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Idomeneus gibt Mentorn Kunde von der Ursache des Kriegs gegen die Mandurier. Er meldet ihm, daß dieses Volk ihm gleich anfangs die Küste von Hesperien abgetreten, wo er seine neue Stadt erbaut habe, daß es sich in die benachbarten Gebirge zurückgezogen, wo etliche von ihnen durch einige von seinen Leuten mißhandelt worden; daß dieses Volk zwei Alte an ihn abgesendet, mit denen er die Friedens-Bedingungen festgesetzt, und daß, nachdem dieser Vertrag durch einige der Seinigen, denen er unbekannt gewesen, gebrochen worden, es sich rüste, ihn zu bekriegen. Während dieses Berichtes des Idomeneus zeigen sich die Mandurier, die zu den Waffen geeilt waren, mit einmal vor den Thoren von Salent. Nestor, Philoktet und Phalant, welche Idomeneus keinem Theile zugethan geglaubt, erscheinen als seine Feinde in dem Heere der Mandurier. Mentor verläßt die Stadt, und geht ganz allein hin, den Feinden Friedens-Bedingungen vorzuschlagen.
M it Ruhe und Freundlichkeit blickte Mentor Telemach in's Angesicht, dessen Brust schon ganz von edler Kampflust erfüllt war, und sprach also zu ihm:
»Mit Vergnügen sehe ich, daß ein edler Ehrtrieb dich belebt, aber erinnere dich, daß dein Vater sich nur dadurch unter den Griechen, die Troja belagerten, so hohen Ruhm erwarb, daß er sie alle an Weisheit und Mäßigung übertraf. Achill, unüberwindlich und unverwundbar, er, der überall, wo er stritt, Schrecken und Tod verbreitete, vermochte nicht, Troja zu erobern. Er fiel sogar unter den Mauern dieser Stadt, und sie triumphirte über den Ueberwinder Hectors. Aber Ulysses, dessen Tapferkeit die Klugheit leitete, trug die Flamme und das Schwert mitten unter die Trojaner, und unter seinen Händen stürzten jene hohen und stolzen Thürme, die zehn Jahre lang dem vereinten Griechenland Hohn gesprochen hatten. So erhaben Minerva über den Kriegesgott ist, so sehr übertrifft der Muth, den Klugheit und Vorsicht leiten, die ungestüme und wilde Kühnheit. Erst laß uns nähere Kenntniß von dem Kriege einziehen, der geführt werden soll. Ich werde mich keiner Gefahr entziehen, Idomeneus; aber erkläre uns vor allem, ob dein Krieg gerecht ist, dann sage uns, gegen wen du ihn führst, und ob deine Macht stark genug ist, einen glücklichen Ausgang desselben hoffen zu dürfen.«
Idomeneus antwortete ihm:
»Als wir auf dieser Küste landeten, fanden wir ein wildes Volk, das in den Wäldern umher irrte, und von der Jagd und den Früchten lebte, die die Bäume von selbst darreichten. Diese Leute, die sich Mandurier nannten, erschracken über unser Schiff und unsere Waffen. Sie zogen sich in ihre Berge zurück. Unsere Soldaten, begierig das Land zu sehen, stießen, als sie einige Hirsche verfolgten, auf diese fliehenden Wilden. Ihr Anführer sprach zu ihnen:
›Wir haben die anmuthigen Ufer des Meeres verlassen, um sie euch abzutreten, wir haben nichts übrig behalten, als diese fast unzugänglichen Gebirge. Die Billigkeit erfordert, daß ihr wenigstens hier unsere Ruhe und Freiheit nicht störet. Wir finden euch jetzt umherirrend, zerstreut und schwächer an Zahl, als wir sind. Es würde uns nicht schwer fallen, euch zu erwürgen, und sogar euren Genossen die Kenntniß eures Unglücks zu verbergen; aber wir wollen unsere Hände nicht in das Blut derer tauchen, die eben so gut Menschen sind, wie wir. Gehet, vergesset nicht, daß ihr euer Leben unserer Menschlichkeit danken habt, und erinnert euch, daß es ein Volk ist, das ihr ungesittet und wild nennt, das euch die Lehren der Mäßigung und Großmuth gibt.‹
Unsere Leute, solchergestalt von diesen Barbaren entlassen, kehrten wieder ins Lager zurück, und erzählten, was ihnen begegnet war. Unsere Soldaten entrüsteten sich darüber. Sie hielten es für Schande, daß Kreter ihr Leben einem Haufen flüchtiger Barbaren sollten zu danken haben, die ihnen mehr Aehnlichkeit mit den Bären, als den Menschen zu haben schienen. Sie zogen abermals auf die Jagd, aber in größerer Anzahl als das erste Mal und mit Waffen aller Art ausgerüstet. Bald trafen sie auf die Wilden und griffen sie an. Das Gefecht war mörderisch. Von beiden Seiten flogen die Pfeile so dicht wie Hagel, der bei einem Gewitter auf die Felder fällt Die Wilden wurden genöthigt, sich in ihre steilen Berge zurück zu ziehen, wohin die unsrigen ihnen nicht zu folgen wagten.
Bald darauf sandte dieses Volk zwei seiner weisesten Greise an uns ab, um Frieden von mir zu begehren. Sie brachten mir Geschenke, Häute wilder Thiere, die sie erlegt hatten, und Früchte des Landes. Nachdem sie ihre Geschenke überreicht hatten, sprachen sie also:
›König, wir halten, wie du siehst, in der einen Hand das Schwert, in der andern den Oelzweig; (wirklich hielten sie auch beide in ihren Händen) hier ist Friede, hier ist Krieg! Wähle! Zwar uns würde der Friede willkommener sein. Ihn zu erhalten, schämten wir uns nicht, dir die lieblichen Ufer des Meeres abzutreten, wo die Sonne die Erde befruchtet, und so mancherlei herrliche Früchte erzeugt. Süßer noch ist der Friede, als alle diese Früchte. Aus Liebe zu ihm zogen wir uns in jene hohen Berge zurück, die ewiger Schnee und Eis bedeckt, und wo man weder die Blüthen des Frühlings, noch die reichen Gaben des Herbstes jemals erblickt. Wir verabscheuen jene Unmenschlichkeit, welche unter dem schönen Namen von Ehre, und Ruhm in tollem Wahnsinn die Länder verheeret, und das Blut der Menschen vergießt, welche doch alle Brüder sind. Sollte dein Herz nach diesem falschen Ruhme lüstern sein, so beneiden wir ihn dir nicht; wir bemitleiden dich, und bitten die Götter, uns vor einer solchen Raserei zu bewahren. Wenn die Wissenschaften, auf welche die Griechen sich mit so vielem Eifer legen, und die Sitten, deren sie sich rühmen, ihnen nur diese fluchwürdige Ungerechtigkeit einflößen, so schätzen wir uns glücklich, diese Vortheile nicht zu besitzen. Wir werden es für rühmlich halten, immer unwissend und ungesittet, aber zugleich gerecht, menschlich, treu, uneigennützig zu sein, uns mit Wenigen zu begnügen, und jene verderbliche Verfeinerung zu verachten, welche uns so viele entbehrliche Dinge zum Bedürfniß macht. Die Güter, die wir schätzen, sind die Gesundheit, die Mäßigkeit, die Freiheit, die Stärke des Körpers und der Seele, die Liebe zur Tugend, die Furcht vor den Göttern, die Liebe unsers Nächsten, die Anhänglichkeit an unsere Freunde, die Treue gegen Jedermann, die Mäßigung im Glück, die Standhaftigkeit im Unglück, der Muth, immer unerschrocken die Wahrheit zu sagen, und der Abscheu vor der Schmeichelei. Sieh! so sind die Völker beschaffen, die sich dir zu Nachbarn, zu Bundesgenossen anbieten. Sollten die zürnenden Götter dich so sehr verblenden, den Frieden auszuschlagen,so wirst du, aber zu spät, erfahren, daß Menschen, die den Frieden lieben, weil sie sich zu mäßigen wissen, im Kriege unter allen die furchtbarsten sind.‹
Während diese Greise also zu mir sprachen, konnte ich mich an ihrem Anblicke nicht sättigen. Sie hatten lange, nachlässig herabhängende Bärte, kurze, graue Haare, dichte Augenbraunen, lebhafte Augen, einen festen Blick, eine unerschrockene Miene; ihre Worte waren voll Nachdruck und Würde; ihr Betragen einfach und natürlich. Die Pelze, die ihnen statt der Kleider dienten, waren über die Schultern befestigt, und zeigten nervigere Arme und stärkere Muskeln, als sie unsere Kämpfer haben. Ich antwortete den zwei Abgesandten, daß ich den Frieden wünschte. Aufrichtig setzten wir gemeinschaftlich die Bedingungen desselben fest, und nahmen alle Götter zu Zeugen derselben. Ich gab diesen Alten Geschenke, und entließ sie wieder zu den Ihrigen.
Aber die Götter, die mich aus meinem väterlichen Reiche vertrieben hatten, waren noch nicht müde, mich zu verfolgen. Unsere Jäger, die nicht sogleich von dem geschlossenen Frieden Kundschaft erhalten konnten, begegneten an eben diesem Tage einer großen Zahl dieser Wilden, welche ihre Gesandten begleiteten, die aus unserm Lager zurückkehrten. Wüthend griffen sie sie an, tödteten einen Theil derselben, und verfolgten die übrigen bis in die Wälder. Der Krieg entbrannte auf's Neue. Die Wilden sind nun überzeugt, daß sie sich weder auf unsere Versprechungen, noch auf unsere Eidschwüre verlassen können.
Um ihre Macht gegen uns zu verstärken, riefen sie die Locrier, die Apulier, die Lucanier, die Bruttier, die Völker von Krotona, Neritum und Brundusium zu Hülfe.
Die Lucanier streiten auf Wägen, die mit scharfen Sensen bewaffnet sind. Die Apulier sind mit den Häuten der wilden Thiere bekleidet, die sie erlegt haben. Sie tragen Streitkolben mit großen Knoten, und mit eisernen Spitzen beschlagen. Sie haben beinahe Riesengröße. Die anstrengenden Leibesübungen, die sie unausgesetzt treiben, geben ihren Körpern eine solche Stärke, daß ihr bloßer Anblick Schrecken einflößt.
Die Locrier, griechische Abkömmlinge, tragen noch das Gepräge ihres Ursprunges. Sie sind gesitteter, als die Uebrigen. Aber sie vereinigen mit der strengen Kriegszucht der Griechen die Kraft der Barbaren und die Gewohnheit, ein rauhes Leben zu führen, und dies macht sie unüberwindlich. Sie tragen leichte Schilde von Weiden geflochten und mit Thierhäuten überzogen. Sie haben lange Schwerter.
Die Bruttier gleichen im schnellen Laufen den Hirschen und Gemsen. Das zarteste Gras beugt sich nicht unter ihren Füßen, und kaum erblickt man im Sande die Spur ihrer Tritte. Plötzlich sieht man sie auf ihren Feind stürzen, und mit eben der Behendigkeit wieder verschwinden.
Die Völker von Krotona sind geschickt, mit Pfeilen zu schießen. Ein gewöhnlicher Mensch unter den Griechen würde keinen Bogen spannen, wie man sie insgemein bei den Krotoniaten sieht, und sollten sie sich je auf unsere Kampfspiele legen, gewiß würden sie den Preis davon tragen. Sie tauchen ihre Pfeile in den Saft giftiger Kräuter, die, wie man sagt, an den Ufern des Avernus wachsen, und deren Gift tödtet.
Die Völker von Neritum, Brundusium und Messapia besitzen nur Körperkraft und kunstlose Tapferkeit. Beim Anblick ihrer Feinde erheben sie ein Geschrei, das bis zum Himmel steigt. Mit der Schleuder wissen sie wohl umzugehen, und verdunkeln die Luft durch einen Hagel geschleuderter Steine. Aber sie fechten ohne Ordnung.
Dies, Mentor, verlangst du zu wissen. Du kennst nun den Ursprung dieses Krieges und unsere Feinde.«
Nach diesem Bericht glaubte Telemach, von Streitlust entflammt, nur die Waffen ergreifen zu dürfen, aber noch hielt ihn Mentor zurück.
»Woher kommt es, daß selbst die Locrier, aus Griechenland stammend, sich mit den Barbaren gegen Griechen vereinigen? Warum blühen so viele Pflanzstädte auf dieser Meeresküste, ohne, wie ihr, in Kriege verwickelt zu sein? O Idomeneus! du sagst, daß die Götter noch nicht müde seien, dich zu verfolgen; aber ich sage, daß sie noch nicht aufgehört haben, dich zu unterweisen. Alle Leiden, die du erduldetest, haben dich noch nicht gelehrt, wie man es anzufangen habe, um einem Kriege zuvorzukommen. Was du von der Ehrlichkeit dieser Wilden erzählest, beweist zur Genüge, daß du im Frieden mit ihnen hättest leben können. Aber Stolz und Uebermuth sind die Stifter der gefährlichsten Kriege. Du hättest ihnen Geißeln geben, und von ihnen nehmen sollen. Wie leicht wäre es gewesen, einige deiner Anführer mit ihren Gesandten abzusenden, um ihnen ein sicheres Geleite zu geben? Und selbst nachdem der Krieg wieder aufs Neue ausgebrochen war, hättest du sie durch die Vorstellung besänftigen sollen, daß sie nur angegriffen worden seien, weil man keine Kenntniß von dem beschwornen Bunde gehabt habe. Du hättest dich erbieten sollen, ihnen jede Sicherheit zu geben. die sie nur verlangen konnten, und diejenigen von deinen Untergebenen mit strengen Strafen bedrohen sollen, die dem Bunde entgegen handeln würden. Aber sage mir, was erfolgte, seitdem der Krieg wieder ausgebrochen ist?«
»Ich hielt es für entehrend,« antwortete Idomeneus, »die Gunst dieser Barbaren zu erbetteln, die eilend alle ihre waffenfähigen Männer zusammen brachten, und sich um den Beistand aller benachbarten Völker bewarben, bei denen sie Verdacht und Haß gegen uns erregten. Ich hielt es für das Sicherste, mich schnell gewisser Pässe in den Gebirgen zu bemächtigen, die nur schwach besetzt waren. Wir bemächtigten uns derselben auch wirklich ohne Mühe, und haben uns dadurch in den Stand gesetzt, diese Barbaren in ein großes Gedränge zu bringen. Ich ließ Thürme erbauen, von welchen unsere Krieger mit ihren Pfeilen die Feinde erlegen können, wenn sie es versuchen sollten, über die Berge in unser Land einzudringen. Der Eingang in das ihrige ist uns dadurch geöffnet, und es stehet nur bei uns, ihre vornehmsten Besitzungen zu verheeren. Durch diese Vorkehrungen ist es uns möglich geworden, mit einer ungleichen Macht den unzähligen Feinden zu widerstehen, die uns umgeben. Aber eben dadurch ist auch der Friede zwischen ihnen und uns sehr schwierig geworden. Wir können ihnen diese Thürme nicht überlassen, ohne uns ihren Anfällen auszusetzen, und sie sehen sie als Festen an, deren wir uns bedienen wollen, sie zu unterjochen.«
Mentor antwortete dem Idomeneus:
»Du bist ein weiser König, und willst, daß man dir die Wahrheit sage, ohne sie zu versüßen. Du bist nicht, wie jene schwachen Menschen, die ihren Anblick scheuen, den Muth nicht haben, sich zu bessern, und ihr Ansehen nur gebrauchen, die Fehltritte zu beschönigen, die sie begangen haben. Wisse also, daß dieses barbarische Volk, als es kam, dich um Frieden zu bitten, dir eine treffliche Lehre gegeben hat. War es wohl aus Schwachheit, daß diese Menschen Frieden wünschten? Fehlt es ihnen an Muth oder Hülfskräften gegen dich? Du siehest, daß dies keineswegs der Fall ist; denn sie sind kriegerisch und von vielen furchtbaren Nachbaren unterstützt. Warum ahmest du jetzt ihre Mäßigung nicht nach? Eine falsche Scham, ein falscher Ehrgeiz hat dich in dieses Unglück gestürzt. Du fürchtetest, deinen Feind zu trotzig zu machen, und doch trugst du kein Bedenken,ihn übermächtig zu machen, indem du durch ein stolzes, ungerechtes Verfahren so viele Völker gegen dich bewaffnetest. Wozu sollen diese Thürme dienen, die du so prahlend erhebst? Sie lassen deinen Nachbarn keine andere Wahl, als entweder selbst zu Grunde zu gehen, oder dich zu Grunde zu richten, um einer nahen Knechtschaft zuvor zu kommen. Du erbautest diese Thürme zu deiner Sicherheit, und sie sind es, die dich in so große Gefahr bringen.
Das sicherste Bollwerk eines Staates ist die Gerechtigkeit, die Mäßigung, die Redlichkeit und die Zuversicht, die man seinen Nachbaren einflößt, daß man unfähig sei, ihre Länder mit Gewalt an sich zu reißen. Durch Zufälle, die man nicht vorhersehen kann, stürzen die festesten Mauern ein. Das Kriegsglück ist launisch und wandelbar. Aber das Zutrauen und die Liebe deiner Nachbarn, die deine Mäßigung kennen gelernt haben, macht deinen Staat unüberwindlich und nur selten wird er einem Angriff ausgesetzt sein. Und sollte ein ungerechter Nachbar ihn bedrohen, so werden gewiß alle anderen, die seine Erhaltung wünschen, sogleich die Waffen zu seiner Vertheidigung ergreifen. Von so vielen Völkern unterstützt, die ihren eigenen Vortheil dabei finden, den deinigen zu befördern, würdest du die Macht weit fester gegründet haben, als durch diese Thürme, die dein Verderben unvermeidlich machen. Deine erste Sorge hätte sein sollen, die Eifersucht deiner Nachbarn zu vermeiden, und deine junge Stadt würde in einem glücklichen Frieden blühen; du würdest der Schiedsrichter aller Völker Hesperiens sein.
Aber laß uns jetzt nur überlegen, welche Maßregeln für die Zukunft zu ergreifen sind, um das Vergangene wieder gut zu machen.
Du sagtest mir gleich Anfangs, daß mehrere Griechen sich auf dieser Küste niedergelassen hätten. Diese Völker müssen geneigt sein, dir beizustehen. Sie können weder den großen Namen des Minos, des Sohnes Jupiters, noch deine Thaten bei der Belagerung von Troja vergessen haben, wo du, die gemeinsame Sache Griechenlands verfechtend, deinen Muth so oft unter den griechischen Fürsten zeigtest. Warum trachtest du nicht diese Pflanzstädte auf deine Seite zu ziehen?«
»Sie sind alle entschlossen,« sprach Idomeneus, »an diesem Streite keinen Theil zu nehmen. Nicht, als wären sie nicht einigermaßen geneigt, mir beizustehen; aber der große Glanz, den diese Stadt gleich von ihrer Entstehung an von sich warf, hat sie in Furcht gesetzt. Diese Griechen sowohl, als die andern Völker fürchteten, daß wir Absichten auf ihre Freiheit hätten. Sie besorgten, wir möchten nach Besiegung der Wilden der Berge unsern Ehrgeiz weiter treiben. Mit einem Worte, alles ist gegen uns. Selbst die, welche uns nicht offenbar bekriegen, wünschen unsere Demüthigung, und die Eifersucht läßt uns keinen einzigen Bundesgenossen.«
»Seltsame und verzweifelte Lage!« erwiederte Mentor. »Du strebtest, mächtiger zu scheinen, als du bist, und eben dadurch richtetest du deine wahre Macht zu Grunde; und während du auswärts der Gegenstand der Furcht und des Hasses deiner Nachbarn bist, erschöpfest du dich im Innern durch die Anstrengungen, die ein solcher Krieg erfordert. Unglücklicher, zweifach unglücklicher Idomeneus! Deine Leiden haben dich nur halb unterrichtet. Sollte ein zweiter Fall bei dir nöthig sein, damit du endlich lerntest, die Gefahren vorauszusehen, die auch die größten Fürsten bedrohen? Ueberlaß die Sache mir und gib mir nur genaue Kunde von den griechischen Städten, die sich weigern, mit dir in ein Bündniß zu treten.«
»Die vornehmste derselben,« antwortete Idomeneus, »ist Tarent. Es sind nun drei Jahre, daß Phalant sie gegründet hat. Er brachte in Lakonien eine große Zahl von Jünglingen zusammen, Kinder jener Weiber, welche während des Trojanischen Krieges ihrer abwesenden Ehemänner vergessen hatten. Als diese wieder zurückkehrten, suchten die Weiber nur, sie zu besänftigen und ihre Fehltritte zu beschönigen. Diese zahlreiche Jugend, außer der Ehe geboren, ohne Väter und Mütter, überließen sich der zügellosesten Ausgelassenheit. Die Strenge der Gesetze that ihren Ausschweifungen Einhalt. Sie vereinigten sich unter Phalant, einem kühnen, unerschrockenen, ehrgeizigen Anführer, der die Herzen durch seine schlauen Ränke zu gewinnen wußte. Er landete an dieser Küste mit seinen jungen Läkoniern. In Tarent erhob sich ein zweites Lacedämon. An einem andern Orte erbaute Philoktet, der sich vor Troja, wohin er Herkules Pfeile brachte, so hohen Ruhm erwarb, die Mauern von Petilia, ein Staat, zwar minder mächtig, als Tarent, aber mit mehr Weisheit regiert. Endlich haben wir auch Metapontum in der Nähe, das Nestor mit seinen Pyliern gründete.«
»Wie?« rief Mentor aus, »Nestor ist in Hesperien, und du wußtest dir ihn nicht zum Freunde zu machen? Nestor, der dich so oft gegen die Trojer streiten sah, der schon vormals dein Freund war?«
»Er ist es nicht mehr,« antwortete Idomeneus; »die List dieses Volks, das außer seinem Namen nichts Barbarisches hat, hat mir seine Freundschaft geraubt. Mit schlauer Ueberredung überzeugten sie ihn, daß ich damit umginge, mich zum Beherrscher Hesperiens aufzuwerfen.«
»Ich werde ihm seinen Irrthum benehmen,« sagte Mentor. »Telemach besuchte ihn zu Pylos, noch ehe er sich in Hesperien niedergelassen, und ehe wir unsere großen Wanderungen angetreten hatten, den Ulysses aufzusuchen. Er wird dieses Helden noch nicht vergessen haben, er wird sich noch der zärtliche Liebe erinnern, die er seinem Sohne Telemach bewies. Die Hauptsache ist jetzt, ihm sein Mißtrauen zu benehmen. Nur durch die Besorgnisse, die du bei allen deinen Nachbarn erregtest, entbrannte dieser Krieg, und nur dadurch können seine Flammen wieder gelöscht werden, daß wir diese eitlen Besorgnisse zerstreuen. Noch einmal: überlasse die Sache mir.«
Bei diesen Worten umarmte Idomeneus Mentorn. Sein Herz war gerührt, und er vermochte nicht zu sprechen. Endlich brachte er mit Mühe diese Worte hervor:
»Weiser Greis, von den Göttern mir gesendet, um meine Fehltritte wieder gut zu machen! Jedem anderen, ich läugne es nicht, würde ich gezürnt haben, der mir mit dieser Freimüthigkeit gesprochen hätte, und nur du allein bist es, der mich bewegen kann, den Frieden zu suchen. Mein Entschluß war gefaßt; ich wollte untergehen, oder meine Feinde besiegen. Aber die Vernunft will, daß ich deinem weisen Rathe und nicht meiner Leidenschaft gehorche. Glücklicher Telemach! Einen solchen Führer an deiner Seite, kannst du dich nie so sehr verirren, wie ich. Handle nach deinem Gutdünken, Mentor. Die Weisheit der Göttin wohnt in dir. Minerva selbst könnte nicht heilsamern Rath ertheilen. Geh, versprich, setze Bedingungen fest, gib alles hin, was mir angehört. Idomeneus wird alles genehmigen, was du zu thun rathsam finden wirst.«
Indem sie so unter einander sprachen, hörte man mit einemmal ein verworrenes Getös von Wagen, von wiehernden Pferden, von Menschen, die ein wildes Geschrei erhoben, und von Trompeten, die die Luft mit kriegerischem Klang erfüllten.
Man rief:
»Die Feinde sind im Anzug; sie haben einen großen Umweg gemacht, um die besetzten Pässe zu umgehen; sie kommen Salent zu belagern.«
Die Greise und die Weiber standen bestürzt.
»Ach!« jammerten sie, »warum mußten wir unser theures Vaterland verlassen, das fruchtbare Kreta, um einem unglücklichen König über die Meere zu folgen, und eine Stadt zu gründen, die, wie einst Troja, zu Asche werden wird?«
Von den Zinnen der neuerbauten Mauern sah man in dem weiten Gefilde die Helme, die Panzer, die Schilde der Feinde im Sonnenglanz schimmern. Sie blendeten die Augen. Die emporragenden Spieße bedeckten den Boden, wie die unzähligen Halme ihn bedeckten, die Ceres in Siziliens Gefilden um den Aetna im glühenden Sommer reift, die Mühe des Landmanns zu lohnen. Schon sah man die Wagen mit schneidenden Sensen bewaffnet, und leicht unterschied man die verschiedenen Völker, die zu Felde gezogen waren.
Mentor bestieg einen hohen Thurm, um besser um sich her schauen zu können. Idomeneus und Telemach folgten ihm. Kaum war er oben, so erblickte er auf der einen Seite Philoktet und auf der andern Nestorn mit seinem Sohne Pisistratus. Leicht war Nestor an seinem ehrwürdigen Alter zu erkennen.
»Himmel!« rief Mentor aus, »du glaubtest, Idomeneus, daß Philoktet und Nestor dir nur ihren Beistand verweigert hätten. Sieh, auch diese haben die Waffen gegen dich ergriffen, und wenn ich mich nicht täusche, so sind jene andern, die so schön geordnet, und in so langsamem Zuge sich nahen, Lacedämonier, von Phalant geführt. Alles ist gegen dich. Kein Volk dieser Küste, das du nicht, ohne es zu wollen, dir zum Feinde gemacht hättest!«
Er spricht's, steigt eilends von seinem Thurm herab und geht einem Thor der Stadt zu, auf der Seite, wo die Feinde im Anzug waren. Er läßt es öffnen. Idomeneus, erstaunt über die Würde, mit der er alles thut, wagt es nicht einmal, ihn zu fragen, was sein Vorhaben sei. Mentor winkt mit der Hand, daß ihm niemand folgen soll. Er geht den Feinden entgegen. Sie erstaunen, einen Einzelnen gegen sich kommen zu sehen. Er zeigt ihnen von fern einen Oelzweig, das Zeichen des Friedens, und als er nahe genug ist, gehört zu werden, verlangt er, daß man die Häupter versammle. Sie versammeln sich, und er redet sie also an:
»Edle Männer, aus so vielen Völkern hier versammelt, die in dem reichen Hesperien blühen! Ich weiß, daß euch nur die gemeinsame Sache der Freiheit hierher geführt hat. Wer könnte euern Eifer tadeln! Aber vergönnt mir, euch ein leichtes Mittel zu zeigen, die Freiheit und den Ruhm eurer Völker zu erhalten, ohne Menschenblut zu vergießen. Nestor, weiser Nestor, auch dich erblicke ich in dieser Versammlung. Wer weiß so gut, wie du, wie verderblich der Krieg selbst denen ist, die ihn mit Gerechtigkeit führen und unter dem Schutze der Götter? Der Krieg ist das schrecklichste Uebel, womit die Götter die Menschen heimsuchen. Könntest du vergessen, was die Griechen vor dem unseligen Troja zehn Jahre lang erduldet haben? Welche Zwietracht unter den Heerführern! Welche Launen des Glückes! Wie stürzten die Griechen unter Hektors Hand dahin! Welchen Jammer häufte dieser Krieg auf die mächtigsten Städte während der langen Abwesenheit ihrer Könige! Einige scheiterten bei ihrer Rückkehr an dem capharischen Vorgebirge, andere fanden selbst in den Armen ihrer Gattinnen ein schmähliches Ende. In eurem Zorne, o ihr Götter! bewaffnetet ihr die Griechen zu dieser rühmlichen Unternehmung. Völker Hesperiens! Möchten euch die Götter nie wieder einen so traurigen Sieg verleihen! Zwar liegt Troja in Asche, aber wie viel besser wäre es für Griechenland, wenn es noch in seinem Glanze stände, und der feige Paris noch seiner schändlichen Liebe mit Helena pflegte. Philoktet, so lange unglücklich, so lange in Lemnos verlassen, fürchtest du nicht ähnliche Leiden in einem ähnlichen Kriege? Auch Lakoniens Völker, ich weiß es, haben mit Schmerzen die Zerrüttung gefühlt, die die lange Abwesenheit ihrer Fürsten, ihrer Feldherren und ihrer Krieger, die gen Troja zogen, über sie brachte. Griechen, die ihr nach Hesperien kamet, erinnert euch, daß nur die Drangsale, die dem trojischen Kriege folgten, euch in dieses Land geführt haben.«
Also sprach Mentor, und dann ging er auf die Pylier zu, und Nestor, der ihn erkannt hatte, näherte sich auch, ihn zu bewillkommen.
»Mentor,« so sprach er, »mit Vergnügen erblicke ich dich wieder. Viele Jahre sind verflossen, seitdem ich dich das erste Mal in Phoris sah: damals warst du erst fünfzehn Jahre alt, und schon zu selbiger Zeit sah ich vorher, daß du einst so weise werden würdest, als du es nachher wirklich geworden bist. Welche Begebenheit hat dich in dieses Land geführt? und welches Mittel hast du, diesen Krieg zu endigen? Idomeneus zwang uns zum Angriff. Wir verlangen nichts als den Frieden. Jedem von uns lag es am Herzen, ihn zu wünschen, aber Idomeneus wurde unserer Sicherheit gefährlich. Keinem seiner Nachbaren hat er Wort gehalten. Es würde kein Friede sein, den wir mit ihm schlössen. Er würde ihn nur dazu gebrauchen, unsern Bund zu trennen, der uns allein retten kann. Seine ehrgeizigen Entwürfe, alle anderen Völker zu unterjochen, sind diesen nicht verborgen geblieben, und er ließ uns kein anderes Mittel übrig, unsere Freiheit zu behaupten, als den Versuch zu machen, sein neues Reich zu zerstören. Durch seine Treulosigkeit hat er uns in die Nothwendigkeit gesetzt, ihn zu vertilgen, oder uns das Joch der Knechtschaft von ihm auflegen zu lassen. Kannst du uns ein Mittel zeigen, das uns für seine Aufrichtigkeit bürge, und uns einen dauerhaften Frieden sichere, so werden die Völker alle, dies du hier siehest, gerne die Waffen niederlegen, und mit Vergnügen-werden wir dir den Vorzug der Weisheit über uns einräumen.«
Mentor antwortete ihm:
»Weiser Nestor, du weißt, daß Ulysses mir seinen Sohn Telemach anvertraut hat. Dieser Jüngling, begierig zu erfahren, was aus seinem Vater geworden, kam zu dir nach Pylos. Du nahmst ihn mit der Leutseligkeit auf, die er von dem treuen Freunde seines Vaters erwarten konnte. Du gabst ihm selbst deinen Sohn zum Geleiter. Alsdann unternahm er weite Reisen auf dem Meere. Er besuchte Sizilien, Aegypten, die Insel Cypern und Kreta. Die Winde, oder vielmehr die Götter verschlugen ihn an dieses Gestade, als er nach Ithaka zurückkehren wollte. Zu einer glücklichen Zeit langten wir hier an, um euch die Schrecknisse eines blutigen Kriegs zu ersparen. Nicht Idomeneus, der Sohn des weisen Ulysses und ich leisten dir die Gewähr für alles, was jener zusagen wird.«
Während Mentor mitten unter den verbündeten Völkern sich mit Nestor besprach, beobachteten ihn Idomeneus und Telemach und alle bewaffneten Kreter von den Mauern der Stadt herab. Aufmerksam forschten ihre Augen, wie jene Mentors Worte aufnehmen würden, und gerne hätten sie die verständigen Reden dieser beiden Greise mit angehört. Unter den griechischen Fürsten hatte Nestor immer für den erfahrensten und beredtesten gegolten. Vor Troja wußte er Achills glühenden Zorn, Agamemnons Stolz, Ajax Trotz und Diomedes ungestüme Tapferkeit in Schranken zu halten. Gleich einem Bach von Milch und Honig ergoß sich die süße Ueberredung von seinen Lippen. Seiner Stimme allein horchten die Helden, und alle schwiegen, sobald sein Mund sich öffnete. Nur auf sein Geheiß legte sich die wilde Zwietracht des Lagers. Zwar begann er jetzt die Ungemächlichkeiten des kalten Alters zu fühlen; aber noch redete er mit Nachdruck und Anmuth. Er sprach von der Vergangenheit und durch seine Erfahrungen unterrichtete er die Jugend. Seine Erzählungen waren einnehmend, nur sprach er etwas langsam.
Dieser Greis, die Bewunderung Griechenlands, schien aller seiner Beredsamkeit, aller seiner Würde beraubt, wenn Mentor neben ihm stand. Ein welker, entkräfteter Greis stand er neben Mentor, dessen Stärke und Munterkeit die Zeit geehrt zu haben schien. Mentors Worte, wiewohl bedächtlich und einfach, hatten eine Lebhaftigkeit und überzeugende Kraft, die dem andern zu mangeln anfing. Was er sagte, war kurz, bestimmt, nachdrücklich. Nie wiederholte er sich, nie sagte er etwas, das der Sache nicht angemessen war, die entschieden werden sollte. War er genöthigt, mehrmals von derselben Sache zu reden, um sie dem Gemüthe einzuprägen, und Ueberzeugung zu wirken, so waren es immer neue Wendungen und fühlbare Vergleichungen, deren er sich bediente. Sogar fehlte es ihm nicht an gefälligem Witz und munterer Laune, wenn er sich zur Fassungskraft Anderer herablassen, und ihnen irgend eine Wahrheit einleuchtend machen wollte. Diese zwei ehrwürdigen Männer gewährten allen versammelten Völkern einen rührenden Anblick.
Während Salents verbundene Feinde sich drängten, ihnen näher zu sein, und ihre verständigen Reden zu hören, sahen Idomeneus und die Seinigen mit unruhigen und gierigen Blicken nach ihnen hin, um aus ihren Geberden und Mienen den Sinn ihrer Worte zu errathen.