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Sechstes Buch.

Telemach erzählt, daß er das Königthum von Kreta ausgeschlagen habe, um nach Ithaka zurückzukehren; daß er den Vorschlag gethan, Mentorn zu wählen, dieser aber sich auch geweigert habe, das Diadem anzunehmen; daß zuletzt die Versammlung in Mentor gedrungen, im Namen des ganzen Volks einen König zu wählen, und dieser ihnen verkündet habe, was er von den Tugenden des Aristodemus vernommen, der sodann zur Stelle zum König ausgerufen worden sei; daß Mentor und er sich hierauf eingeschifft, um nach Ithaka zurückzukehren, aber daß Neptun, die erzürnte Venus zu beruhigen, ihren Schiffbruch bewirkt, worauf sie die Göttin Kalypso in ihre Insel aufgenommen habe.


» J etzt traten die Alten aus dem Bezirk des geheiligten Gehölzes. Der erste derselben nahm mich bei der Hand, und that dem Volke das mit ungeduldiger Erwartung der Entscheidung entgegen sah, kund, daß ich den Preis davon getragen hätte. Kaum hatte er zu reden aufgehört, als man ein verworrenes Getöse in der ganzen Versammlung vernahm. Ein allgemeines Freudengeschrei erhob sich dann. Das ganze Ufer des Meeres und alle umliegenden Berge erschallten von dem Ausruf: ›Der Sohn des Ulysses, so ähnlich dem Minos, sei König der Kreter.‹

Ich wartete einen Augenblick, sodann aber gab ich durch ein Zeichen mit der Hand zu verstehen, daß ich wünschte, gehört zu werden.

Mentor sagte mir leise:

»Wirst du wohl deinem Vaterlande entsagen? wird die Begierde zu herrschen dich Penelopens, die deiner sehnsuchtsvoll, als ihrer letzten Hoffnung, harrt, dich des großen Ulysses vergessen lassen, den dir wiederzugeben die Götter beschlossen haben?‹

Diese Worte durchdrangen mein Herz, und stärkten mich gegen den eitlen Wunsch zu herrschen.

Ein tiefes Schweigen lag jetzt auf der ganzen stürmischen Versammlung, und setzte mich in den Stand also zu sprechen:

»Erlauchte Kreter, ich fühle mich nicht würdig, euer Herrscher zu sein. Das Orakel, das ihr anführet, deutet wohl, an, daß Minos Geschlecht aufhören werde zu regieren, wenn ein Fremdling auf diese Insel kommen würde, um die Gesetze dieses weisen Königs wieder in ihre Rechte einzusetzen, aber es sagt nicht, daß dieser Fremdling selbst regieren werde. Ich will glauben, daß ich dieser vom Orakel bezeichnete Fremdling bin; ich habe die Weissagung erfüllt; ich bin auf diese Insel gekommen, ich habe den wahren Sinn der Gesetze enthüllt, und ich wünsche, daß die Auslegung, die ich ihnen gegeben habe, das Mittel sei, ihnen zugleich mit dem Manne, den ihr zu eurem König wählen werdet, die Herrschaft über euch zu verschaffen. Ich selbst ziehe mein Vaterland, das arme kleine Ithaka, euren hundert Städten, der Herrlichkeit und dem Reichthum dieses schönen Königreichs vor. Vergönnet mir, dem Rathschlusse des Himmels zu folgen. Wenn ich in euern Spielen gekämpft habe, so war es nicht die Hoffnung, in diesem Lande zu herrschen, die mich trieb; ich wollte nur eure Achtung, euer Mitleid verdienen, es geschah, damit ihr mir behülflich sein möchtet, bald an den Ort meiner Geburt zu gelangen. Ich achte es höher, meinem Vater zu gehorchen, als über alle Völker der Welt zu herrschen. Kreter! ich habe euch mein Herz aufgeschlossen; ich muß mich von euch trennen; aber meine Dankbarkeit gegen euch wird nur mit meinem Leben enden. Bis zu seinem letzten Hauch wird Telemach die Kreter lieben, und ihr Ruhm wird ihm nicht minder theuer sein, als sein eigener.‹

Ich hatte kaum diese Worte gesprochen, als sich ein dumpfes Getöse erhob, dem Brausen der Meereswogen gleich, die im Sturm zusammen schlagen. Einige sagten: ›Ist dies etwa eine Gottheit in menschlicher Bildung?‹ Andere vermeinten, mich schon in andern Ländern gesehen zu haben, und mich zu kennen. Dagegen riefen andere aus: ›Laßt uns ihn zwingen, in diesem Lande zu herrschen.‹

Ich erhob meine Stimme abermals, und alles verstummte schnell, weil man nicht wußte, ob ich mich etwa nicht noch entschließen würde anzunehmen, was ich anfangs ausgeschlagen hatte. Ich sagte ihnen diese Worte:

›Erlaubet, o Kreter, daß ich euch mein Inneres enthülle. Ihr seid das weiseste aller Völker; aber sollte die Weisheit nicht auch Vorsicht gebieten? und diese mangelt euch. Nicht derjenige verdient eure Wahl, der am besten über die Gesetze spricht, sondern derjenige, welcher sie mit tugendhafter Standhaftigkeit ausübt. Ich selbst bin noch in den Jahren der Jugend, ohne Erfahrung, dem Ungestüm der Leidenschaften ausgesetzt, und schicke mich besser dazu, durch Gehorchen mich einst zum Herrscheramt tüchtig zu machen, als es jetzt schon zu verwalten. So suchet also nicht denjenigen, der andern an Leibesstärke und Einsichten überlegen ist, nicht den, der andere, sondern den, der sich selbst besiegt hat; suchet einen Mann, in dessen Brust eure Gesetze eingegraben seien, und dessen ganzes Leben eine Ausübung derselben sei; seine Handlungen und nicht seine Worte müssen eure Wahl leiten.«

Die Alten vernahmen meine Worte mit Wohlgefallen, und da sie sahen, daß das Zujauchzen der Versammlung immer zunahm, sprachen sie also zu mir:

›Weil es denn der Götter Wille nicht ist, daß du über uns herrschest, so hilf uns wenigstens einen König finden, der unsern Gesetzen Kraft gebe. Kennst du einen, der die dazu erforderliche Mäßigung besitzt?‹

Ich antwortete ihnen:

›Ich kenne einen Mann, dem ich alles, was ihr an mir schätzet, zu verdanken habe. Seine Weisheit ist es, und nicht die meinige, die aus mir sprach, und mir alle die Antworten eingab, welche ihr vernommen habt.‹

Sogleich warf die ganze Versammlung die Augen auf Mentor, den ich bei der Hand nahm, und ihnen zeigte. Ich erzählte, welche Sorge er in meiner Kindheit für mich getragen, welchen Gefahren er mich entrissen, und wie unglücklich ich geworden, sobald ich mich seiner Leitung entzogen hätte.

Man hatte ihn nicht sogleich bemerkt wegen seines einfachen und schlichten Anzugs, seines bescheidenen Anstands, seines fast immerwährenden Stillschweigens und seiner ernsten, zurückhaltenden Miene. Aber wenn man ihn genauer betrachtete, entdeckte man in seinem Gesicht eine gewisse Festigkeit und Erhabenheit, die Lebhaftigkeit seiner Augen und die Kraft, womit er auch die gleichgültigsten Handlungen verrichtete, wurden sichtbar. Man legte ihm verschiedene Fragen vor; man bewunderte ihn, und entschloß sich, ihn zum König zu wählen.

Ruhig lehnte er diesen Antrag von sich ab.

›Ich ziehe,‹ so sprach er, ›die Annehmlichkeiten des Privatlebens dem Glanze der Königswürde vor. Die besten Regenten,‹ sagte er, ›sind unglücklich, weil sie nur selten ihre guten Vorsätze ausführen können, und so oft, von Schmeichlern hintergangen, das Böse thun, so sie verabscheuen. Ist die Dienstbarkeit,‹ fügte er hinzu, ›ein unglücklicher Zustand, so ist es der Regentenstand nicht minder, er, der nur eine übertünchte Dienstbarkeit ist. Ein Fürst ist von allen den Menschen abhängig, deren Beistand er bedarf, um sich Gehorsam zu verschaffen. Glücklich ist derjenige, der die Verbindlichkeit nicht hat, zu regieren! Unser Vaterland allein, wenn es uns die höchste Gewalt anvertrauen will, kann fordern, daß wir ihm, des allgemeinen Bestens wegen, unsere Freiheit zum Opfer bringen.‹

Die Kreter, unvermögend, sich von ihrem Erstaunen zu erholen, fragten ihn sodann: ›Wen sollen wir denn zu unserm Könige wählen?‹

›Einen Mann,‹ erwiederte er, ›der eine genaue Kenntniß von euch hat, die er regieren soll, der sich aber zugleich scheut, dieses Amt zu übernehmen. Wer die Königswürde wünscht, kennt sie nicht, und wie sollte er die Pflichten seines Amtes erfüllen, da sie ihm unbekannt sind? Er sucht sie nur für sich, und euch muß daran gelegen sein, einen Mann zu finden, der dieses Amt aus Liebe zu euch übernehme.‹

Die Kreter, hoch erstaunt, zwei Fremdlinge zu sehen, die eine Würde ausschlagen, nach der so viele andere streben, begehrten zu wissen, in welcher Gesellschaft wir hierher gekommen wären. Nausikrates, der uns vom Hafen bis an den Ort begleitet hatte, wo die Spiele gefeiert wurden, zeigte ihnen Hazael, mit dem Mentor und ich von der Insel Cypern gekommen wären. Wie groß war ihre Verwunderung, als sie vernahmen, daß Mentor Hazaels Sclave gewesen, daß dieser, durch die Weisheit und Tugend seines Leibeigenen bewogen, ihn zu seinem Rathgeber und vertrauten Freund gemacht, daß dieser Leibeigene, den sein Herr in Freiheit gesetzt, derselbe sei, der so eben die Königswürde ausgeschlagen, und daß Hazael von Damascus in Syrien nach Kreta gekommen sei, um sich in den Gesetzen des Minos zu unterrichten. So sehr habe die Liebe zur Weisheit sein Herz erfüllt.

›Wir wagen es nicht,‹ sagten die Alten zu Hazael, ›dich zu bitten, über uns zu herrschen, denn wir vermuthen, daß du mit Mentorn gleiche Gesinnungen hegest. Du verachtest die Menschen allzusehr, um dir die Last aufzubürden, sie zu leiten; überdies haben die Reichthümer und der Schimmer einer Krone allzuwenig Reiz in deinen Augen, als daß du diesen Glanz mit den Mühseligkeiten erkaufen solltest, die mit der Regierung eines Volkes verbunden sind.‹

Hazael erwiederte:

›Bildet euch nicht ein, o Kreter, daß ich die Menschen verachte; nein, ich weiß die Größe des Mannes zu schätzen, der es sich zum Geschäft macht, Menschen gut und glücklich zu machen; aber dieses Geschäft ist so mühevoll als gefährlich. Der Glanz, welcher damit verbunden ist, ist täuschend, und kann nur eitle Gemüther verblenden. Das Leben ist kurz. Die Größe reizt die Leidenschaften eher, als daß sie sie befriedigen sollte. Nicht, um diese falschen Güter zu erwerben, sondern sie entbehren zu lernen, bin ich aus fernen Landen gekommen. Lebet wohl! Ich habe kein anderes Verlangen, als wieder in die Stille und Abgeschiedenheit von der Welt zurückzukehren, wo die Weisheit meinen Geist nähre, und die Hoffnung eines bessern Lebens nach dem Tode, welche die Tugend gibt, mich in den Bitterkeiten des Alters tröste. Könnte ich noch einen Wunsch haben, so wäre es, nicht König zu sein, sondern mich nie von diesen zwei Menschen zu trennen, die ihr hier sehet.‹

Endlich wendeten sich die Kreter an Mentor und riefen aus:

›O sage uns denn, o du, der weiseste und größte aller Sterblichen, sage uns, wer derjenige ist, den wir zu unserm Könige wählen sollen? Wir werden dich nicht eher von uns lassen, als bis du uns gesagt hast, welche Wahl wir treffen sollen.‹

Er antwortete ihnen:

›Als ich unter dem Haufen der Zuschauer war, bemerkte ich einen Mann, der eine vollkommene Ruhe zeigte. Es war sein noch ziemlich munterer Greis. Ich fragte, wer dieser Mann sei, und erhielt zur Antwort, daß, er sich Aristodemus nenne. Nachher hörte ich, daß man ihm meldete, seine zwei Söhne seien unter der Zahl derer, welche kämpften. Er schien keine Freude darüber zu empfinden. Er sagte, daß, was den Einen beträfe, er ihm die Gefahren nicht wünsche, die die Königswürde umgäben, und daß ihm sein Vaterland allzutheuer sei, um zuzugeben, daß der Andere jemals regiere. Hieraus ersah ich, daß dieser Vater dem einen seiner Söhne, welcher tugendhaft war, mit vernünftiger Liebe zugethan sei, und daß er den Ausschweifungen des Andern das Wort nicht redete. Dies reizte meine Neugierde noch mehr, und ich fragte nach den Schicksalen dieses Mannes. Einer von euren Bürgern antwortete mir: »Er hat lange die Waffen getragen und sein Leib ist mit Wunden bedeckt. Aber seine Aufrichtigkeit, die die Schmeichelei haßte, zog ihm das Mißfallen des Idomeneus zu. Dies war die Ursache, daß er sich seiner bei der Belagerung von Troja nicht bediente: Er suchte einen Mann, dessen weisen Rath zu befolgen er sich nicht entschließen konnte. Er war sogar eifersüchtig auf den Ruhm, den er sich, wie er voraus sah, bald erwerben würde. Er vergaß alle Dienste, die er ihm geleistet hatte, und ließ ihn hier zurück, arm und verachtet von jenen Menschen, deren grobe Sinne nichts als den Reichthum zu schätzen wissen, aber zufrieden in seiner Armuth. Er lebte vergnügt in einem abgelegenen Theil der Insel, wo er sein Feld mit eigenen Händen baut. Einer seiner Söhne arbeitet mit ihm. Sie lieben sich zärtlich. Sie sind glücklich durch ihre Mäßigkeit und ihren Fleiß. Sie besitzen alles, was zu einem einfachen Leben erforderlich ist, im Ueberfluß. Der tugendhafte Alte theilt den armen Kranken seiner Nachbarschaft alles dasjenige mit, was ihm nach Befriedigung seiner und seines Sohnes Bedürfnisse übrig bleibt. Er hält die jungen Leute zur Arbeit an; er ermahnt, er unterweiset sie; er schlichtet die Streitigkeiten seiner Nachbarschaft; er ist der Vater aller Familien. Die seinige traf das Unglück, daß er noch einen Sohn hat, der keine seiner Lehren befolgen wollte. Nachdem ihn der Vater lange geduldet, um ihn von seinen Lastern abzubringen, stieß er ihn endlich von sich, und nun überläßt er sich einem thörichten Ehrgeiz und allen Lüsten.«

Dies ist, Kreter, was man mir von diesem Manne erzählt hat; ihr müsset wissen, ob dieser Bericht wahr ist. Aber ist dieser Mann so beschaffen, wie man ihn schildert, warum stellet ihr Spiele an? Warum ruft ihr so viele Fremde hieher? Mitten unter euch lebt ein Mann, der euch kennt, den auch ihr kennet, der in der Kriegskunst erfahren ist, ein Mann, der seinen Muth nicht allein gegen Pfeile und Lanzen, sondern auch gegen die furchtbare Armuth bewiesen hat, der die Reichthümer verschmäht, die man durch Schmeichelei erwirbt, die Arbeit liebt, der es weiß, wie nützlich der Ackerbau einem Volk ist; der die stolze Pracht verabscheut, der sich nicht durch blinde Liebe zu seinen Kindern zur Nachsicht gegen sie verleiten läßt, der den tugendhaften Sohn liebt und den Lastern des andern nicht schmeichelt; mit einem Wort, ein Mann, der schon jetzt der Vater des Volks ist. Sehet da euren König, wenn es anders wahr ist, daß ihr wünschet, die Gesetze des weisen Minos unter euch herrschen zu sehen.‹

Das ganze Volk rief aus: ›Ja, Aristodemus ist so beschaffen, wie du ihn schilderst; er ist würdig über uns zu herrschen.‹

Die Alten ließen ihn rufen; man suchte ihn unter der Menge, wo er sich, unter die niedrigsten des Volks gemischt, befand. Ruhig erschien er. Man kündigte ihm an, daß man ihn zum König gewählt habe.

Er antwortete:

›Ich gebe meine Einwilligung, aber nur unter drei Bedingungen: die erste ist, daß mir vergönnt sei, die Königswürde in zwei Jahren wieder niederzulegen, wenn ich euch nicht zu bessern Menschen mache, als ihr jetzt seid, und wenn ihr den Gesetzen den Gehorsam verweigert; die andere, daß es mir frei stehe, mein einfaches und mäßiges Leben fortzuführen; die dritte, daß meine Kinder keinen Vorzug vor andern haben, und daß ihnen nach meinem Tode, wie jedem andern Bürger, nur diejenige Auszeichnung zu Theil werde, die ihren Verdiensten gebühren.‹

Bei diesen Worten erhob sich ein tausendfaches Jubelgeschrei in die Lüfte. Der Vornehmste der Alten, die die Aufsicht über die Gesetze hatten, wand die königliche Binde um das Haupt des Aristodemus. Man opferte Jupitern und den andern höhern Göttern. Aristodemus verehrte uns Geschenke, die sich nicht durch die gewöhnliche Pracht der Könige, sondern durch edle Einfalt auszeichneten. Er gab Hazaeln die Gesetze des Minos, von der eigenen Hand dieses Königs geschrieben, und eine Sammlung von Schriften, welche die ganze Geschichte von Kreta, von Saturn und dem goldenen Alter an enthielten. Er ließ alle Arten von Früchten in sein Schiff bringen, die Kreta in vorzüglicher Güte erzeugt, in Syrien aber unbekannt sind, und erbot sich zu jeder Hülfe, die ihm nöthig sein könnte.

Da wir auf unsere Abreise drangen, so ließ er uns ein Schiff mit einer Anzahl guter Ruderer und bewaffneter Männer ausrüsten. Er versorgte uns mit Kleidern und Lebensmitteln. Zu gleicher Zeit erhob sich ein günstiger Wind für uns, die wir nach Ithaka reisten. Dieser Wind war Hazaeln entgegen und nöthigte ihn, noch länger zu verweilen. Er sah uns abreisen; er umarmte uns als Freunde, die er nie wiedersehen sollte.

›Die Götter sind gerecht,‹ sagte er, ›sie sind Zeugen einer Freundschaft, die sich nur auf die Tugend gründet; einst werden sie uns wieder vereinigen; in jenen seligen Gefilden, wo die Gerechten, wie man uns glauben lehrt, nach dem Tode einer ewigen Ruhe genießen, werden wir uns wiederfinden, um uns nie mehr zu trennen. Ach, möchte eben so vereint meine Asche bei der Eurigen ruhen!‹

Er sprach's; ein Strom von Thränen ergoß sich über seine Wangen, und die Seufzer erstickten seine Stimme. Unsere Thränen flossen nicht minder als die seinigen; und er geleitete uns bis an das Schiff.

Noch sagte uns Aristodemus:

›Ihr habt mich zum König gemacht; gedenket der Gefahren, denen ihr mich ausgesetzt habt. Bittet die Götter, daß sie den Geist wahrer Weisheit in meine Seele hauchen, und daß ich andere Menschen eben so sehr an Mäßigung übertreffen möge, als ich sie an Ansehen übertreffe. Möchten sie euch glücklich in euer Vaterland bringen! Möchten sie den Uebermuth euerer Feinde bestrafen, und möchtet ihr den Ulysses mit seiner geliebten Penelope in ungestörter Ruhe regieren sehen! Telemach, ich gebe dir ein gutes Schiff voll Ruderer und bewaffneter Männer; sie können dir gegen diese Ungerechten dienen, die deine Mutter verfolgen. O Mentor, deine Weisheit, die sich selbst genug ist, läßt mir keinen Wunsch für dich übrig. Gehet beide; lebet glücklich zusammen; erinnert euch des Aristodemus, und wenn jemals die Ithaker der Kreter bedürfen, so zählet auf mich bis zu meinem letzten Hauche.‹

Er umarmte uns; wir dankten ihm, und konnten uns dabei der Thränen nicht enthalten.

Der Wind, der unsere Segel schwellte, versprach uns eine glückliche Fahrt. Der Berg Ida erschien unsern Augen nur noch als ein Hügel; die Ufer verschwanden; die Küste des Peloponnesus schien sich aus dem Meer zu erheben, und uns entgegen zu kommen. Auf einmal umzog den Himmel ein schwarzes Gewitter, und regte die Wogen des Meeres auf. Der Tag verwandelte sich in Nacht, und der Tod war vor unsern Augen. Dein stolzer Trident, o Neptun, war es, der die Gewässer deines Reichs zum Aufruhr reizte! Venus, die Verachtung zu rächen, die wir ihr selbst in ihrem Tempel zu Cythera bewiesen hatten, ging zu Neptun. Wehmuth sprach aus ihren Worten. Ihre schönen Augen schwammen in Thränen (so hörte ich von Mentorn sagen, der göttlicher Dinge kundig war).

›Wirst du es dulden, Neptun,‹ begann sie, ›daß diese Frevler ungestraft meiner Macht spotten? die Götter selbst fühlen sie, und diese verwegenen Sterblichen erfrechten sich, die Sitten und Gebräuche meiner Insel zu tadeln; sie brüsten sich mit einer Weisheit, die jede Probe bestehe, und nennen die Liebe Thorheit. Hast du vergessen, daß ich aus deinem Reiche stamme? Was säumest du?‹

Kaum hatte sie ausgeredet, als Neptun das Meer aufregte. Die Wogen thürmten sich bis an den Himmel. Venus lächelte darüber, denn unser Schiffbruch schien ihr unvermeidlich. Der verwirrte Steuermann rief, daß er unvermögend sei, dem Sturm zu widerstehen, der uns gewaltsam gegen die Klippen trieb. Ein Windstoß zerbrach unsern Mast und einen Augenblick darauf hörten wir, wie die Spitzen der Felsen den Kiel unseres Schiffes öffneten. Das Wasser dringt von allen Seiten ein; das Schiff sinkt; alle unsere Ruderer schreien wehklagend zum Himmel empor.

Ich umarmte Mentor und sagte zu ihm:

›Wir sind verloren! Laß uns dem Tode muthig entgegen gehen! Die Götter haben uns nur darum so vielen Gefahren entrissen, um uns heute zu Grunde gehen zu lassen. Laß uns sterben, Mentor! es ist ein Trost für mich, mit dir zu sterben; umsonst werden wir uns bemühen, unser Leben gegen den Sturm zu vertheidigen.‹

Mentor antwortete mir:

›Wahrer Muth ist nie von aller Hülfe entblößt. Man hat noch nicht alles gethan, wenn man den Tod nur mit Seelenruhe empfängt; ohne ihn zu fürchten, muß man sich auch anstrengen, ihn von sich zu entfernen. Laß uns eine dieser großen Ruderbänke ergreifen. Während diese verzagten und bestürzten Menschen den Verlust des Lebens bejammern, ohne sich zu bemühen, es zu erhalten, laß uns keinen Augenblick verlieren, das unsrige zu retten.‹

Sogleich ergreift er eine Axt; er haut den Mast vollends ab, der schon zerbrochen war, ins Meer hinabhing und das Schiff auf die Seite gezogen hatte. Er wirft den Mast aus dem Schiff; er schwingt sich darauf, mitten unter reißenden Fluthen; er ruft mich bei meinem Namen und ermahnt mich, ihm zu folgen. Gleich einem großen Baum, der, von allen Winden angefallen, die sich zu seinem Verderben verschworen haben, unbeweglich auf seinen tiefen Wurzeln ruht, der Sturm bewegt nur seine Blätter, so stand auch Mentor nicht nicht nur unerschüttert und voll Muth, sondern auch gelassen und ruhig, und schien Wind und Wogen zu gebieten. Ich folgte ihm; und wer wäre ihm nicht gefolgt, aufgemuntert von ihm?

Wir gaben uns selbst die Richtung auf diesem schwimmenden Mast. Er war uns zu großer Hülfe, denn wir konnten uns darauf setzen. Hätten wir ohne Aufhören schwimmen müssen, unsere Kräfte würden bald erschöpft gewesen sein. Aber nicht selten schlug dieses große Stück Holz um, vom Sturme gedreht, und wir versanken in das Meer. Alsdann verschluckten wir das bittere Wasser, das uns aus Mund und Nase und Ohren floß, und waren genöthigt, den Wogen entgegen zu kämpfen, um uns des Mastes wieder zu bemächtigen. Bisweilen auch rollte eine Welle, gleich einem Berge, über uns hin; dann hielten wir uns fest, damit der gewaltige Stoß uns nicht den Mast, der unsere einzige Hoffnung war, entführen möchte.

Während wir uns in diesem entsetzlichen Zustande befanden, sagte mir Mentor mit eben der Ruhe, womit er jetzt auf diesem Rasen sitzt:

›Glaubst du wohl, Telemach, daß dein Leben Winden und Wellen Preis gegeben sei? Glaubst du, daß sie ohne der Götter Willen dir den Untergang bereiten können? Nimmermehr! die Götter leiten unsere Schicksale; sie allein müssen wir fürchten, und nicht das Meer. Lägest du in tiefen Abgründen, Jupiters Hand könnte dich aus denselben retten; schwängest du dich zum Olymp empor, und erblicktest die Gestirne unter deinen Füßen, Jupiter könnte dich in die Tiefe stürzen, oder in die Flammen des schwarzen Tartarus schleudern.‹

Ich hörte, ich bewunderte diese Worte, sie flößten mir einigen Trost ein, aber mein Geist war nicht frei genug, ihm antworten zu können. Er sah mich nicht; ich konnte ihn nicht sehen. So trieben wir die ganze Nacht in dem Meere, zitternd vor Kälte und dem Tode nah, ohne zu wissen, wohin der Sturm uns werfen würde. Endlich ruhten die Winde. Das tobende Meer glich einem Menschen, der lange zürnte, und nun, seiner Wuth müde, nur noch schwache Spuren von Unruhe und Erschütterung zeigt. Noch hörte man ein dumpfes Brausen desselben, aber seine Wellen gingen fast nicht höher, als die Furchen eines gepflügten Ackers.

Aurora öffnete der Sonne die Pforten des Himmels und verkündete uns einen schönen Tag. Der östliche Himmel stand ganz in Flammen; die lange verhüllten Sterne blickten wieder hervor, und entflohen, als Phöbus emporstieg. Wir entdeckten in der Entfernung Land; die Winde trieben uns gegen dasselbe hin. Die Hoffnung erwachte wieder in meinem Herzen; aber wir erblickten keinen von unsern Genossen. Wir zweifelten nicht, daß sie den Muth verloren, und der Sturm sie insgesammt nebst dem Schiffe in die Tiefe versenkt habe.

Als wir uns dem Lande näherten, liefen wir Gefahr, an den zackigen Kippen, gegen welche uns das Meer hintrieb, zerschmettert zu werden, aber wir kehrten ihnen das Ende unsers Mastes zu, und Mentor bediente sich desselben eben so geschickt, als ein verständiger Steuermann sich des besten Steuers bedient hätte. So entgingen wir diesen furchtbaren Klippen, und fanden endlich eine bequeme und flache Küste. Wir schwammen ohne Mühe dahin, und landeten auf dem sandigen Ufer. Hier erblicktest du uns, große Göttin, die du diese Insel bewohnest; und hier nahmst du uns gütig auf.«



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