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Zwanzigstes Buch.

Telemachs Rath, die Stadt Venusia nicht zu überfallen, die beide Theile den Lukaniern als Hinterlage eingeräumt hatten, findet in der Versammlung du Heerführer Beifall. Er zeigt seine Klugheit bei Gelegenheit zweier Ueberläufer, wovon der eine, Akanthus genannt, sich unterzogen hatte, ihn vergiften zu wollen. Der andere hatte sich erboten, den Verbündeten das Haupt Adrasts zu überliefern. In der Schlacht, die hierauf erfolgt, stürzt Telemach alles vor sich nieder, um Adrasten zu finden. Dieser König, der auch ihn sucht, trifft auf Pisistratus, Nestors Sohn, und tödtet ihn, Philokles kommt dazu, und in Begriff, Adrasten zu durchbohren, wird er selbst verwundet und gezwungen; sich vom Kampfplatz zu entfernen. Telemach eilt auf das Geschrei der Seinigen herbei, unter denen Adrast ein schreckliches Blutbad anrichtet. Er besiegt diesen Feind, und schenkt ihm das Leben unter gewissen Bedingungen, die er ihm auflegt. Adrast erhebt sich vom Boden, und will Telemach hinterlistig tödten. Dieser ergreift ihn zum zweiten Mal, und nimmt ihm das Leben.


D ie Häupter versammelten sich, zu berathschlagen, ob sie sich Venusias bemächtigen sollten. Es war eine feste Stadt, und Adrast hatte sie vormals seinen Nachbaren, den paucetischen Apuliern, entrissen. Um sich wegen dieser Beeinträchtigung Recht zu verschaffen, waren sie dem Bunde gegen ihn beigetreten. Adrast hatte sodann diese Stadt den Lukaniern in Verwahrung gegeben, um jene zu besänftigen; aber er hatte sowohl die Besatzung als ihren Anführer durch Geld auf seine Seite gebracht, so daß die Lukanier wirklich wenig Gewalt in der Stadt hatten, als er, und die Apulier, die ihre Einwilligung zu dieser Besetzung Venusia's gegeben hatten, sich in diesem Handel betrogen sahen.

Ein Bürger aus Venusia, Demophantes genannt, hatte den Verbündeten den geheimen Antrag gethan, ihnen bei nächtlicher Weile eines der Thore der Stadt zu öffnen. Der Vortheil, der ihnen angeboten wurde, war um so größer, da Adrast alle seine Lebensmittel und Kriegsvorräthe in ein nahe bei Venusia gelegenes Schloß gebracht hatte, das sich nicht halten konnte, wenn Venusia eingenommen war. Schon hatten Philoktet und Nestor für die Benutzung dieser günstigen Gelegenheit gestimmt; und alle übrigen Anführer, durch das Ansehen dieser beiden Männer verführt, und verblendet durch den Vortheil einer so leichten Unternehmung, waren ihrer Meinung beigetreten. Aber Telemach bot bei seiner Rückkehr alles auf, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

»Ich weiß,« sagte er zu ihnen, »daß, wenn je ein Mensch verdient hat, durch List hintergangen zu werden, Adrast es verdient, er, der alle andere so oft betrogen hat. Auch sehe ich wohl, daß, wenn ihr euch Venusia's durch schnellen Ueberfall bemächtigen solltet, ihr euch nur in den Besitz einer Stadt setzen würdet, die euch angehört, weil sie ein Eigenthum der Apulier ist, welche mit euch im Bunde stehen, und ich gestehe, daß ihr es mit desto größerem Schein von Recht thun könntet, da Adrast, der diese Stadt andern zur Verwahrung einräumte, die Besatzung und ihren Befehlshaber bestochen hat, um, sobald er es nöthig findet, sie selbst in Besitz zu nehmen. Endlich sehe ich wohl ein, daß, wenn ihr Venusia wegnehmet, ihr euch zugleich in den Besitz des Schlosses setzet, in welchem Adrast alle seine Kriegsvorräthe aufgehäuft hat, und daß dieser furchtbare Krieg in zwei Tagen geendigt sein würde. Aber sollte es nicht rühmlicher sein, eher umzukommen, als durch so verwerfliche Mittel zu siegen? Sollten wir dem Betruge Betrug entgegensetzen? Werden wir es dulden, daß man von so vielen vereinigten Fürsten sage, daß sie, um den ruchlosen Adrast für seine Treulosigkeiten zu strafen, sich ähnliche Treulosigkeiten erlaubt haben? Ist es erlaubt, wie Adrast zu handeln, so ist dieser nicht strafbar, und wir sind nicht berechtigt, Rache an ihm zu nehmen. Wie? sollte das vereinigte Hesperien, sollten so viele griechische Pflanzstädte, so viele von Troja zurückgekehrte Helden keine anderen Waffen haben, um die Verräther und den Meineid zu bestrafen?

Schwort ihr nicht bei allem, was Menschen heilig ist, Venusia in den Händen der Lukanier zu lassen? Ihr sagt, die Lukanische Besatzung sei durch das Gold Adrasts bestochen: ich glaube es mit euch; aber noch steht die Besatzung im Solde der Lukanier, und sie weigert ihnen den Gehorsam nicht. Noch hat sie sich wenigstens dem Scheine nach auf keine Seite geschlagen, noch sind Adrast und seine Völker nicht nach Venusia gekommen. Der Vertrag besteht noch, und die Götter haben eurer Eidschwüre nicht vergessen. Soll man seine Zusage nur dann halten, wenn man keinen scheinbaren Vorwand hat, sie zu brechen? und werden wir unsern Schwüren nur dann treu bleiben, wenn nichts mit der Bundbrüchigkeit zu gewinnen ist? Wenn auch die Liebe der Tugend und die Furcht der Götter nichts mehr über euch vermögen, so müsse wenigstens eure eigene Ehre, euer eigener Vortheil euch rühren. Wenn ihr den Menschen das verderbliche Beispiel gebet, daß man sein Wort brechen, und seinen Eid verletzen dürfe, um einen Krieg zu endigen, welche neuen Kriege werdet ihr nicht durch ein so frevelhaftes Verfahren veranlassen? Welcher eurer Nachbarn wird nicht mit Furcht und Abscheu gegen euch erfüllt werden? Wer, wenn ihn auch die Noth noch so sehr dränge, würde sich hinfort auf euch verlassen können? Welche Sicherheit könntet ihr geben, wenn es auch eure Absicht wäre, redlich zu handeln, und euch daran läge, eure Nachbarn von eurer Aufrichtigkeit zu überzeugen? Wird ein feierlicher Vertrage euch Glauben verschaffen? Ihr habt einen gebrochen; einen Eidschwur? – Kann es ihnen wohl unbekannt sein, daß die Götter in euren Augen nichts sind, sobald euch der Meineid Vortheile. verspricht? Es wird also ebenso wenig Sicherheit gewähren, Friede mit euch zu haben, als im Kriege mit euch begriffen zu sein. Was ihr auch immer thun möget, man wird euch stets für heimliche oder erklärte Feinde ansehen, und alle diejenigen, welche so unglücklich sind, eure Nachbarn zu sein, werden in immerwährender Furcht vor euch schweben. Zu allen Verhandlungen, wobei es auf Ehre, Rechtschaffenheit und Zutrauen ankommt, werdet ihr untüchtig sein, und es wird nicht mehr in eurer Gewalt stehen, euren Zusicherungen Glauben zu verschaffen.

Aber,« fügte Telemach hinzu: »Lasset euch noch einen wichtigern Vortheil zeigen, der einen starken Eindruck auf euch machen muß, wenn ihr anders noch einiges Gefühl für Ehrlichkeit habt und im Stande seid, eure Wohlfahrt voraus zu sehen: Ein so betrügerisches Verfahren bedroht euer Bündniß von innen und wird seine Auflösung befördern; euer Meineid wird Adrasten den Sieg über euch verschaffen.«

Bei diesen Worten gerieth die ganze Versammlung in Bewegung; man fragte ihn, wie er behaupten könne, daß eine Handlung, die dem Bunde einen gewissen Sieg verschaffen würde, ihn zerstören würde.

»Wie ist es möglich,« antwortete er, »daß gegenseitiges Vertrauen zwischen euch statt finde, wenn ihr einmal Treu und Glauben, dieses einzige Band der Gesellschaft und des Zutrauens, gebrochen habt? Hab ihr einmal den Grundsatz angenommen, daß es erlaubt sei, um eines großen Vortheils willen,die Gesetze der Ehrlichkeit und der Treue zu übertreten, welcher von euch wird dem andern trauen, wenn er sich vorstellt, daß dieser Andere seinen Nutzen dabei finden könne, sein Wort zu brechen und ihn zu hintergehen? Wohin würde dies führen? Wer unter euch würde nicht der List seines Nachbars durch seine eigene zu vorzukommen suchen? Was muß aus einer Verbindung so vieler Völker werden, wenn sie, nach gemeinsamer Berathschlagung, unter sich einig geworden sind, daß es erlaubt sei, seinen Nachbar zu überlisten und sein gegebenes Wort zu verletzen? Zu welcher Höhe würde euer gegenseitiges Mißtrauen, eure Uneinigkeit und euer Bestreben steigen, euch unter einander zu zerstören? Adrast wird dann nicht mehr nöthig haben, euch anzufallen, ihr werdet euch hinlänglich unter einander selbst zerfleischen, und alle seine Treulosigkeiten werden gerechtfertigt werden.

Weise und edle Fürsten, die ihr mit soviel Klugheit über unzählige. Völker herrschet, verschmähet nicht den Rath eines Jünglings. Solltet ihr auch in die äußerste Noth gerathen, in welche der Krieg die Menschen bisweilen stürzt, eure Wachsamkeit und eure Anstrengung könnte euch wieder aus derselben retten, denn wahrer Muth läßt sich nicht unterdrücken; aber wenn ihr einmal die Schranken der Ehre und der Rechtschaffenheit niedergerissen habt, so ist dies ein unersetzlicher Verlust. Vergebens würdet ihr das Zutrauen wieder zu gewinnen suchen, das so nöthig ist, wenn man wichtige Zwecke erreichen will, vergebens euch bestreben, die Menschen wieder zur Tugend zurückzuführen, nachdem ihr sie gelehrt hättet, sie zu verachten. Was fürchtet ihr? Fehlt es euch etwa an Muth, den Sieg auch ohne Treulosigkeit zu gewinnen? Eure eigene Tapferkeit, durch die Macht so vieler Völker unterstützt, genügt sie euch nicht? Laßt uns kämpfen, und eher im Kampfe erliegen, wenn dies unser Loos ist, als den Sieg durch Niederträchtigkeit erkaufen. Adrast, der verworfene Adrast, ist in unsern Händen, wenn wir es nur verabscheuen, seine Niederträchtigkeit und Treulosigkeit nachzuahmen.«

Hier endigte Telemach seine Rede. Er fühlte, daß die süße Ueberredung ihm von den Lippen geflossen, und tief in die Herzen gedrungen war. Er bemerkte ein tiefes Schweigen in der Versammlung. Jeder dachte nicht an seine Person, nicht an die Anmuth seiner Worte, sondern au die Stärke der Wahrheit, die aus dem Zusammenhang seiner Gründe hervor leuchtete. Erstaunen war auf allen Gesichtern gemalt. Endlich hörte man ein dumpfes Gemurmel, das allmählich durch die ganze Versammlung lief. Einer sah den Andern an, und Keiner wagte es, zuerst zu reden. Man erwartete, daß die Anführer des Heers sich erklären würden, aber jeder hielt seine Empfindungen nur mit Mühe zurück.

Endlich begann der weise Nestor also:

»Würdiger Sohn des Ulysses, dich trieben die Götter, zu reden, und Minerva, die deinem Vater so oft eingab, was er sprechen sollte, legte den weisen und edlen Rath, den du uns ertheiltest, in deine Seele. Ich sehe nicht den Jüngling in dir, ich sehe nur die Göttin der Weisheit in Allem, was du sagtest. Du führtest die Sache der Tugend. Ohne sie sind die größten Vortheile wahrer Verlust. Wer sie verleugnet, zieht sich bald die Rache seiner Feinde, das Mißtrauen seiner Bundesgenossen, den Abscheu aller Rechtschaffenen und den gerechten Zorn der Götter zu. So bleibe denn Venusia in den Händen der Lukanier, und unser Bestreben gehe einzig dahin, Adrasten durch Tapferkeit zu besiegen.«

Er sprach's, und die ganze Versammlung gab diesen verständigen Worten Beifall. Aber indem er seinen Beifall ertheilte, sah jeder voll Verwunderung auf den Sohn des Ulysses; man glaubte ihn von Minerven begeistert, und ihre Weisheit aus ihm hervorleuchten zu sehen.

Bald erhob sich im Rathe der Könige eine neue Frage, wo Telemach sich nicht geringern Ruhm erwarb. Adrast, seinen grausamen und verrätherischen Gesinnungen getreu, hatte einen Ueberläufer, der sich Akanth nannte, ins Lager der Verbündeten gesendet, um die angesehensten Häupter des Heers zu vergiften; besonders hatte er ihm aufgetragen, alles anzuwenden, den jungen Telemach aus dem Wege zu räumen, der schon der Schrecken der Daunier war.

Telemach, zu muthig und zu edel denkend, dem Mißtrauen Raum zu geben, nahm diesen Unglücklichen ohne Bedenken freundschaftlich auf, der den Ulysses in Sizilien gesehen hatte, und ihm die Begebenheiten dieses Helden erzählte. Er nährte ihn, und bemühte sich, ihn in seinem Unglück zu trösten, denn Akanth klagte, von Adrasten hintergangen und mißhandelt worden zu sein. Aber Telemach nährte und wärmte in seinem Busen eine giftige Schlange, die im Begriff war, ihm eine tödtliche Wunde beizubringen.

Man ergriff einen andern Ueberläufer, Arion genannt, den Akanth an Adrasten abgeschickt hatte, um ihm von dem Zustande des Lagers Nachricht zu geben, und ihm zu melden, daß er am folgenden Tage die vornehmsten Fürsten nebst Telemach bei einem Gastmal vergiften würde, das dieser zu geben im Begriff sei. Arion, ergriffen, bekannte seine Verrätherei. Man argwohnte, daß er mit Akanth einverstanden sei, weil sie gute Freunde waren; aber Akanth, Meister in der Verstellung und unerschrocken, vertheidigte sich mit so vieler Geschicklichkeit, daß man ihn nicht überweisen, und nicht auf den Grund der Verschwörung kommen konnte.

Mehrere Fürsten waren der Meinung, daß man Akanthen auf allen Fall der allgemeinen Sicherheit aufopfern müsse.

»Man muß ihn hinrichten,« sagten sie; »das Leben eines Einzelnen ist für nichts zu achten, wenn es darauf ankommt, das Leben so vieler Fürsten zu erhalten. Mag auch ein Unschuldiger umkommen, wenn nur diejenigen gerettet werden, die die Stellvertreter der Götter unter den Menschen sind.«

»Welcher unmenschliche Grundsatz! Welche grausame Klugheit!« antwortete Telemach. »Wie? ihr seid so verschwenderisch mit dem Blute der Menschen? Ihr, die ihr zu Hirten der Völker bestellt seid, und nur über sie herrschet, um sie zu erhalten, wie ein Hirte seine Heerde erhalten soll, wisset, daß ihr keine Hirten, sondern blutdürstige Wölfe seid, wenigstens seid ihr nur Hirten, um eure Heerde zu scheeren und sie zu erwürgen, statt sie auf die Weide zu führen. Der Angeklagte ist in euren Augen ein Schuldiger, der Verdächtige verdient den Tod; die Unschuld ist der Willkühr des Neids und der Verläumdung Preis gegeben, und so wie das grausame Mißtrauen in euren Herzen wachsen wird, werdet ihr auch immer mehrerer Schlachtopfer bedürfen, um es zu versöhnen.«

Die Würde und der Nachdruck, womit Telemach sprach, rissen die Herzen dahin, und erfüllten die Urheber eines so schimpflichen Raths mit Scham. Endlich, sich mäßigend, fuhr er fort:

»Das Leben hat für mich keinen so großen Werth, daß ich es um einen solchen Preis erhalten möchte. Mag Akanth lasterhaft sein, wenn nur ich es nicht bin; mag er an mir zum Verräther werden und mir das Leben nehmen, wenn ich ihm nur nicht das seinige, ohne seiner Verrätherei gewiß zu sein, auf eine ungerechte Weise raube. Doch höret mich, ihr, die ihr zu Königen, das ist, zu Richtern des Volks gesetzt seid, denen obliegt, die Menschen mit Gerechtigkeit, Klugheit und Mäßigung zu richten, vergönnt mir, Akanthen in eurer Gegenwart zu fragen.«

Und nun befragte er diesen Menschen über seine Verhältnisse mit Arion; er trieb ihn durch Anführung einer Menge Umstände in die Enge; er drohte ihm oft scheinbar, ihn dem Adrast als einen Ueberläufer zur Bestrafung zurückzusenden, um zu sehen, ob er dadurch geschreckt würde oder nicht; aber Akanths Gesicht und Stimme blieb ruhig, und Telemach schloß daraus, daß er nicht unschuldig sein könnte.

Endlich, da er ihn nicht zum Geständniß der Wahrheit bringen konnte, sagte er zu ihm:

»Gib mir deinen Ring, damit ich ihn Adrasten zusende.«

Bei diesen Worten erblaßte Akanth; er gerieth in Verwirrung. Telemach, der die Augen stets auf ihn geheftet hatte, bemerkte es, und nahm den Ring.

»Ich werde ihn,« sagte er, »Adrasten durch den Lukanier Polytropus, den du kennst, übersenden; er soll vorgeben, insgeheim von dir abgeschickt zu sein. Erfahren wir auf diesem Wege dein Einverständniß mit Adrasten, so stirbst du des martervollsten Todes; gestehest du aber jetzt gleich dein Verbrechen, so sollst du Verzeihung erhalten,; und man wird sich begnügen, dich auf eine Insel zu bringen, wo es dir an nichts mangeln soll.«

Hierauf bekannte Akanth alles, und Telemach erhielt von den Fürsten, daß ihm das Leben geschenkt wurde, weil er es ihm versprochen hatte. Er wurde nach einer der echinadischen Inseln gebracht, wo er in Ruhe lebte.

Kurze Zeit darauf kam ein Daunier, von niedriger Geburt, aber kühnen und entschlossenen Geistes, Dioskorus genannt, bei Nachtzeit in das Lager der Verbündeten, und erbot sich, den König Adrast in seinem Zelt zu ermorden. Er konnte es, denn das Leben eines Andern ist in unserer Gewalt, so bald wir das unsrige für nichts mehr achten. Dieser Mensch glühte vor Rachgier, denn Adrast hatte ihm sein Weib geraubt, die an Schönheit der Venus glich, und die er leidenschaftlich liebte. Er war entschlossen, Adrasten zu tödten, und sein Weib wieder zu erhalten, oder selbst umzukommen. Er hatte geheime Einverständnisse, durch die es ihm möglich war, bei Nacht in das Zelt des Königs zu kommen, und konnte auf den Beistand mehrerer daunischen Feldherrn bei dieser Unternehmung rechnen. Aber er hielt für nöthig, daß die verbündeten Könige zu gleicher Zeit Adrasts Lager angriffen, damit er sich in der Verwirrung um so eher retten, und sein Weib wegbringen könnte. Sollte er sie nicht erhalten können, so war er zufrieden, den König getödtet zu haben, und wenn er auch selbst dabei umkommen müßte.

Sobald Dioskorus sein Vorhaben den Königen entdeckt hatte, wendete sich Jedermann gegen Telemach, als ob man wünschte, daß er entscheiden möchte.

»Die Götter,« antwortete er, »die uns vor Verräthern geschützt haben, wollen nicht, daß wir uns ihrer bedienen; und besäßen wir auch nicht Tugend genug, die Verrätherei zu verabscheuen, so würde schon unser eigener Vortheil uns antreiben müssen, sie von uns zu weisen. Rechtfertigen wir sie durch unser Beispiel, so verdienen wir, daß man sie auch gegen uns kehre, und von diesem Augenblicke an, wer von uns könnte mehr auf Sicherheit zählen? Adrast kann dem Streich entgehen, der ihm droht, und dieselben Waffen gegen uns kehren. Der Krieg wird kein Krieg mehr, Weisheit und Tugend entbehrlich, Treulosigkeit, Verrätherei und Meuchelmorde gewöhnliche Ereignisse sein. Die verderblichen Folgen dieser Laster würden uns treffen, und wir würden es verdienen, weil wir die schändlichste aller Handlungen gut geheißen hätten. Ich glaube daher, daß wir den Verräther Adrasten zurücksenden müssen. Zwar gestehe ich, daß Adrast diese Großmuth nicht verdient, aber ganz Hesperien und ganz Griechenland haben ihre Blicke auf euch gerichtet, und sie sind es werth, daß wir ihre Achtung durch eine solche Art zu handeln zu verdienen suchen. Wir sind es uns selbst und noch mehr den gerechten Göttern schuldig, Abscheu gegen die Verrätherei zu bezeigen.«

Sogleich wurde Dioskorus Adrasten ausgeliefert. Er zitterte vor der Gefahr, in der er gewesen war, und konnte die Großmuth seiner Feinde nicht genug bewundern, denn der Lasterhafte hat keinen Begriff von uneigennütziger Tugend. Wider seinen Willen mußte er dieser That seine Bewunderung ertheilen, aber er wagte es nicht, sie zu loben, denn das edelmüthige Betragen der Verbündeten weckte nur bei ihm die beschämende Erinnerung an alle seine Treulosigkeiten und Grausamkeiten. Er suchte das großmüthige Verfahren seiner Feinde herabzusetzen, und doch schämte er sich, gegen diejenigen undankbar zu scheinen, denen er sein Leben verdankte.

Aber das Herz verdorbener Menschen verhärtet sich bald wieder gegen Alles, was ihm bessere Gesinnungen einflößen könnte. Adrast sah, daß der Ruhm der Verbündeten mit jedem Tage höher stieg; er glaubte daher, daß er nicht säumen dürfte, sich durch irgend eine glänzende That Ehre zu erwerben, und da er keiner edlen fähig war, trachtete er wenigstens, durch die Waffen irgend einen großen Vortheil über sie zu erlangen, und eilte zum Kampfe.

Der Tag der Schlacht war angebrochen. Kaum hatte Aurora der Sonne die Pforten des Ostens geöffnet, und ihr den Pfad mit Rosen, bestreut, als Telemach durch seinen Eifer der Wachsamkeit der ältesten Feldherren zuvor kam, sich den Armen des balsamischen Schlafs entriß, und alle Anführer in Bewegung setzte. Schon strahlte der Helm, mit flatternden Federn geschmückt, auf seinem Haupte, und sein Panzer blendete die Augen des ganzen Heeres. Die eigenthümliche Schönheit seiner Waffen, ein Werk Vulkans, wurde durch den Glanz der Aegyde erhöht, welche in ihnen verborgen war. In der einen Hand hielt er eine Lanze, mit der andern wies er auf die Plätze hin, welche von dem Heere besetzt werden sollten.

Minerva hatte ein göttliches Feuer in seine Augen gegossen, und in seine Mienen hohe Kühnheit gelegt, welche zum Voraus den Sieg verkündigte. Er schritt voran, und alle Fürsten, ihres Alters und ihrer Würde vergessend, und wie durch eine höhere Kraft fortgerissen, folgten seinen Tritten. Die kleinliche Eifersucht fand keinen Eingang mehr in die Herzen. Alles weicht vor dem, den Minerva unsichtbar bei der Hand führt. In seinen Handlungen zeigte sich nichts Ungestümes, nichts Unbesonnenes mehr. Er war sanft, ruhig, gelassen, immer bereit, Andere zu hören, und ihren Rath zu nützen, aber thätig, vorsichtig, aufmerksam auf mögliche, noch entfernte Ereignisse, machte die besten Anordnungen, gerieth durch nichts in Verlegenheit, und setzte andere nie darein, entschuldigte die Fehler, machte das Versehen wieder gut, kam den Schwierigkeiten zuvor, forderte von Niemand zu viel, und flößte einem Jeden Freimüthigkeit und Zutrauen ein.

Gab er einen Befehl, so geschah es in den einfachsten und klarsten Ausdrücken; er wiederholte ihn, um demjenigen recht verständlich zu werden, der ihn ausführen sollte, und er sah es ihm an den Augen an, ob er ihn recht begriffen habe. Hatte er die Einsichten dessen, dem er einen Auftrag gab, auf diese Art geprüft, und ihn in den rechten Gesichtspunkt gestellt, so entließ er ihn nicht, ohne ihm irgend ein Zeichen der Achtung und des Zutrauens zu geben, damit er ihn desto mehr anfeuerte. Dies bewirkte, daß alle, denen er Aufträge gab, sich eifrig bestrebten, ihm zu gefallen, und sie glücklich zu vollziehen, und keine Furcht beengte ihr Herz, daß er ihnen den schlimmen Ausgang einer Sache beimessen würde, denn er entschuldigte alle Fehler, die aus keinem bösen Willen entsprangen.

Die ersten Strahlen der Sonne rötheten den Horizont, und der erwachende Tag goß seine Flammen über das Meer aus. Die ganze Küste war mit Menschen, Waffen, Rossen und Wagen bedeckt, alles war in Bewegung. Ein verwirrtes Getöse, gleich dem Tosen der empörten Wogen, wenn Neptun die schwarzen Stürme aus seinen Abgründen hervorruft, füllte die Luft. Schon hauchte Mars durch Waffengeklirr und schauderhaftes Schlachtgetümmel Wuth in alle Herzen. Das Feld starrte von Lanzen; sie bedeckten es, wie die Aehren, die zur Zeit der Ernte die fruchtbaren Furchen bedecken. Schon erhob sich eine Staubwolke, und entzog allmählig die Erde und den Himmel den Augen der Menschen. Verwirrung, Schrecken, Mordlust und der unerbittliche Tod stürmten daher.

Kaum waren die ersten Geschosse geflogen, so erhob Telemach Hände und Augen gen Himmel, und sprach diese Worte:

»Jupiter, Vater der Götter und der Menschen, du kennest die Gerechtigkeit unserer Sache, weißt, daß wir uns nicht schämten, den Frieden zu suchen. Wir streiten gegen unsere Neigung; gern hätten wir das Blut der Menschen geschont. Wir hassen nicht einmal unsern Feind, wiewohl er grausam, treulos und ein Verächter der Götter ist. Blicke herab, und entscheide zwischen ihm und uns. Hast du unsern Untergang beschlossen, so steht unser Leben in deiner Hand; soll aber Hesperien frei werden, und der Tyrann fallen, so wird deine Macht und die Weisheit Minervens, deiner Tochter, uns den Sieg verleihen. Dir allein wird aller Ruhm gebühren. Du bist es, der die Wage in der Hand, das Loos der Schlachten entscheidet. Wir kämpfen für deine Ehre, und da du Gerechtigkeit liebst, so ist Adrast mehr dein Feind, als der unsrige. Verleihest du uns den Sieg, ehe der Tag zu Ende geht, – und du führest deine eigene Sache – so soll das Blut von hundert Stieren von deinen Altären strömen.«

Er sprachs und eilends trieb er seine wilden und schäumenden Rosse in das dichteste Gedräng der Feinde.

Zuerst traf er auf Periander, den Lokrier, dessen Schultern mit der Haut eines Löwen bedeckt waren, den er auf einer Reise nach Cilicien getödtet hatte. Wie Herkules trug er eine ungeheure Keule; an Wuchs und Stärke glich er einem Riesen.

Als er Telemach erblickte, rief er, seine Jugend und die Schönheit seiner Bildung verachtend, ihm entgegen:

»Dir geziemt es wohl, junger Weichling, uns die Ehre des Siegs streitig zu machen! Steige hinab, Knabe, deinen Vater unter den Schatten zu suchen.«

Mit diesen Worten erhob er seine knotige, schwere, mit eisernen Spitzen beschlagene Keule. Sie glich einem Mast, und jeder zitterte vor dem mächtigen Schlag. Er schwang sie nach Telemachs Haupt, aber dieser beugt dem Streich aus, und stürzt sich mit der Schnelle eines Adlers, der die Lüfte theilt, auf Periandern. Die Keule zerschmetterte im Herabfallen das Rad eines Wagens, neben dem Wagen Telemachs. Aber der junge Grieche stieß Periandern den Spieß in die Kehle; das Blut strömte wallend aus der weiten Wunde und erstickte seine Stimme. Die wilden Rosse fühlten nicht mehr die erschlafften Hände ihres Führers, die Zügel sanken an ihrem Nacken herab; sie schweiften wild umher. Periander entstürzte dem Wagen; seine Augen schlossen sich dem Lichte, und die blasse Farbe des Todes ergoß sich über sein entstelltes Gesicht.

Telemach wurde von Mitleid gerührt, er gab den entseelten Leichnam Perianders den Dienern desselben, und nahm die Löwenhaut und die Keule als ein Zeichen des Sieges mit sich.

Jetzt suchte er Adrasten im Getümmel der Schlacht, aber indem er nach ihm umherblickt, stürzt er Schaaren Streitender hinab zum Orkus. Unter seinen Streichen fielen Hileus, dessen Rosse den Sonnenpferden glichen und einst in den weiten Ebenen weideten, die der Aufidus bewässert; Demoleon, der vordem in Sicilien im Cästuskampfe dem Crix beinahe gleich gekommen war; Crantor, Herkules Freund, den er einst bewirthete, als dieser Sohn Jupiters nach Hesperien kam, und dort dem schändlichen Cacus das Leben nahm; Menekrates, welcher, wie das Gerücht sagte, im Ringen dem Pollux nicht wich; Hippokoon, der Salapier, der mitgeschickter Hand und mit Anmuth, wie Castor, die Rosse zu lenken verstand; Eurymedes, der berühmte Jäger, gefärbt mit dem Blute der Bären und der wilden Schweine, die er auf den beschneiten Gipfeln der kalten Apennin erlegte; ihn habe, sagte man, Diana so sehr geliebt, daß sie ihn selbst in der Kunst, mit Pfeilen zu schießen, unterrichtet; Nikostratus, der Ueberwinder des Riesen, der in des Gargenus Felsenklüften Feuer ausspie; Cleanthus, der sich mit der jungen Pholon, der Tochter des Flusses Liris, vermählen sollte. Ihr Vater hatte sie demjenigen verheißen, der sie von einer beflügelten Schlange befreien würde, die an dem Ufer des Flusses hauste, und der sie in wenig Tagen nach dem Ausspruch des Orakels zum Raub werden sollte.

Dieser Jüngling, von zärtlicher Liebe getrieben, entschloß sich, mit Gefahr seines Lebens, das Ungeheuer zu tödten. Sein Wagestück gelang ihm, aber er genoß die Frucht seines Sieges nicht. Denn während Pholon sich zur Feier der lieblichen Hochzeit rüstete, und den Cleanth mit Sehnsucht erwartete, vernahm sie, daß er Adrasten in den Streit gefolgt sei, und die grausame Parze den Faden seiner Tage abgeschnitten habe. Ihre Klagen erfüllten die Wälder und die Gebirge längs dem Flusse. Ihre Augen schwammen in Thränen; sie raufte sich ihre schönen Haare aus, sie verschmähte die Blumen, die sie sonst gepflückt hatte, ihre Stirn damit zu bekränzen, und klagte den Himmel der Ungerechtigkeit an. Da ihre Thränen Tag und Nacht flossen, so erbarmten sich die Götter ihrer Leiden, und endigten, vom Flehen des Vaters gerührt, ihre Qualen. Noch flossen ihre Thränen, als sie plötzlich in eine Quelle verwandelt wurde, die sich in den Fluß ergießt, und ihr Wasser mit den Wellen des Gottes, ihres Vaters, vermischt. Aber das Wasser dieser Quelle ist stets bitter; kein blühendes Gras entkeimt ihrem Ufer, und nur die traurige Cypresse beschattet es.

Mittlerweile vernahm Adrast, daß Telemach ringsumher Schrecken verbreitete, und er eilte, ihn auszulachen. Er hoffte, den Sohn des Ulysses, der noch im zarten Jugendalter war, leicht zu besiegen. Dreißig Daunier von ungewöhnlicher Gewandtheit, Stärke und Kühnheit umgaben ihn, und er hatte ihnen große Belohnungen verheißen, wenn sie den Telemach, auf welche Art es auch sei, im Gefecht erlegen würden. Wäre Adrast gleich zu Anfang der Schlacht auf ihn gestoßen, und hätten diese Männer seinen Wagen umzingelt, während er selbst den Telemach von vorn angegriffen hätte, so würde es ihnen leicht gewesen sein, ihm das Leben zu rauben, aber Minerva führte sie irre.

Jetzt däucht es Adrasten, er sehe und höre Telemach in einer Ebene, wo sie sich gegen den Fuß eines Hügels senkte, und ein dichtes Gedräng von Streitenden war. Er fliegt eilends dem Orte zu; er dürstet nach Blut, aber er findet den Telemach nicht. Er erblickte Nestorn, der mit zitternder Hand ungewisse Pfeile abschoß, die des Ziels verfehlten. Adrast, von Wuth entflammt, wollte ihn durchbohren, aber eine Schaar von Pyliern drängte sich um den Greis, und rettete ihn.

Eine Wolke von Pfeilen verfinsterte die Luft, und hüllte die Streitenden ein. Man hörte nichts als das Wehklagen der Sterbenden und das Getös der Waffen derer, die im Gewühl der Schlacht niederstürzten. Der Boden ächzte unter der Last der entseelten Körper. Ströme von Blut flossen nach allen Seiten. Mars und Bellona, von den höllischen Furien umgeben, deren Gewänder von ekelm Blute troffen, weideten ihre grausamen Augen an diesem Schauspiel, und fachten stets neue Wuth in den Herzen an. Diese menschenfeindlichen Gottheiten scheuchten weit von beiden Heeren das großmüthige Mitleiden, die sanfte Menschlichkeit und die Tapferkeit, die sich zu mäßigen weiß.

In diesem wilden Gewühl blutgieriger Menschen raste nur Mordlust, Rache, Verzweiflung, thierische Wuth. Selbst Pallas, die weise und unüberwindliche Göttin, schauderte bei diesem Anblick und bebte vor Entsetzen zurück.

Indeß eilte Philoktet mit gehaltenen Schritten, Herkules Pfeile in der Hand, zu Nestors Hülfe herbei. Adrast hatte sich fruchtlos bemüht, den göttlichen Greis mit seinem Geschoß zu erreichen, aber viele Pylier, von seinen Pfeilen zur Erde gestreckt, wälzten sich vor ihm im Staube. Zu seinen Füßen sank Etesilaus, der Schnellfüßige; kaum erblickte man, wenn er dahin flog, die Spuren seiner Tritte im Sande; in seinem Laufe eilte er sogar den schnellfließenden Wassern des Eurotas und Alpheus zuvor; Eutiphon, schöner als Hylas und ein kühner Jäger, wie Hippolytus; Pterelaus, der vordem Nestorn zur Belagerung von Troja gefolgt war, und den selbst Achill wegen seines Muths und seiner Leibesstärke schätzte; Aristogiton, – einst badete sich dieser in den Wellen des Achelous, da ertheilte ihm dieser, Gott, wie man sagte, insgeheim die Eigenschaft, jede Gestalt anzunehmen; auch war er so biegsam und behende in allen seinen Bewegungen, daß er den stärksten Händen entschlüpfte; aber Adrast streckte ihn mit seiner Lanze zu Boden, und raubte ihm die Bewegung, und seine Seele entfloh mit seinem Blute.

Nestor, der seine tapfersten Krieger unter der Hand des grausamen Adrast fallen sah, wie die goldenen Aehren unter der scharfen Sense eines rastlosen Schnitters zur Erntezeit hinsinken, dachte nicht mehr an die Gefahr, der er sein hohes Alter fruchtlos aussetzte. Die Klugheit war von ihm gewichen; seine Augen folgten nur seinem Sohne, der mit feurigem Muth den Kampf bestand, um die Gefahr von seinem Vater zu entfernen. Aber der verhängnisvolle Augenblick war gekommen, wo Pisistratus seinen Vater lehren sollte, wie unglücklich man oft ist, wenn man allzu lange gelebt hat.

Pisistratus hatte seine Lanze mit solcher Wuth nach Adrasten geschleudert, daß er den Daunier niedergestreckt haben würde, wenn er ihr nicht ausgewichen wäre. Aber während Pisistratus, den der mißlungene Wurf aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, seine Lanze wieder an sich zog, schoß ihm Adrast den Speer mitten durch den Bauch. Seine Eingeweide ergossen sich mit einem Strom von Blut. Die blühenden Wangen erbleichten, wie eine welkende Blume, die die Hand einer Nymphe auf der Wiese pflückte. Schon waren seine Augen halb erloschen; die Zunge stammelte. Sein Lehrer, Alceus, der neben ihm stand, unterstützte den Sinkenden, und hatte nur so viel Zeit, ihn in die Arme seines Vaters zu führen. Hier wollte er sprechen, um seinem Vater die letzten Beweise seiner Zärtlichkeit zu geben, aber als er den Mund öffnete, entfloh die Seele.

Indeß Philoktet Alles um sich her niederwürgte und überall Schrecken verbreitete, um dem Andrange Adrastens Einhalt zu thun, hielt Nestor den Leichnam seines Sohnes fest in seinen Armen. Seine Klagen erfüllten die Luft; das Licht wer ihm verhaßt.

»Weh mir!« schrie er aus, »warum bin ich Vater geworden, warum habe ich so lange gelebt? Grausames Geschick! warum endigtest du nicht meine Tage, als ich ausging, das kaledonische Schwein zu tödten, oder als ich nach Kolchos segelte, oder bei der Belagerung von Troja? Dann wäre ich rühmlich und ohne Kummer gestorben. Jetzt aber werde ich meine alten Tage traurig, verachtet und hülflos verleben, nur leben, um zu leiden, und keine andere Empfindungen mehr haben, als den Gram. O mein Sohn, Pisistratus, mein Geliebter! Als ich deinen Bruder Antilochus verlor, da bliebst du mir noch, mich zu trösten; nun habe ich dich nicht mehr; mit dir ist mir alles entrissen, und kein Trost bleibt mir mehr übrig; Alles hat für mich ein Ende: die Hoffnung, das einzige Labsal des kummervollen Menschen, ist auf immer für mich verschwunden. Antilochus, Pisistratus, theure Kinder, ist mir doch, als ob ich euch heute beide auf einmal verlöre! Der Tod des Einen öffnet die Wunde wieder, die der Andere meinem Herzen schlug. Ich werde euch nicht mehr sehen! Wer wird mir die Augen schließen, wer meine Asche sammeln. O Pisistratus! du starbst wie dein Bruder, als ein Held; nur mir, mir allein ist es nicht vergönnt, zu sterben!«

Indem er dies sagte, wollte er sich selbst mit der Lanze durchbohren, die er in der Hand hielt, aber man hielt ihn zurück. Man entriß ihm den Leichnam seines Sohnes, und da der unglückliche Greis in Ohnmacht hinsank, brachte man ihn in sein Zelt. Nachdem er sich wieder ein wenig erholt hatte, wollte er in den Streit zurückkehren, aber man hielt ihn wider seinen Willen zurück.

Unterdessen suchten sich Adrast und Philoktet. Ihre Augen funkelten, wie die Augen eines Löwen und eines Leoparden, die sich in den Gefilden, die der Caystrus durchströmt, zu zerreißen suchen. Drohendes Verderben, zerstörende Wuth, grimmige Rache flammten aus ihren wilden Blicken. Sie bringen unvermeidlichen Tod, wohin ihre Streiche fallen. Entsetzen faßte alle Krieger bei ihrem Anblick. Schon ersehen sie einander. Philoktet hält einen von jenen furchtbaren Pfeilen in der Hand, die ihres Zieles nie verfehlen, und deren Wunden unheilbar sind. Aber Mars, der dem grausamen und unerschrockenen Adrast beistand, wendete seinen allzu frühzeitigen Tod ab; die Schrecken des Krieges sollten durch ihn verlängert, des Blutes noch mehr durch ihn vergossen werden; noch länger sollte Adrast den gerechten Göttern zum Werkzeug dienen, die Menschen zu strafen, und ihr Blut zu vergießen.

In eben dem Augenblick, als Philoktet seinen Feind anfallen wollte, wird er selbst von einer Lanze verwundet, die Amphimachus, ein junger Lukanier, auf ihn warf; Amphimachus, schöner als der berühmte Nereus, der unter allen Griechen, die vor Troja kämpften, nur dem Achill an Reizen des Körpers wich. Kaum hatte Philoktet die Wunde empfangen, so schoß er seinen Pfeil auf Amphimachus ab. Er drang ihm durchs Herz. Sogleich erlöscht das Feuer seiner schönen, schwarzen Augen; die Schatten des Todes bedecken sie. Der liebliche Mund, röther als die Rosen, womit die erwachende Aurora den Horizont überstreut, entfärbt sich. Eine grauenvolle Blässe ergießt sich über seine Wangen; das zarte und anmuthige Gesicht entstellt sich auf einmal. Philoktet selbst fühlte Mitleiden mit ihm und alle Streitenden seufzten, als sie sahen, wie dieser Jüngling sich in seinem Blute wälzte, und seine schönen Haare, schöner als die Haare Apolls, durch den Staub hinschleppte.

Als Philoktet den Amphimachus erlegt hatte, wurde er genöthigt, sich aus dem Treffen zu entfernen. Sein Blut floß, seine Kraft verließ ihn. Auch seine alte Wunde schien sich durch die Anstrengung im Gefecht wieder öffnen und seinen Schmerz erneuern zu wollen; denn trotz ihrer göttlichen Kunst hatten ihn die Söhne Aeskulaps nicht vollkommen heilen können. Schon war er im Begriff, auf einen Haufen blutbefleckter Leichname, die ihn umgaben, niederzusinken, und jetzt würde ihn Adrast ohne Mühe zu seinen Füßen gelegt haben, wenn Archidamas, der Kühnste und Behendste unter den Oebaliern, die er mit sich gebracht hatte, um ihm Pitilia gründen zu helfen, ihn nicht aus dem Treffen getragen hätte. Jetzt findet Adrast keinen Widerstand mehr; nichts vermag seinen Sieg aufzuhalten; Alles stürzt vor ihm nieder oder flieht. Er stürmt einher, wie ein Strom, der aus seinem Ufer tritt, und dessen wüthende Wellen Ernten, Heerden, Hirten und Dörfer mit sich fortreißen.

Telemach hört von fern das Triumphgeschrei der Sieger; er sieht die Seinen in Unordnung, sieht sie vor Adrasten fliehen, gleich einem Haufen furchtsamer Hirsche, die über Felder und Gebirge und durch Wälder fliehen, und selbst über die reißendsten Ströme setzen, wenn sie von den Jägern verfolgt werden.

Telemach seufzt; der Zorn blitzt aus seinen Augen. Er verläßt den Ort, wo er lange mit Gefahr und Ruhm gestritten hatte; er eilt, den Seinigen beizustehen; er dringt vorwärts, ganz mit dem Blute der zahllosen Feinde überströmt, die er in den Staub gelegt hat; er erhebt von fern ein lautes Geschrei; beide Heere vernehmen es.

Minerva hatte etwas Furchtbares in seine Stimme gelegt; alle umliegenden Berge wiederhallten von ihr. Nie erscholl die furchtbare Stimme des Kriegsgottes lauter, wenn er den höllischen Furien, dem Krieg und dem Tod in Thrazien ruft. Telemachs Schlachtruf führt Muth und Kühnheit in die Herzen der Seinigen zurück; starres Entsetzen ergreift die Feinde; Adrast selbst geräth in Unruhe, und schämt sich seiner Schwäche. Tausend traurige Vorbedeutungen machen ihn schaudern; er wird mehr von der Verzweiflung, als von ruhigem Muthe vorwärts getrieben. Dreimal begannen seine zitternden Knie unter ihm einzusinken, dreimal bebte er zurück, ohne zu wissen, was er that, Blässe der Ohnmacht und kalter Schweiß ergießen sich über alle seine Glieder; seine heisere und stammelnde Stimme ist unfähig, die Worte zu endigen. Die Augen, aus denen ein düsteres Feuer blitzt, treten ihm weit aus dem Kopfe. Man sieht ihn, wie einst den Orestes, von den Furien gepeinigt; alle seine Bewegungen sind krampfhaft. Jetzt fing er an zu glauben, daß es Götter gebe. Es däuchte ihm, sie in zürnender Gestalt zu sehen, und tief aus dem Abgrunde eine dumpfe Stimme zu vernehmen, die ihn in den schwarzen Tartarus hinabrief. Alles kündigte ihm an, daß eine himmlische und unsichtbare Hand über seinem Haupte schwebe, die im Begriff sei, zertrümmernd auf ihn herabzufallen. Die Hoffnung war in seinem Herzen erloschen; sein Muth erstarb, wie das Licht des Tages erstirbt,wenn die Sonne in den Schooß der Wellen sinkt, und die Erde sich in die Schatten der Nacht hüllt.

Adrasts letzte Stunde war gekommen, Adrasts, des Ruchlosen, der zu lange die Erde belastete, hätten die Menschen nicht eine solche Züchtigung vonnöthen gehabt. Der Sinne beraubt, rannte er seinem unvermeidlichen Untergange entgegen. Das Entsetzen, die quälende Reue, die Bestürzung, die Wuth, die Raserei, die Verzweiflung gehen mit ihm.

Kaum erblickt er Telemach, so ist ihm, als ob er den Schlund des Avernus sich öffnen, und die Flammenströme, die der schwarze Phlegeton ausstößt, hervorbrechen sähe, um ihn zu verschlingen. Er schreit, und der offne Mund schließt sich nichts mehr, und ist unfähig, ein Wort hervorzubringen, gleich einem Menschen, der im Schlaf, von einem schreckenden Traum geängstigt, den Mund öffnet, und sich bemüht zu reden; aber er bemüht sich umsonst, er findet die Sprache nicht. Mit hastiger zitternder Hand schleudert Adrast seinen Speer auf Telemach. Dieser, unerschrocken, als ein Verehrer der Götter, deckt sich mit seinem Schilde. Der Sieg scheint ihn mit seinen Fittigen zu überschatten, und eine Krone über seinem Haupte zu halten. Ruhiger, gelassener Muth leuchtet aus seinen Augen. Man hätte ihn für Minerven selbst halten sollen, so bedachtsam und gesetzt blieb er in der größten Gefahr.

Adrasts Lanze prallte von Telemachs Schilde zurück und nun eilte jener, sein Schwert zu ziehen, damit der Sohn des Ulysses nicht Zeit gewinnen sollte, seine Lanze ebenfalls nach ihm zu werfen. Als Telemach Adrasten, das Schwert in der Hand, erblickt, ergreift er das seinige auch, und gebraucht seine Lanze nicht.

Die andern legten ihre Waffen nieder, als sie diese beiden so in der Nähe kämpfen sahen, und betrachteten mit Aufmerksamkeit den Ausgang des Gefechts, von dem man den Ausschlag des ganzen Kriegs erwartete. Beider schimmernde Schwerter durchkreuzen sich wie Blitze, denen die Donnerkeile folgen, und gleiten fruchtlos von der geglätteten Rüstung ab, welche von ihren Streichen ertönt. Die Kämpfer strecken sich aus, ziehen sich zusammen, bücken sich, und erheben sich dann plötzlich wieder. Endlich fassen sie sich beim Leibe. Der Epheu schlingt sich nicht fester mit seinen verschlungenen Ranken um den harten und knotigen Stamm einer Ulme, an deren Fuß er wächst, bis zu ihren höchsten Zweigen hinauf, als die beiden Kämpfer sich umschlangen. Adrast war in einem Alter, wo er noch nichts von seiner Stärke verloren hatte. Telemach war noch nicht völlig zum Manne gereift.

Adrast machte mehrere Versuche, seinem Feinde mit List beizukommen, und ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Vergebens suchte er sich des Schwerts seines Gegners zu bemächtigen. Telemach ersah den Augenblick, da er nach demselben greifen wollte, hob Adrasten in die Höhe, und stürzte ihn auf den Sand. Jetzt zeigte dieser Elende, der die Götter immer verachtet hatte, eine entehrende Furcht vor dem Tode. Er schämte sich, um sein Leben zu bitten, und doch konnte er es nicht verbergen, daß er es zu erhalten wünschte. Er bemühte sich, Telemachs Mitleiden zu erregen.

»Sohn des Ulysses,« sprach er zu ihm, »jetzt erkenne ich, daß die Götter gerecht sind; ich habe die Strafe verdient, die sie über mich verhängen. Der Mensch sieht die Wahrheit nicht eher, als bis ihm das Unglück die Augen öffnet; jetzt erblicke ich sie, und sie verurtheilt mich. Aber das unglückliche Schicksal eines Königs müsse dich an deinen Vater erinnern, der fern von Ithaka lebt, und dein Herz zum Mitleiden bewegen.«

Telemach, der ihn unter sich hielt, und sein Schwert schon erhoben hatte, um es ihm in die Kehle zu stoßen, gab ihm zur Antwort:

»Ich suche nichts, als den Völkern, denen ich zu Hülfe kam, den Sieg und den Frieden zu verschaffen. Ich finde kein Vergnügen daran, Menschenblut zu vergießen. Lebe also, Adrast, aber lebe, um deine Vergehungen wieder gut zu machen; gib heraus, was du mit Unrecht an dich gerissen hast. Führe wieder Ruhe und Gerechtigkeit an Großhesperiens Gestade zurück, die du durch so viel Blutvergießen und so manche Verräthereien entweihtest. Lebe, und werde ein besserer Mensch. Lerne durch deinen Fall, daß die Götter gerecht und die Lasterhaften unglücklich sind, daß sie sich täuschen, wenn sie durch Gewalt, Unmenschlichkeit und Lügenhaftigkeit glücklich zu werden hoffen, und daß nichts so süß, nichts so beglückend ist, als ungeheuchelte und standhafte Tugend. Gib uns deinen Sohn Metrodorus nebst zwölf der Vornehmsten deines Volks zu Geißeln.«

Telemach sprach's, ließ Adrasten wieder aufstehen, und reichte ihm die Hand, ohne Mißtrauen in seine Ehrlichkeit zu setzen. Aber in eben dem Augenblick wirft Adrast einen andern sehr kurzen Wurfspieß, den er verborgen hatte, nach ihm. Er war so spitzig und er schleuderte ihn mit so geübter Hand, daß er Telemachs Rüstung durchbohrt haben würde, wenn sie nicht göttlich gewesen wäre. Zu gleicher Zeit rettete sich Adrast hinter einen Baum, um dem Nachsetzen des jungen Griechen zu entgehen.

Dieser rief aus:

»Ihr sehet es, Daunier, der Sieg ist in unsern Händen; der Niederträchtige weiß sich nur durch Verrätherei zu retten. Wer die Götter nicht fürchtet, fürchtet den Tod; derjenige aber, der sie fürchtet, kennt keine andere Furcht.«

Indem er diese Worte sagte, geht er auf die Daunier los, und gibt den Seinigen, die sich auf der andern Seite des Baumes befanden, ein Zeichen, dem treulosen Adrast den Weg zu verrennen. Adrast, im Begriff, überwältigt zu werden, thut, als ob er wieder umkehren wollte, und bemüht sich, die Kreter über den Haufen zu werfen, die ihm den Weg versperren. Aber schnell wie ein Donnerkeil, den die Hand des Vaters der Götter vom hohen Olymp herab auf die Schuldigen schleudert, stürzt Telemach auf seinen Feind, ergreift ihn mit siegender Hand und stürzt ihn zu Boden, wie der wilde Nord das zarte Getreide niederwirft, das die Fluren vergoldet.

Noch einmal versucht es der Frevler, das mitleidige Herz seines Ueberwinders zu täuschen, aber dieser hört ihn nicht mehr, sondern stößt ihm das Schwert durch den Leib, und stürzt ihn hinab in die Flammen des schwarzen Tartarus, um den Lohn zu empfangen, den seine Verbrechen verdienten.



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