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Zweites Buch
Bericht des Journalisten Godfrey Chance

Achtes Kapitel

Als Ponsonby Paget ermordet wurde, war er eine der volkstümlichsten Persönlichkeiten Englands. Es muß allerdings zugegeben werden, daß einige seiner Kollegen im Zeitungsviertel ihn mit scheelen Augen ansahen, aber das geschah aus ganz persönlichen Gründen. Keiner von ihnen bestritt Pagets journalistisches Genie. Ja, es gab Leute, die behaupteten, er bringe es fertig, jedermann für jede beliebige Sache zu interessieren, über die es ihm gerade einfiel zu schreiben. Wenn er über Dinge schrieb, die die öffentliche Moral betrafen, so goß er in Worte, was der schlichte Mann der Straße fühlte, aber nicht zum Ausdruck bringen konnte. Er war auch ein Meister des pikanten und witzigen Gesellschaftsklatsches, auf den alle Frauen so versessen sind. Woher er seine Informationen bezog, das wußte keiner von uns. Aber es war gewiß, daß er mit dem Privatleben, ja sogar mit dem geheimsten Leben der distinguiertesten Leute in England vertraut war.

Bei den breiten Volksmassen genoß er den Ruf eines Biedermannes, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte, und der kein Blatt vor den Mund nahm. Den Anspruch, ohne Fehl zu sein, erhob er nicht, wurde aber niemals müde, der Welt zu verkünden, daß er ein Brite vom alten Schlage sei. Und das Publikum, dem das eine soviel galt wie das andere, hatte Ponsonby Paget ins Herz geschlossen. Dann wurde er Abgeordneter und imponierte als Redner. Seine untersetzte, wohlbeleibte, stiernackige Gestalt, sein knorriges biderbes Gesicht machten ihn zum typischen John Bull und bewirkten, daß seine Zuhörer glaubten, was er vorzubringen gedachte, noch ehe er Zeit fand, es auszusprechen. Aber trotz seines demagogischen Rednertalents lag seine wirkliche Begabung im Journalismus. Er schrieb einen Stil, glänzend wie der Macaulays. Und im »Augenöffner«, der Wochenschrift, die er selbst besaß und herausgab, fand dieses Talent genügende Betätigungsmöglichkeit.

»Der Augenöffner« ist nun in andere Hände übergegangen und hat, wie manche der Persönlichkeiten, die einst in seinen Spalten angeprangert und der öffentlichen Verachtung preisgegeben wurden, seinen Namen inzwischen gewechselt. Staatsmänner fürchten sich nicht mehr vor seinen Indiskretionen. Und die Damen der Gesellschaft durchblättern nicht mehr, zitternd oder schadenfroh, die Zeitschrift. »Der Augenöffner« ist nicht mehr das, was er in den Tagen Ponsonby Pagets gewesen war, damals, als ich, ein journalistischer Anfänger, die neueste Nummer stets in der Brusttasche meines Überrocks zu tragen pflegte. Damals hatte ein Genie dem ganzen Heft seinen Stempel aufgedrückt – sogar dem braunen Umschlag. Auf dessen oberer Hälfte waren der Kopf und die nackten Schultern einer sehr massiven Frau mit klassischen Gesichtszügen und einem ungewöhnlich langen Hals zu sehen. Ihr Kopf war stolz in den Nacken geworfen, die Lippen geöffnet, und jedes Auge bedeckte ein Pennystück – die Zeitschrift kostete damals zwei Pence. Ich erinnere mich, daß ich Matheson, meinen Vorgesetzten beim »Record«, auf den Symbolismus dieser zwei Pennystücke hinwies, als er mich eines Tages, in meiner ersten Zeit bei dieser Zeitung, mit dem »Augenöffner« in der Hand, an meinem Schreibtisch erwischte.

»Für zwei Pence öffnet sie dem britischen Publikum die Augen«, sagte ich.

Ich war damals noch ein unreifer Jüngling, erst vor kurzem aus einer Provinzstadt ins Londoner Zeitungsviertel verschlagen, sonst hätte ich nicht den hoffnungslosen Versuch gemacht, Matheson etwas Neues beizubringen. Matheson grinste, als sein Auge auf das weibliche Brustbild fiel.

»Jedenfalls steht nicht darauf, wieviel es kostet, ihr den Mund zu verschließen. Wahrscheinlich ist das ein Preis, der nach den Umständen wechselt«, meinte er ironisch.

Ich wußte sofort, was er meinte. Nämlich, daß reiche Halunken für einen entsprechenden Preis der Anprangerung entgehen konnten.

»Nichts kann diesen Mund verschließen«, erklärte ich hitzig.

Und nun – der Gedanke hat etwas Feierliches – hat ihn doch etwas geschlossen – der Tod! Ponsonby Paget, der große Mann, ist tot. Ich habe ihn liegen sehen, weiß wie Alabaster und unwahrscheinlich still – ermordet! – Im Leichenschauhaus der Polizei in Ealing, und sie hatten ihm zwei Pennystücke auf die Augen gelegt.

 

Diese Leichenschau, bei der die Polizeifunktionäre und die Presse zugegen waren, brachte meine Gedanken zu der Zeit zurück, wo ich den Mann zum erstenmal gesehen habe, den ich jetzt zum letztenmal sah.

Meine Bekanntschaft mit dem jetzt Ermordeten hatte damit begonnen, daß ich ihm einen Beitrag für seine Zeitschrift einsandte. Den Stoff zu meinem Artikel hatten nicht die Dinge geliefert, über die auf der Redaktion im Zimmer des Hilfsredakteurs geklatscht wurde, sondern ich verdankte alles meiner intimen Bekanntschaft mit Francis McNab, der sich als Privatdetektiv in London etabliert hatte, und über den ich sofort noch eingehender werde sprechen müssen. Mein Artikel wurde mir vom »Augenöffner« zurückgeschickt, aber statt des üblichen vorgedruckten Formulars – »man bedaure höflich und so weiter« – lag ein kurzer persönlicher Brief des Herausgebers bei, der mich ersuchte, bei ihm vorzusprechen.

Wie lebhaft ist noch heute mein erster persönlicher Eindruck von Ponsonby Paget. Nachdem er zunächst ein paar Fragen nach der Quelle gestellt hatte, aus der die Informationen für meinen Artikel stammten, und ebenso sich nach meiner Stellung beim »Record« erkundigt hatte, sprach er über nichts anderes mehr als über den literarischen Stil. Er machte mir Hoffnung auf eine Anstellung in seinem Betrieb, wenn ich es fertigbrächte, etwas mehr Leben in meinen Stil zu bringen. Wie gierig ich jedes einzelne Wort verschlang! Ich nahm alles in mich auf wie ein neues Evangelium, während er im Zimmer hin und her lief, eine untersetzte, kurzbeinige Gestalt, mehr wie ein Gutspächter, der über Steckrüben, denn wie ein Meister englischer Prosa, der über seine Kunst spricht.

»Vor allem, junger Mann«, sagte er, »hüten Sie sich davor, Sätze zwischen Gedankenstriche zu stellen. Die Engländer lieben das nicht. Die Engländer sind ein biderbes Volk, das heraussagt, wie's ihm ums Herz ist, und es will, daß man mit ihm spricht, so wie ihm selbst zumute ist. Diese Einschiebsel zwischen Gedankenstrichen haben immer etwas Französisch-Maniriertes an sich. Es klingt, wie wenn der Verfasser seiner Sache nicht ganz sicher wäre. Und vor allem, junger Mann, haben Sie keine Angst davor, sich zu wiederholen. Es ist geradezu eine Notwendigkeit, sich zu wiederholen. Sie können dem britischen Publikum nichts ins Hirn hämmern, wenn Sie sich damit begnügen, es ihm einmal zu sagen, genau so wenig, wie Sie einen Nagel ins Holz treiben, wenn Sie mit dem Hammer nur einmal darauf schlagen. Außerdem haben die Engländer eine Vorliebe für Wiederholungen. Sie haben eine Vorliebe für Wiederholungen aus demselben Grund, aus dem sie eine Vorliebe für die große Trommel haben. Die große Trommel ist das einzige Instrument im ganzen Orchester, das sie verstehen. Sie ist das einzige Instrument, das immer und immer wieder dasselbe sagt, und deshalb klingt es so ernst.«

Und doch muß ich jetzt, wo ich zurückblicke, feststellen, daß Ponsonby Paget bei aller schlichten Rauhheit, die er auf der Oberfläche zur Schau trug, über eine Gewandtheit und Geschicklichkeit verfügte, die ebenso ungewöhnlich war wie seine sonstige Begabung, obwohl sie einem grünen Rekruten des Journalismus, wie ich es damals war, weniger in die Augen fallen konnte. In einer gewissen ständigen Spalte seiner Zeitschrift, die er stets selbst schrieb, wurden über hochstehende Persönlichkeiten, über Männer des öffentlichen Lebens und Damen der Gesellschaft, Sachen gesagt, die eine andere Zeitung niemals gewagt hätte zu drucken – und zwar nicht etwa, weil diese Dinge erfunden waren, sondern eben weil sie so absolut der Wahrheit entsprachen. Trotzdem wurde er wegen der Veröffentlichungen niemals vor Gericht gezogen. Zum Teil verdankte er diese besondere Redefreiheit dem Platz, den er sich im Herzen der Nation gesichert hatte, zum andern Teil der bekannten Geschicklichkeit, mit der er die Geschworenen auf seine Seite zu bringen wußte. Aber zum größten Teil verdankte er die Immunität gegen Beleidigungsprozesse aller Art der Tatsache, daß kein Mann in England soviel Unsagbares in so augenscheinlich unschuldigen Worten andeuten konnte.

Das war der Mann, den ich in jener düsteren Januarnacht auf dem Boden seines Arbeitszimmers in Ealing als Leiche fand. Matheson hatte meine Bekanntschaft mit ihm niemals mit Wohlwollen betrachtet. Ja, er hatte mich sogar vor ihm gewarnt. Trotzdem hatte es Matheson nur mir zu verdanken, daß seine Zeitung mit einem Bericht über die tragische Entdeckung erschien, dessen sich kein anderes Blatt rühmen konnte. Und es war eine der größten Sensationen, die der »Record« jemals brachte. Wie gut erinnere ich mich noch daran, daß ich mich noch lange auf der Straße herumdrückte, weil ich Zeuge der Sensation sein wollte, die unser Bericht über Pagets schreckliches Ende auslösen mußte, wenn unsere Straßenverkäufer mit ihren Plakaten erschienen. Zu Tode erschöpft, hungrig, schlaftrunken nach all den furchtbaren Eindrücken der Nacht, trieb ich mich doch noch herum, um den Schrei zu hören, bei dem ganz London zusammenfahren würde. Mein geschärftes Ohr hörte das Gebrüll, das unsere Leute machten, schon von weitem. Wie eine Flutwelle fegten sie über den »Strand«, jeder einen riesigen Stoß Zeitungen unter dem Arm und folgendes Plakat um die Brust, das ihnen dauernd gegen die Beine schlug:

 


DAILY RECORD
MORD!
PONSONBY PAGET
MORD!


 

Und als ich mich heimwärts wandte, um endlich den lange hinausgeschobenen Schlaf zu finden, hatte ich die bestimmte Überzeugung, daß Ponsonby Paget mit diesem Plakat einverstanden gewesen wäre, vorausgesetzt natürlich, daß er nicht selbst darauf gestanden hätte. Denn das Plakat wies nicht nur die Wiederholung auf, die er schätzte, sondern auch den unwiderstehlichen Appell an die menschliche Neugier, dessen Anwendung sein besonderes Entzücken war. War man doch genötigt, die Zeitung erst zu kaufen, um herauszubekommen, ob Ponsonby Paget der Täter oder das Opfer war, oder ob es vielleicht unserer Zeitung einfiel, zum Mord an Ponsonby Paget aufzufordern. Das Plakat war, daran war nicht zu zweifeln, ein Einfall unseres sarkastisch veranlagten Matheson. Aber den Stoff zu der Sensation hatte ich geliefert, und das Ganze erwies sich als eine der glänzendsten Zeitungsreklamen, die man je auf Londons Straßen erlebt hat.

 

Wie ich dazu kam, das Verbrechen zu entdecken? Der Verlauf war folgender:

An dem Tag, den er nicht mehr überlebte, am 15. Januar, rief mich Mr. Ponsonby Paget etwa um ein Uhr auf der Redaktion an, gerade als ich zum Lunch gehen wollte. Er erkundigte sich, ob ich abends bei ihm in seinem Haus in Ealing mit ihm essen wolle. Ein angenehmes Gefühl durchrieselte mich. Ich war stolz. Es bedeutete einen Schritt vorwärts in der Laufbahn, wenn man von jemandem, der in der journalistischen Welt den Rang Ponsonby Pagets einnahm, des persönlichen Umgangs gewürdigt wurde. Aber gleich darauf überkam mich tiefe Niedergeschlagenheit. Es fiel mir ein, daß an diesem Abend in der Albert Hall eine große politische Versammlung stattfand, der ich dienstlich beizuwohnen hatte. Während ich kleinlaut ihm dies am Telephon auseinanderzusetzen suchte, hörte ich, wie er einen unterdrückten Fluch vor sich hin murmelte. Das überraschte mich. Er pflegte selten zu fluchen. Gleich darauf hörte ich sein gewohntes herzhaftes Lachen.

»Sie sind heute schon der zweite, der mich enttäuscht«, sagte er.

»Es tut mir herzlich leid«, erwiderte ich, »aber ich bin ziemlich sicher, daß Matheson mich nicht aus den Klauen läßt. Ich halte es deshalb auch für zwecklos, ihn zu fragen.«

»Hör'n Sie mal«, sagte er, »um wieviel Uhr sind Sie denn frei – gegen zehn?«

Ich dachte einen Augenblick nach. Von der Albert Hall auf die Redaktion zu gehen und meine paar Zeilen abzuliefern, konnte kaum eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Ehe ich antworten konnte, hörte ich ihn sagen – diesmal ziemlich drängend:

»Für mich handelt es sich nämlich um folgendes: Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie um elf Uhr bei mir sind?«

»Aber gewiß.«

»Sind Sie dessen ganz sicher?«

Er legte in die Frage solchen Nachdruck, daß es mich überraschte. Ich antwortete mit gebührendem Ernst:

»Ich werde nicht zulassen, daß irgend etwas dazwischen kommt, Mr. Paget, darauf können Sie sich verlassen.«

Dann hörte ich wieder sein herzhaftes Lachen:

»Lassen Sie sich lieber vom ›Record‹ hinausschmeißen, als daß Sie mir eine Enttäuschung bereiten. Es ist eine Sache, die für Sie viel bedeuten kann. Allerdings fürchte ich, daß ich Ihnen nichts mehr werde zum Essen vorsetzen können.«

»Vielleicht kann ich wenigstens auf einen kleinen Imbiß rechnen«, meinte ich scherzhaft, um mich seiner geänderten Tonart anzupassen.

»Wie?«

Ich wiederholte meine Bemerkung.

»Oh, ein Mann, auf den ich mich verlassen kann, kann sogar auf mehr rechnen – aber später«, antwortete er mit besonderer Betonung. Und als ich in der Leitung noch hörte, wie er den Hörer auf die Gabel legte, fühlte ich mich wie ein Mensch, dessen Zukunft von nun an gesichert ist.

 

Der Nebel ist an seinem Tod schuld. Wenn der Nebel nicht gewesen wäre, Ponsonby Paget lebte heute noch; ich hätte Ealing rechtzeitig erreicht, um ihn vor Unheil zu bewahren. Der Nebel kam gegen vier Uhr, mit dem Eintritt der Dunkelheit. Matheson hatte mich zu Francis McNab geschickt. Ich sollte mit ihm über einen vielversprechenden Kriminalfall beraten, über den ich am Vormittag einen kurzen Bericht aus dem Polizeigerichtshof mit auf die Redaktion gebracht hatte. Von dem kleinen Fenster in McNabs Büro aus, das hoch oben in einem mächtigen Geschäftsgebäude mit dem Blick auf die Themse lag, konnte ich sehen, wie der Nebel langsam herankroch und das andere Flußufer verdeckte. Ich hatte auf McNab zu warten und sah von meiner hohen Warte aus müßig dem Schauspiel zu. Die unheilvolle Rolle, die dieser Nebel für einen meiner Bekannten haben sollte, ahnte ich nicht. Meine Gedanken beschäftigten sich in diesem Augenblick mit dem Mann, auf den ich wartete.

Seit ziemlich langer Zeit hatte sich der »Record« speziell auf die Behandlung des Verbrechens geworfen: selbstverständlich lag es uns fern, dem perversen Geschmack, der an Groteskem und Widerlichem Gefallen fand, zu huldigen, nichtsdestoweniger machten wir eine Spezialität daraus, Dinge zu veröffentlichen, die auf dem gewöhnlichen Weg nicht zu erfahren waren. Unsere Zeitung war auf ziemlich originelle Weise zum erstenmal mit McNab in Berührung gekommen. Es war die Zeit, als die mysteriöse Affäre von Acton Green von der Presse mit solchem Aufgebot an Fettsatz behandelt wurde. Damals sandte uns McNab einen Brief, in dem er eine eigene Theorie über das Verbrechen unserer Begutachtung unterbreitete. Diese Theorie aber war so weithergeholt, so offensichtlich an den Haaren herbeigezogen und dabei so belastend für gewisse Persönlichkeiten, daß Matheson nicht einmal wagte, dieses Schreiben dem Papierkorb anzuvertrauen, sondern es eigenhändig an den Schürhaken spießte und im Kamin verbrannte. Als aber die weiteren Ereignisse bewiesen, daß McNab mit seinem Hinweis auf den hochgestellten Verbrecher recht gehabt hatte, legte Matheson auf den Privatdetektiv Beschlag und benutzte ihn als Sonderberichterstatter. McNab war es, der unter dem Pseudonym »Der Lichtanzünder« die aufschlußreichen Artikel über moderne Verbrechen lieferte, die so lange eine Spezialität des »Record« gewesen sind.

Gerade als ich alle Hoffnung schon aufgegeben hatte, betrat endlich McNab das Büro. Mit seinem schmalen, sauber rasierten Gesicht und seinen nachdenklichen Augen glich er weit mehr einem etwas jugendlichen Arzt als einem Detektiv – nur daß ihm das verbindliche Wesen eines Arztes fehlte.

»Hallo, Chance – was bringt dich? Geschäft oder Vergnügen?« fragte er mit einem Kopfnicken.

»Mathesons Geschäft: mein Vergnügen«, entgegnete ich. »Komm mit mir nach dem ›Blauen Vogel‹ hinüber. Wir wollen Tee trinken.«

»– und 'ne halbe Krone für Tee im Wert von drei Pence bezahlen? Nee, nee, mein Junge.«

Er zündete ein Streichholz an und stellte den Teekessel auf das Gas. Dann ließ er sich rittlings auf einen Stuhl nieder, um Mathesons Brief zu lesen.

»Schlechter Geschäftsgang?« erkundigte ich mich, als er mir schließlich Tee einschenkte. Er seufzte und wies mit einer Kopfbewegung nach Mathesons Brief hinüber.

»So, so. Wie im Schnittwarenladen. Großer Umsatz, kleiner Nutzen.«

»Matheson erklärt, er hätte herausgefunden, daß du akademische Bildung besitzst und dich am Philosophischen Seminar in Aberdeen besonders ausgezeichnet hast.« Ich platzte damit heraus, wie wenn ich ihn interviewen wollte.

Er protestierte mit beiden Händen.

»Großer Gott – nicht in Aberdeen! Das ist eine Anschuldigung, gegen die ich mich empört zur Wehr setze!«

Dann schnitt ich eine Frage an, die mich schon seit langem sehr beschäftigt hatte.

»Einem Engländer, der eine akademische Bildung genossen hat, würde es nicht im Traum einfallen, deinen Beruf zu ergreifen.«

»Meinst du? Warum nicht?«

»Er würde mehr – wie soll ich's sagen –, mehr Ehrgeiz haben.«

»Ehrgeiz?« rief er. »Menschenskind, siehst du denn nicht, daß die Welt voll ist von Leuten, die den Anforderungen ihrer Stellung nicht gerecht werden? Und was ist dafür verantwortlich? Der Ehrgeiz! Der Ehrgeiz hat sie dazu verleitet, Stellungen anzunehmen, deren Anforderungen über ihre Fähigkeiten hinausgehen. Wenn sie dagegen mit einem Posten zufrieden gewesen wären, den sie ausfüllen könnten, dann wären sie wenigstens wirklich erfolgreich. Aber nein! Der Ehrgeiz kitzelt sie so, daß sie's nicht lassen können und sich das Leben verpfuschen.«

»Aber, Mac«, protestierte ich, »wenn du dieser Ansicht bist, warum in aller Heiligen Namen bist du dann nicht in Schottland geblieben?«

Er blinzelte mich pfiffig mit seinen schwarzen Augen an.

»Mein Junge, nun stellst du dich dümmer, als die Polizei erlaubt. Warum ich nicht in Schottland geblieben bin, fragst du. Erstens ist Schottland ein ehrbares Land, wo man die Gesetze achtet, zweitens ist in England die Konkurrenz in bezug auf Intelligenz nicht so groß.«

Er reichte mir die Blechbüchse mit den Biskuits, und es blieb im unklaren, wieweit seine Äußerungen ernst gemeint waren oder nicht.

Als wir mit unserem Tee fertig waren und Zigaretten herausholten, ließ ich die große Überraschung auf ihn los, die ich mir bis zuletzt aufgespart hatte. »Mac, neulich habe ich deinen Namen in einem Brief an meine Leute erwähnt, und ich habe dadurch erfahren, daß die Mutter meiner Mutter aus Schottland stammte.«

»Nicht übel. Immerhin reichlich verwässert.«

»Was?«

»Der Tropfen schottischen Bluts. Ich glaube, es wird ganz und gar von dem andern verdrängt werden, oder es wird sich nur in ganz außergewöhnlichen Augenblicken zeigen.«

»Sie soll rotes Haar gehabt haben und stammte aus Aberdeen.«

»Aus Aberdeen? Das ändert die Sache. Da oben sind die Menschen aus Granit, wie die Stadt. Deshalb werde ich dir nicht bestreiten, daß der Aberdeensche Saft jeder Verwässerung trotzt. Es gehört schon ein ordentlicher Schuß des weichlichen englischen Bluts dazu, um ihm eine Andeutung von Zivilisiertheit zu geben.«

So war der ganze Kerl. Man wußte nie, ob er es ernst meinte, obwohl er immer so aussah. Und als ich mich einige Zeit später an diesem Abend von ihm verabschiedete, ließ ich mir wenig davon träumen, welche ernsten Dinge uns beide in allernächster Zukunft erwarteten.

 

Nachdem ich über die Rede des Staatssekretärs des Auswärtigen in der Albert Hall pflichtgemäß berichtet hatte, konnte ich feststellen, daß mir noch reichlich Zeit blieb, um Ealing vor elf Uhr zu erreichen. Aber kaum hatte ich die Nase aus der Tür gesteckt, als ich fest entschlossen war, mich nicht der Gnade und Ungnade der Vorortbahn zu überliefern. Zu groß war bei diesem Wetter das Risiko, daß wir irgendwo in einem Tunnel steckenblieben. Ich nahm deshalb eine Taxe – die Autos machten an diesem Abend schlechte Geschäfte. Ein Auto war langsamer und teurer, aber es war sicherer. Außerdem glaubte ich, daß wir jenseits Kensington aus der Nebelzone herauskommen würden.

In der ersten Zeit krochen wir mehr als wir fuhren, aber darauf war ich gefaßt gewesen. Ich fühlte mich nicht beunruhigt. Der Chauffeur hatte erklärt, er kenne den Weg so gut, daß er Ealing auch mit verbundenen Augen finden könne.

Das muß man ihm lassen: er rannte mit keinem anderen Gefährt zusammen, ja, er ließ auch die Randsteine und die Schutzinseln unbehelligt. Mir schien es ein Wunder, mit welcher Genauigkeit er die Fahrstraße einhielt, obwohl von der Straßenbeleuchtung nichts zu sehen war, als in Abständen ein matter, hellerer Fleck in der Luft. Als aber meine Uhr zehn Uhr fünfzehn zeigte, wurde ich unruhig, denn noch immer schienen wir im Bereich des Nebels zu stecken. Wenige Minuten später hörte ich die Bremsen knirschen. Der Wagen hielt. Neben uns ragte düster und schattenhaft die Gestalt eines Polizisten. Mir wurde es bang ums Herz, denn ich sah, wie er mit ausgestrecktem Arm bemüht war, meinem Chauffeur Auskunft über den Weg zu geben – gänzlich nutzlose Auskunft. Rasch ließ ich das Fenster herunter. Ich hörte, wie er sagte: wir müßten in die dritte Straße rechts einbiegen, und dann in die zweite links: wir hatten einige Kilometer weiter zurück den direkten Weg gekreuzt.

Ich beabsichtige nicht, einen vollständigen Bericht über meine Irrfahrten in dieser Nacht zu liefern. Der Himmel weiß, wo wir überall hingerieten. Keinen Augenblick aber vermochten wir uns aus dem Nebel herauszuwinden. Schließlich waren wir plötzlich in Ealing, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß wir uns überhaupt in der Nachbarschaft befunden hatten. Ich stieg aus, bezahlte und bewog einen Schutzmann, durch den dringenden Hinweis darauf, daß es sich um Leben und Tod handeln könne, mich bis zu Mister Ponsonby Pagets Haustür in der Tookworth Avenue zu führen.

Als er mich verließ, um seinen Patrouillengang in einem anderen Revier fortzusetzen, warf ich einen verstohlenen Blick auf meine Uhr. Lange hatte ich dazu den Mut nicht mehr aufgebracht. Es war beinahe ein Uhr. Ich blieb unschlüssig an der Auffahrt stehen. Das große Gebäude in seinem Nebelschleier war nur undeutlich zu sehen. Es wirkte unheimlich und gespenstisch. Kein Fenster war erleuchtet.

War es überhaupt noch der Mühe wert, weiterzugehen? fragte ich mich. Schließlich faßte ich den Entschluß, rund um das Haus herumzugehen und festzustellen, ob vielleicht noch eines der rückwärtigen Fenster erleuchtet sei. Es verlohnte sich immerhin noch der Mühe, Ponsonby Paget zu zeigen, daß ich alles, was in meiner Macht lag, getan hatte, um ihm mein Versprechen zu halten. Ich spähte umher und geriet auf einen mit Ziegeln ausgelegten schmalen Gartenpfad, der sich durch die Gebüsche schlängelte und mich auf die große Rasenfläche hinter dem Haus brachte. Ich bog um eine Ecke und sah im gleichen Augenblick auch den Lichtschein, der aus den Fenstern eines einstöckigen Gebäudes strömte, das dem eigentlichen Haus später als Seitenflügel angegliedert worden war. Der Pfad führte mich geradeswegs auf dieses Gebäude zu und endete an dem einzigen Eingang, einem bis auf den Boden reichenden Balkonfenster, zu dem zwei Stufen hinaufführten. Das Balkonfenster war nicht geschlossen, sondern nur angelehnt.

Ich wartete einen Augenblick, dann klopfte ich an die Scheibe.

Wahrscheinlich war das Geräusch viel schwächer, als es meinen gespannt horchenden Ohren vorkam. Es blieb alles still. Unheimlich still. Selbst der Nebel, der dicht und schwer um mich lag, schien versteinert, zu einer festen Wand geworden. Es kostete eine Willensanstrengung, um mit der Hand hineinzufahren. Immer noch erhielt ich keine Antwort auf mein Klopfen. Ich konnte mich nicht überwinden, es zu wiederholen. Statt dessen trat ich auf die Steinstufen und versuchte in den Raum hineinzusehen. Die Balkontür führte anscheinend zunächst in eine Art Erker, der unbeleuchtet und von dem Hauptraum durch Vorhänge getrennt war. Die Vorhänge waren aber nicht vollständig zugezogen. Durch die Öffnung vermochte man einen Teil des hinteren Raums schräg zu überblicken. Ich konnte den warmen Lichtschein des Kaminfeuers wahrnehmen. Der freie Blick auf den Kamin wurde mir aber durch die Rücklehne eines Klubsofas verlegt, das quer davor stand. Es schien aber niemand im Zimmer zu sein. Vielleicht war der Mann, der mich erwartete, vor dem Kaminfeuer eingeschlafen. Nachdem ich noch längere Zeit unschlüssig gewartet hatte, gewann ich es über mich, noch einmal zu klopfen, diesmal lauter. Das rasselnde Geräusch hallte plötzlich hinter meinem Rücken wider. Vielleicht wurde es von einer hohen Mauer hinter mir, die ich im Nebel nicht sehen konnte, mit solcher Deutlichkeit zurückgeworfen. Jedenfalls raubte mir die Plötzlichkeit dieses Echos die Fassung, und unwillkürlich machte ich einen Schritt vorwärts, stieß die Glastür auf und trat ins Zimmer.

Schon der erste Blick zeigte mir, daß hier etwas nicht stimmte.

In dem Zimmer mußte sich ein Kampf abgespielt haben. Einer der schweren Vorhänge war, wie ich jetzt feststellen konnte, zur Hälfte von der Stange abgerissen. Ein Tisch, der in dem Erkerraum gestanden hatte, war umgestürzt. Ein Wandschirm lag ebenfalls umgefallen quer darüber. Überall herrschte die größte Unordnung. Kein Möbelstück stand mehr an seinem Platz. Einige der Stühle waren zerbrochen, so daß die Bruchstellen weiß leuchteten. All diese Beweise der erregten Szenen, die sich hier abgespielt haben mußten, wirkten doppelt unheimlich, angesichts des ehernen Schweigens, das jetzt im Zimmer herrschte. Ein einziges Möbelstück schien noch an seinem Platz zu stehen: der massige, mit Büchern und Schreibgeräten bedeckte Eichentisch gegenüber dem Kamin. Als ich ihn verwundert und zweifelnd betrachtete, knisterte es plötzlich im Feuer. Aus den Kohlen schoß eine lange Flammenzunge in die Höhe, und der Feuerschein fiel bis in den Winkel am Ende des langen Schreibtisches, der vorher im Schatten gelegen hatte. Dann bemerkte ich einen Gegenstand, der unter dem Schreibtisch dort drüben herausragte – einen menschlichen Fuß –, jawohl, einen menschlichen Fuß! Der funkelnde Widerschein der Flamme tanzte jetzt auf der lackledernen Kappe des Stiefels.


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