärfte sozusagen seinen Appetit, aber bei seinen Nachforschungen nach dem Urheber des Ealinger Mordes handelte es sich nicht um ein einmaliges gelegentliches Mißglücken, sondern um eine wahre Pechsträhne, und zu guter Letzt starrte ihm die Gefahr entgegen, endgültig und unwiderruflich Schiffbruch zu erleiden. Bei unserer Reise nach Stone stellte es sich heraus, daß wir auf einer falschen Fährte gewesen waren, und das war nur der Anfang einer ganzen Serie ähnlicher Fehlschläge. Als wir damals hastig abreisten, hatten wir das sichere Gefühl, auf der richtigen Fährte zu sein. Wir kamen in Stone gerade noch rechtzeitig an, um zu erleben, wie die Leiche des aufgefundenen Unbekannten von Verwandten agnosziert wurde, die mit uns im selben Zug gekommen waren. Binnen einer halben Stunde war zweifelsfrei geklärt, daß der Tote niemals blind gewesen und daß zwischen ihm und dem Mord in Ealing keinerlei Beziehung zu konstruieren war.

Das war ein Fehlschlag, der nicht ohne nachhaltige Rückwirkung auf McNab blieb. Ich weiß nicht, woran er auf der Rückfahrt nach London dachte, aber wenn er, seinem Rezept getreu, sich an frühere Erfolge erinnerte, so war jedenfalls auf seinem Gesicht davon nichts zu bemerken. Es war mir gleichzeitig schmerzlich und erstaunlich, das düstere Brüten zu beobachten, mit dem er aus dem Fenster starrte, während unser Zug durch Kent fuhr. Ich wagte es immer nur von Zeit zu Zeit, ihn überhaupt anzusehen. Und ihn anzusprechen – nein – ich hoffe zu wissen, wo Schweigen am Platze ist.

Trotzdem zweifelte ich keinen Augenblick, daß von der Stunde unserer Ankunft an McNab auf der Suche nach einer neuen, erfolgversprechenden Fährte war. In den folgenden Tagen brachte ich ihm gelegentlich eine Notiz oder ein Inserat hinüber. Manchmal hatte ich gleich einen ganzen Haufen solcher Vermißtmeldungen auf einmal. Aber mit jedem Tag, der ins Land ging, verringerte sich natürlich die Aussicht, daß irgendeine dieser Meldungen mit unserem Mordfall im Zusammenhang stand. Und sehr bald konnte man so gut wie jede Notiz dieser Art von vornherein ausscheiden, da der Vermißte, nach dem gesucht wurde, erst längst nach dem Mord verschwunden war.

Seine schwärzeste Stunde erlebte McNab an einem Tag, an den ich mich noch gut erinnere. Ich war zehn Tage verreist gewesen, weil ich in Manchester zu tun hatte. Außerdem war ich schon mehrere Tage vor meiner Abreise nicht mehr in McNabs Büro hinübergegangen, weil es mich schmerzte, ihn derart hilflos und verzweifelt zu sehen. Vielleicht hätte ich selbst bei meiner Rückkehr noch den Besuch vermieden, aber ich erhielt eine Mitteilung, wonach er mich erwarte. Natürlich stürzte ich voll neuer Hoffnungen sofort hinüber. McNab lief in dem wohlbekannten Zimmer mit dem Blick über die Themse nervös hin und her. Es bedurfte keiner Worte. Ich wußte sofort, wie es in ihm aussah. In diesem Augenblick war er ganz gewiß nicht damit beschäftigt, sich an frühere Erfolge zu erinnern. Im Gegenteil, er schäumte und knirschte – wie alle Anzeichen verrieten – in durchaus menschlicher, allzu menschlicher Art über seine Ohnmacht. Francis McNab war nicht ganz und gar ein Übermensch. Aber einige Tugenden besaß er in mehr als besonderem Maße, und zu diesen gehörte seine Hartnäckigkeit. Er gab sich nie mit dem Gedanken zufrieden, geschlagen zu sein.

Während ich nachdenklich am Fenster stand, ihm den Rücken kehrte und auf den Fluß hinabstarrte, hörte ich, wie die unruhigen Schritte hinter mir plötzlich aufhörten.

»Chance«, sagte er, »was ist nach deiner Ansicht der größte Feind der Gerechtigkeit?«

»Gerechtigkeit?« wiederholte ich und machte kehrt.

»Ja, Gerechtigkeit! Die Göttin mit der Binde um die Augen und dem Schwert in der Hand, die nicht weiß, wohin ihr Schwert treffen muß.«

»Oh, einige sagen, das wären die Rechtsanwälte«, antwortete ich ironisch.

»Und andere meinen: die Polizei. Aber beide Parteien haben unrecht. Der Feind ist die Zeit. Der alte Knabe mit der Sense, die jeden und alles niedermäht.« Er stellte sich neben mich und starrte auf den Verkehr des Themsekais hinunter. Seine Augen schienen da unten wenigstens einen Ruhepunkt zu finden. »Die Zeit kämpft für den Verbrecher. Wertvolle Anhaltspunkte werden von ihr vernichtet, Spuren verwischt, die Erinnerung von Augenzeugen trübt sich, der Sachverhalt, die Beziehungen der Personen zueinander ändern sich. Ja, selbst die Schwere der Schuld wird durch die verstrichene Zeit vermindert. ›Es ist so lange her‹, heißt es beiden Leuten.«

»Und denkst du, sie werden dasselbe auch über den Mord in Ealing sagen?«

»Nein, so weit ist es noch nicht gekommen, dank der Tätigkeit des ›Record‹, der das Publikum noch immer in Spannung hält – aber –« Er brach ab, seufzte und schüttelte hilflos den Kopf.

»Auch der ›Augenöffner‹ bemüht sich, den Mord nicht in Vergessenheit geraten zu lassen«, meinte ich. »In der Nummer von dieser Woche ist der preisgekrönte Entwurf für Ponsonby Pagets Grabmal erschienen. Hast du's gesehen?«

»Für Ponsonby Pagets Grabmal?« fragte McNab, als ob er nicht zugehört hätte.

»Natürlich. Es ist eine feine Sache, ganz aus weißem Marmor, eine überlebensgroße Kopie der weiblichen Figur auf dem Umschlag des ›Augenöffners‹, nur insofern besteht ein bedeutsamer Unterschied, daß die Augen nicht mehr von zwei Pennystücken bedeckt, sondern weit offen und beschwörend gen Himmel gerichtet sind. Ist das nicht ein feiner Zug – was meinst du –, die beiden Pennystücke wegzulassen, das einzige, was an der Figur irdisch war?«

»Nun, wie behauptet wird, war er ein Mann, der alles nur in Geldbegriffen sehen konnte. Jetzt hat er sich natürlich das wohl abgewöhnen müssen«, sagte McNab in einer Art, die mich an Matheson erinnerte. Das reizte mich. Außerdem fühlte ich mich ein bißchen gekränkt darüber, daß er mich nach so langer Abwesenheit in so nachlässiger Weise begrüßte.

»Das ist gerade das schlimme«, sagte ich bissig, »daß du Ponsonby Paget nicht ausstehen konntest. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, dann hättest du wahrscheinlich nach zehnwöchiger Arbeit an dem Mord jetzt mehr vorzuweisen.«

Es war törichtes Gerede, und McNab quittierte darüber mit einem vorwurfsvollen Blick, dann sagte er: »Du hast für Matheson wohl nicht viel übrig oder doch? Oh, ich weiß, du sagst nie ein Wort gegen ihn. Aber findest du nicht, daß dein Vorurteil gegen ihn dir bei deiner Arbeit störend im Weg ist?«

»Durchaus nicht«, erklärte ich. »Wenn das der Fall wäre, könnte ich nicht länger auf der Redaktion bleiben. Ein Journalist tut sein Bestes, ohne Rücksicht auf die eigenen Sympathien und Antipathien.«

McNab nickte.

»Und so geht's auch anderen, mein Jung', die nicht Journalisten sind. Und deshalb habe ich es auch nicht nötig, Ponsonby Paget besonders zu lieben, um meinen Wunsch, den Mörder hängen zu sehen, nachdrücklicher zu gestalten. Und jetzt wollen wir Tee trinken.« Er klingelte.

Als Janet, seine alte Haushälterin, das Zimmer wieder verlassen hatte, versuchte ich, ihm die Besorgnisse näher zu erklären, die mich beseelten und die von Matheson geteilt wurden.

»Unsere Zeitung ist in der Erwartung für dich eingetreten, daß du als Sieger aus der Sache hervorgehst. Nach allem, was der ›Record‹ über die Polizei geschrieben hat, wäre es ein harter Schlag, wenn die Polizei zeigen würde, daß sie den richtigen Weg eingeschlagen hat und dich besiegte.«

Ich endete mit einem Seufzer, von dem Wunsch getrieben, gleichzeitig ihm einen Stich zu versetzen und seinen Ehrgeiz anzuspornen, denn ich konnte den Gedanken nicht loswerden, daß nun seit unserer vergeblichen Fahrt nach Stone ein ganzer Monat vergangen war.

»Nun«, antwortete er gelassen, »die Polizei hat viel vor mir voraus.«

»Du meinst die Kartothek mit den Fingerabdrücken?«

»Das und eine Masse anderer Dinge – ihre Organisation, ihr wohlgefügtes System, ihre numerische Stärke, ihre Kenntnis der Methoden, und der Schlupfwinkel der Gewohnheitsverbrecher und anderes mehr. Und trotzdem ist die Polizei in diesem Falle genau so ratlos. Warum? Weil die Fingerabdrücke des Mannes, nach dem wir suchen, sich nicht in der Kartothek in Scotland Yard befinden. Er gehört nicht zu der Klasse der Gewohnheitsverbrecher, und seine Tat war innerhalb seines übrigen Lebens ein Ausnahmefall.«

Während wir unseren Tee tranken, wurde McNab lebhafter.

»Das ist kein so seltener Fall, Chance. Es gibt viele, die sozusagen Eintagsverbrecher sind, und jeder Kriminalfachmann wird dir sagen, was für ein verzwicktes Problem gerade diese Leute darstellen. Es wäre noch viel verzwickter, wenn diese Leute in ihrer Unerfahrenheit nicht gewisse Ungeschicklichkeiten begingen. Denke an unseren Fall. In dem Mordzimmer in Ealing wimmelte es nur so von wichtigen Indizien. Wie du dich erinnerst, bog sich der Tisch quasi von Beweismaterial. Snargrove hat von vornherein erklärt, der Mord sei von einem Amateur begangen. Darin hat er durchaus recht. Aber – das halte fest – der Mörder hat wohl im Mordzimmer verschiedene grobe Schnitzer gemacht, später jedoch nicht den geringsten mehr – wie Snargrove mit Bestimmtheit erwartet hatte. Von dem Augenblick an, wo der Mörder das Haus verließ, hat er keine Spuren mehr hinterlassen und kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Da hat er nicht im geringsten mehr gepfuscht. Und wenn wir uns vor Augen halten, daß er auf der Flucht einen Blinden mitschleppen mußte und genötigt war, ihn irgendwo sicher unterzubringen, dann wirst du gewiß begreifen, daß wir es mit einem Mann zu tun haben, der über ein bemerkenswertes Talent verfügt und um Hilfsmittel nicht verlegen ist.«

»Ja, das scheint klar«, stimmte ich zu. »Und doch sind gewisse Anhaltspunkte im Mordzimmer zurückgelassen worden.«

»Nicht von dem Täter! Die Blutspuren an der Wand hat der Blinde gemacht. Der Spazierstock gehört ebenfalls dem Blinden. Und soweit wir es überhaupt beurteilen können, rühren genau so gut die Fingerabdrücke an dem Glas und der Fetzen Haar von ihm her. Das einzige, was auf keinen Fall von dem Blinden stammen kann, ist das Stückchen Spiegelglas. Der Bursche, den wir suchen, war ein Genie der Organisation. Er hatte die Tat sorgsam vorbereitet, und alles hätte sich programmgemäß abgewickelt, wenn nicht unerwarteterweise der Blinde in das Zimmer geraten wäre. Wie sehr das den Täter beunruhigt hat, geht aus allen Umständen mit ebensolcher Deutlichkeit hervor wie die Tatsache, daß der blinde Mann unschuldig war. Denn der Mörder hat keinerlei Spuren seiner eigenen Anwesenheit hinterlassen, wohl aber von der des Blinden. Das Auftauchen dieses blinden Eindringlings konnte von ihm nicht geahnt und vorausgesehen werden. Und doch hat er in diesem für ihn fürchterlichen Augenblick keinen Fehler begangen, der ihn selbst verraten konnte.« McNab stieß mich mit dem ausgestreckten Finger in die Rippen. »Nun, Herr Godfrey Chance, fangen Sie allmählich an zu begreifen, wie kompliziert der Fall liegt, mit dem wir es hier zu tun haben?«

»Eines kann ich nicht begreifen. Warum du dich darauf verbissen hast, diesen Blinden zu finden, statt ohne weiteres dich auf die Jagd nach dem tatsächlichen Mörder zu machen, wie Snargrove es tut.«

McNab deutete nach dem Fenster.

»Wirf mal da 'nen Blick hinaus und berichte, was du siehst«, befahl er.

Ich ging hin und nahm meine Teetasse mit. Von diesem hochgelegenen Fenster aus konnte man allerdings eine ganze Menge sehen.

»Zunächst ist da der Fluß«, meinte ich. »Gerade gleiten vier Barken mit der Ebbe stromabwärts. Zwei Eisenbahnzüge fahren in diesem Augenblick über die Brücke. Zahllose Autos flitzen den Themsekai entlang. Außerdem hält unten gerade eine Straßenbahn, und ein dicker Knäuel von Leuten bemüht sich, noch mitzukommen. Schließlich ergießt sich noch ein wahrer Strom von Fußgängern aus der Mündung von Villiers Street in die Untergrund.«

»Gut! Nun hör mal zu! Unter all diesen Leuten ist einer, der einem der fliegenden Händler am ›Strand‹ eben eine Banane gestohlen hat. Er hat sie in seiner Kleidung versteckt. In diesem Augenblick trägt ihn der Zug, der dort verschwindet, davon, oder er entfernt sich, wie ich annehme, auf einer der Barken, oder in der Straßenbahn, in einem Taxameter, ja, vielleicht zu Fuß, und wenn wir ihn nicht rechtzeitig ausfindig machen, wird er auf Nimmerwiedersehn verschwunden sein.«

Ich starrte McNab an. Er schien ganz ernst zu sein. Aber so war er auch, wenn er, wie eben jetzt, versuchte, humoristisch zu sein.

»Was weißt du noch über den Mann?« fragte ich.

»Nichts. Der Verkäufer hat nicht gesehen, wie die Banane gestohlen wurde – er hat sie nur nachträglich vermißt, weil sie im Bündel fehlte.«

»Nun, und hat der Verkäufer bereits eine Beschreibung der Banane bekanntgemacht?« fragte ich. Ich wollte ihm an geheuchelter Ernsthaftigkeit nicht nachstehen.

»Nein. Das wäre auch zwecklos, denn der Dieb wird den ersten ruhigen Augenblick, den er hat, benutzen, um sie zu essen, und auf diese Art das ganze gegen ihn vorliegende Beweismaterial zerstören.«

»Das sieht allerdings hoffnungslos aus.«

»Ah, aber unter all diesen Leuten befindet sich ein Postbeamter, der weiß, wer die Banane gestohlen hat. Dadurch wird unser Untersuchungsgebiet gleich schon enger abgegrenzt, und gleichzeitig wird unsere Untersuchung beschleunigt.«

Jetzt war es leicht zu begreifen, wo er mit seiner Beweisführung hinauswollte.

»Ach so«, sagte ich. »Und so hast du also nach dem Postbeamten gesucht – in anderen Worten, nach dem Blinden. Aber wenn es auch mindestens so leicht ist, aus einer Menschenmasse einen Blinden herauszufinden wie einen Postbeamten, so hast du deinen Blinden doch noch nicht gefunden, und du sitzt hier und tust nichts.«

»Ich tue nichts.«

»Nun ja, nichts weiter, als mit mir über den Mordfall zu sprechen.«

»Das hieße allerdings nichts tun.«

McNab hatte Stimmungen, in denen er, wie man wohl gemerkt haben wird, einem äußerst auf die Nerven gehen konnte.

»Was tust du also deiner Auffassung nach sonst noch?« erkundigte ich mich.

»Außer daß ich im Augenblick eine Zigarette anzünde, warte ich darauf, daß es an meiner Tür läutet.«

»Ach, du erwartest jemand?« Und da ich aus seinem Ton entnehmen konnte, daß es kein gewöhnlicher Besuch war, rief ich: »Jemanden, der in irgendeiner Beziehung mit dem Mord verknüpft ist?«

»Ja. Jemanden, der uns recht viel über diesen Mord erzählen kann.«

Das war eine gewaltige Überraschung für mich. Aber es sollte noch mehr kommen. Während ich noch starr vor Staunen dastand, ging McNab an seinen Schreibtisch, öffnete eine Registermappe und nahm etwas heraus, das er vor mich hinlegte. Es war ein photographischer Abzug, etwa sechs Zoll im Quadrat groß, und schien die Vergrößerung eines Ausschnittes aus einer Gruppenaufnahme von Soldaten zu sein, denn rechts und links waren noch die Achselklappen von zwei anderen Leuten sichtbar. Das Gesicht des Mannes, dessen Porträt auf diese Art erlangt worden war, schien auf der Aufnahme gut getroffen zu sein. Unter einer offenen faltenlosen Stirn sah man zwei klare, dunkle, ziemlich weit auseinandersitzende Augen. Die Backenknochen waren leicht erhöht, was dem Gesicht einen etwas slawischen Ausdruck gab. Während die Nase gerade und gut proportioniert war, wies der lächelnde Mund gewisse Anzeichen der Weichlichkeit, wenn nicht sogar der Schwäche auf.

»Wer ist das?«

»Mein Postbeamter«, sagte McNab.

»Was? Der Blinde?« rief ich.

»Mit anderen Worten – der Blinde!«

Das veranlaßte mich, die Photographie noch einmal genauer zu mustern, und zwar ging ich ans Fenster, um mehr Licht zu haben. Ich wollte den Mann sehen, nach dem wir so lange Jagd gemacht hatten. Also schienen doch während meiner Abwesenheit die Dinge etwas in Bewegung gekommen zu sein. Ich warf noch einmal einen flüchtigen Blick nach dem Themsekai hinunter, wo immer neue Menschenmassen vorbeiströmten – wenn das, was ich in der Hand hielt, wirklich die Photographie des Blinden war, dann war es McNab wirklich gelungen, unter dieser strömenden Menge seinen Postbeamten zu entdecken.

»Recht so, mein Junge«, bemerkte McNab hinter mir ironisch. »Sieh dir die scheußliche alte Brücke nur noch einmal genauer an. Es ist viel Wasser darunter durchgeflossen, seitdem du zum letztenmal hier gewesen bist.«

»Wie bist du dazu gekommen?« fragte ich, die Photographie hochhebend.

»Ich hätte sie früher haben können, wenn du keinen Bock geschossen hättest, aber ich habe jetzt keine Zeit, dir die Sache zu erzählen.« Er blickte auf die Uhr.

Nicht nur schien allerlei geschehen zu sein, ich sah, daß im nächsten Augenblick noch mehr geschehen sollte. Die Unruhe, die ich als ein Anzeichen des Fehlschlags aufgefaßt, unser Gespräch, in dem ich nur ein müßiges Spiel mit Worten gesehen, dieses langsame Auf- und Abgehen im Zimmer, das ich einem Gefühl der Niedergeschlagenheit und des Besiegtseins zugeschrieben hatte, all das erhielt jetzt eine gänzlich veränderte Bedeutung. McNab erwartete etwas, das jeden Augenblick eintreten mußte. Im nächsten Moment mußte jemand draußen läuten. Wie oft hatte ich selbst so geläutet. Wie vertraut war mir der Ton der Klingel – bei McNab mußte man noch an einem altmodischen Klingelzug ziehen. Dann knarrte es zuerst, wie wenn eine Kette sich am Holzwerk scheuert, und erst nach einer Weile kam dann, wie aus weiter Entfernung, ein mattes Gebimmel. Ich begann hinauszuhorchen wie McNab selbst. Natürlich hatte ich ein Dutzend Fragen auf der Zunge. Und in meiner Spannung konnte ich eine wenigstens nicht zurückhalten.

»Wen – ist's wirklich der Blinde – erwartest du den Blinden?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wart's ab. Wir werden sehen. Es kann nur noch ein paar Minuten dauern.«

Diese charakteristische Antwort ist mir unauslöschlich im Gedächtnis haftengeblieben. Sie war darauf berechnet, meine Neugier aufs höchste zu steigern. Und McNab liebte das, wenn er eine Wut auf mich hatte.

Weitere zehn Minuten vergingen. Sie vergingen in völligem Schweigen, denn ich wollte ihn nicht mit weiteren Fragen quälen, um nicht hinausgeworfen zu werden. Ich erinnerte mich zu deutlich daran, wie er sich mir, nach dem Abschluß der Voruntersuchung, entzogen hatte, damals, als er aus dem Spazierstock so bedeutsame Schlußfolgerungen zog. Ich erinnerte mich doppelt lebhaft daran, da ich in meiner Hand die Photographie des Mannes hielt, dem dieser Stock gehörte.

Gerade wollte McNab wieder auf seine Taschenuhr sehen, und ein Schatten des Mißmuts flog über sein Gesicht, als er plötzlich aufblickte und die Hand hob.

Gleich darauf hörte ich, wie jemand kurz und entschieden an der Klingel zog.


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