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Fünftes Buch.

Telemach erzählt, daß er bei seiner Ankunft in Kreta vernommen, daß Idomeneus, König dieser Insel, seinen einzigen Sohn geopfert, um ein unbedachtsames Gelübde zu lösen; daß die Kreter, das Blut des Sohnes zu rächen, den Vater genöthigt hätten, ihre Insel zu verlassen; daß sie nach langer Unschlüssigkeit gerade damals versammelt gewesen, einen andern König zu wählen. Telemach berichtet, daß er auch in diese Versammlung aufgenommen worden, in mehreren Spielen den Preis davon getragen, und die aus dem Gesetzbuch des Minos ihm vorgelegten Fragen beantwortet habe, und daß die Alten, die Richter der Insel und das ganze Volk, durch seine Einsichten bewogen, ihn zu ihrem Könige hätten ernennen wollen.


» N achdem wir dieses Schauspiel bewundert hatten, fingen wir an, die Berge von Kreta zu entdecken, aber noch konnten wir sie nicht genau von den Wolken des Himmels und den Fluthen des Meeres unterscheiden. Bald erblickten wir die Spitze des Ida, der über die anderen Berge der Insel hervorragt, gleich einem alten Hirsch in einem Walde, der sein zackiges Geweih über die Köpfe der jungen Hirschkälber erhebt, die ihm folgen. Allmählig zeigten sich uns die Küsten der Insel deutlicher; gleich einem Amphitheater stiegen sie vor unsern Augen empor. So vernachlässigt und öde uns der Boden der Insel Cypern geschienen hatte, so fruchtbar zeigte sich uns Kreta, das der Fleiß seiner Einwohner mit allen Arten von Früchten geschmückt hatte.

Auf allen Seiten erblickten wir wohlgebaute Dörfer, Städten ähnliche Flecken und prächtige Städte. Kein Feld, das nicht Spuren der fleißigen Hand des Landmanns zeigte; überall hatte der Pflug tiefe Furchen gezogen. Wildes Gesträuch, Dornbüsche und alle Pflanzen, welche keinen Nutzen bringen, waren in diesem Lande unbekannt. Mit Wohlgefallen betrachteten wir die tiefen Thäler, die fetten Weiden längs den Bächen, die Heerden brüllender Stiere, die auf sanft abhängenden Hügeln weidenden Schafe, die unübersehbaren Felder mit goldenen Aehren, den reichen Geschenken der fruchtbaren Ceres bedeckt, und die mit Weinlaub und schön gefärbten Trauben geschmückten Berge, die dem Winzer die milden Gaben des Bacchus und das süße Labsal versprachen, das die Sorgen der Menschen besänftigt.

Mentor sagte uns, daß er schon vordem in Kreta gewesen, und erzählte uns, was er von diesem Lande wußte.

›Diese, von allen Fremden bewunderte Insel,‹ begann er, ›prangt mit hundert Städten. Sie nährt ihre Einwohner, so zahllos sie auch sind, ohne Mühe, denn die Erde wird nie müde, ihre Gaben demjenigen zu spenden, der sie baut; ihr fruchtbarer Schooß ist unerschöpflich. Je größer die Zahl der Menschen in einem Lande ist, wenn anders sie die Arbeit lieben, desto mehr Ueberfluß genießen sie, und keiner hat Ursache, den andern zu beneiden. Die Erde, diese zärtliche Mutter, vervielfältigt ihre Gaben nach der Zahl ihrer Kinder, wenn sie sich derselben durch ihren Fleiß würdig zu machen wissen. Ehrgeiz und Habsucht sind die einzigen Quellen der Leiden der Menschen. Menschen, die ihren Begierden keine Schranken setzen, bereiten sich selbst durch das Streben nach entbehrlichen Dingen ihr Unglück. Könnten sie sich entschließen, einfach zu leben, und sich mit dem Nothwendigen zu begnügen, so würden allenthalben Ueberfluß, Freude, Friede und Eintracht herrschen.

Dies erkannte Minos, der weiseste und beste aller Könige. Alles, was ihr in dieser Insel Bewundernswürdiges sehen werdet, ist die Frucht seiner Gesetze. Die Erziehung, die er den Kindern geben ließ, ertheilt dem Körper Gesundheit und Stärke. Frühzeitig werden sie an ein einfaches, mäßiges und arbeitsames Leben gewöhnt; man ist überzeugt, daß die Lüste Körper und Geist erschlaffen. Sich durch nichts von dem Pfade der Tugend ablenken zu lassen, durch rühmliche Thaten sich hervor zu thun, dies allein wird zum Ziel ihres Bestrebens gesetzt. Nicht bloß der wird für tapfer gehalten, den die Gefahren des Krieges und der Tod nicht schrecken, sondern auch derjenige, welcher großen Reichthum und entehrende Vergnügungen zu verachten weiß. Drei Laster werden in diesem Lande bestraft, die bei andern Völkern ungestraft bleiben: die Undankbarkeit, die Verstellung und der Geiz.

In Kreta bedarf es keiner Gesetze, um Prunk und Ueppigkeit einzuschränken, denn diese Laster sind hier unbekannt. Die Menschen arbeiten, ohne nach großen Reichthümern zu streben. Jeder hält sich für seine Mühe hinlänglich belohnt, wenn sie ihm nur ein stilles und gemächliches Leben gewährt, wo er in ungestörter Ruhe und im Ueberfluß dasjenige genießen kann, was zur Erhaltung des Lebens nothwendig ist. In Kreta duldet man weder kostbare Geräthschaften, noch prächtige Kleider, noch köstliche Gastmähler, noch vergoldete Paläste. Die Kleider sind von feiner schön gefärbter Wolle, aber ganz einfach und ohne alles Stickwerk. Nüchternheit herrscht bei ihren Mahlzeiten, und es wird wenig Wein bei denselben getrunken. Sie bestehen vorzüglich aus gutem Brot, aus Früchten, die die Bäume gleichsam von selbst darbieten, und aus der Milch der Heerden; höchstens genießen sie grobes Fleisch ohne leckerhafte Zubereitung. Ja, auch die besten Stücke ihrer großen Rinderheerden werden sorgfältig zum Dienste des Ackerbaues aufgespart. Die Wohnungen sind reinlich, bequem, von lachendem Ansehen, aber ohne allen Schmuck. Die Kunst, prächtige Gebäude auszuführen, ist in Kreta nicht unbekannt, aber sie wird nur bei den Tempeln der Götter angewendet, und die Menschen würden sich scheuen, in Gebäuden zu wohnen, die den Behausungen der Unsterblichen ähnlich sind. Gesundheit, Leibesstärke, Muth, Friede und Eintracht unter Verwandten, Freiheit der Bürger, Ueberfluß des Nothwendigen, Verachtung des Entbehrlichen, Arbeitsamkeit, Abscheu vor dem Müßiggang, Tugendeifer, Gehorsam gegen die Gesetze, Scheu vor den gerechten Göttern – dies sind die Güter, welche die Kreter vor allen andern schätzen.‹

Ich fragte ihn, worin das Ansehen des Königs bestände, und er antwortete mir:

›Er besitzt eine unumschränkte Gewalt über sein Volk, aber er selbst steht ganz unter dem Gesetze. Er hat völlige Macht Gutes zu thun, aber die Hände sind ihm gebunden, sobald er Böses thun will. Die Gesetze vertrauen ihm die Glückseligkeit des Volks als das kostbarste aller Güter an, aber nur unter der Bedingung, daß er der Vater seiner Untergebenen sei. Das Gesetz will, daß einer unter vielen durch seine Weisheit und Mäßigung das Werkzeug der Glückseligkeit eines ganzen Volkes werde, und nicht, daß ein ganzes Volk in niedrige Knechtschaft und ins Elend versinke, um den Stolz und der Sinnlichkeit eines einzigen zu fröhnen. Der König soll vor seinen Unterthanen nichts voraus haben; als was er zur Erleichterung seiner mühevollen Arbeiten bedarf, und was erforderlich ist, das Ansehen dessen bei dem Volke zu erhalten, der die Gesetze handhaben soll; übrigens soll er mehr Nüchternheit besitzen, und von Ueppigkeit, Prachtliebe und Stolz weiter entfernt sein, als jeder andere. Nicht durch größere Reichthümer, nicht durch Schwelgerei, sondern durch Weisheit und Tugend und Liebe zum Ruhm soll er sich vor andern Menschen auszeichnen. Seine Pflicht ist, das Vaterland gegen auswärtige Feinde zu vertheidigen und selbst der Anführer seiner Kriegsheere zu sein, und im Innern, seines Reichs das Richteramt zu verwalten, um seine Untergebenen weise, gut und glücklich zu machen. Die Götter haben ihn nicht zum König gesetzt, damit er nur sich diene; sie wollen, daß er für sein Volk lebe, daß er diesem seine ganze Zeit, alle seine Arbeit, sein ganzes Leben widme, und nur dann ist er würdig, dieses hohe Amt zu verwalten, wenn er sich selbst vergißt, und seine Neigungen dem allgemeinen Besten zum Opfer bringt.‹

Minos wollte, daß seine Kinder nur dann nach ihm regieren sollten, wenn sie diese Grundsätze befolgten. Er liebte sein Volk mehr, als sein Geschlecht, und durch diese erhabenen Gesinnungen hat er Kreta so mächtig, so glücklich gemacht; durch diese Mäßigung gelang es ihm, den Ruhm aller jener Länderbezwinger zu verdunkeln, die keine andere Absicht haben, als die Völker zu Werkzeugen ihrer Größe oder vielmehr, ihrer Eitelkeit zu machen, und durch seine Gerechtigkeit hat er verdient, in der Unterwelt zum obersten Richter der Todten bestellt zu werden.‹

Während Mentor sprach, landeten wir auf der Insel. Wir sahen das berühmte Labyrinth, ein Werk des kunstreichen Dädalus, und eine Nachahmung jenes großen Labyrinths, das wir in Aegypten gesehen hatten. Noch waren wir mit der Betrachtung dieses merkwürdigen Gebäudes beschäftigt, als wir eine Menge Volks erblickten, welche das Ufer bedeckte, und in großen Schaaren einem nicht weit vom Strand des Meeres entfernten Orte zueilte. Wir fragten nach der Ursache dieser geschäftigen Eile, und ein Kreter, Namens Nausikrates, gab uns folgenden Bericht:

›Idomeneus, Deukalions Sohn, des Minos Enkel, war mit den andern griechischen Königen gen Troja gezogen. Diese Stadt fiel, und er segelte von dannen, um nach Kreta zurückzukehren. Auf dieser Fahrt wurde er von einem so heftigen Sturm überfallen, daß der Steuermann und alle der Schifffahrt Kundige den Schiffbruch für unvermeidlich hielten. Jeder sah den Tod vor Augen, jeder erblickte die Schlünde des Meeres geöffnet, ihn zu verschlingen, jeder beweinte sein Unglück, indem er nicht einmal hoffen konnte, in die traurige Ruhe jener Schatten einzugehen, deren Leiber die Erde bedeckt, und welchen vergönnt ist, über den Styx zu gehen. Idomeneus hob Augen und Hände gen Himmel: »Mächtiger Gott«, so flehte er zu Neptun empor, »du, der du den Wogen gebietest, höre einen Unglücklichen! Rette mich aus diesem wüthenden Sturm, laß mich die Insel Kreta wieder erblicken, und das erste Haupt, das sich meinen Augen darstellt, soll dir zum Opfer fallen!«

Indeß eilte sein Sohn, von Sehnsucht getrieben, den Vater wieder zu sehen, ihm entgegen, um ihn in seine Arme zu schließen. Der Unglückliche! er wußte nicht, daß er seinem Verderben entgegen ging. Der Vater, dem Sturm entgangen, läuft in den erflehten Hafen ein; er dankt dem Neptun, daß er sein Gebet erhört habe. Aber bald sieht er, wie unglücklich er durch sein Gelübde geworden. Er ahnet sein Verderben; quälende Reue über sein unbedachtsames Versprechen wandelte ihn an; ihm bangt, unter den Seinigen anzulangen; er zittert zu sehen, was ihm das Liebste auf der Welt ist. Aber die grausame und unerbittliche Nemesis, stets wachsam, die Verbrechen der Menschen und besonders den Uebermuth der Könige zu bestrafen, stößt den Idomeneus, mit unwiderstehlicher und unsichtbarer Hand vorwärts. Er langt an; kaum wagt er, die Augen aufzuschlagen Er erblickt seinen Sohn. Von Entsetzen ergriffen, bebt er zurück. Umsonst sucht sein Auge ein anderes, ihm minder theueres Wesen, das ihm zum Opfer dienen könnte.

Indeß fällt der Sohn dem Vater um den Hals; er erstaunt, ihn seine Zärtlichkeit nicht erwiedern zu sehen, er sieht ihn in Thränen zerfließen.

»Ach, mein Vaters,« sagte er zu ihm, »woher diese Traurigkeit? Nach einer so langen Abwesenheit schmerzt es dich, dich wieder in deinem Reiche zu erblicken, und deinen Sohn glücklich zu machen?Was habe ich verbrochen? Du wendest deine Augen von mir, aus Furcht mich anzusehen.«

Der Vater, in Schmerz versunken, antwortete nicht: tiefe Seufzer dringen aus seiner Brust. Endlich ruft er aus:

»Ach, Neptun, was hab' ich dir gelobt? Um welchen Preis rettest du mich aus dem Schiffbruch? Gib mich den Wogen und den Felsen zurück, den Felsen, die mein Schiff zerschmettern, und meinem jammervollen Leben ein Ende machen sollten! Laß meinen Sohn leben! Unerbittlicher Gott, hier ist mein Blut, nimm es hin, verschone das seinige!«

Indem er diese Worte sagte, zog er sein Schwert, um sich zu durchbohren; aber alle diejenigen, die ihn umgaben, hielten seine Hand zurück. Der Greis Sophronismus, der Seher, gab ihm die Versicherung, daß er den Gott des Meeres versöhnen könnte, ohne seinen Sohn zu tödten.

»Dein Gelübde,« sprach er, »war unüberlegt; die Götter wollen nicht durch grausame Handlungen geehrt sein. Hüte dich, Idomeneus, die Strafbarkeit deines Gelübdes dadurch zu vergrößern, daß du es mit Uebertretung der Gesetze der Natur lösest. Opfere dem Neptun hundert weiße Stiere; ihr Blut ströme um seinen mit Blumen bekränzten Altar, lieblicher Weihrauch flamme auf demselben zur Ehre dieses Gottes.«

Mit gesenktem Haupte, und ohne zu antworten, hörte Idomeneus diese Worte; Wuth flammte in seinen Augen; sein bleiches, entstelltes Gesicht änderte jeden Augenblick die Farbe; seine Glieder zitterten.

Der Sohn sagte zu ihm:

»Hier bin ich, mein Vater; dein Sohn ist bereit, zu sterben, um den Gott des Meeres zu versöhnen; lade seinen Zorn nicht auf dich; ich sterbe zufrieden, weil mein Tod dein Leben erhalten wird; stoße zu, mein Vater, fürchte nicht, in mir einen Sohn zu finden, der deiner unwürdig sei, dem vor dem Tode bange.«

Idomeneus, außer sich und wie von den höllischen Furien zerfleischt, erfleht den Augenblick, sich den Augen seiner Beobachter zu entziehen, und stößt sein Schwert in das Herz seines Sohnes. Dampfend und ganz mit Blut gefärbt, zieht er es wieder heraus, um sich selbst damit zu durchbohren; er wird noch einmal von denen zurückgehalten, die um ihn sind.

Der Knabe liegt in seinem Blute; die Schatten des Todes bedecken seine Augen; halb öffnet er sie noch einmal dem Licht; er erblickt es, und fühlt, daß er es nicht mehr ertragen kann. So sinkt eine schöne Lilie mitten im Felde, durch die Pflugschaar in ihrer Wurzel abgeschnitten; ermattet sinkt sie hin, und kann sich nicht mehr empor halten, noch hat sie ihr blendendes Weiß, noch den Glanz nicht verloren, der die Augen ergötzte, aber die Erde nährt sie nicht mehr, und ihr Leben ist erloschen; also fiel auch der Sohn des Idomeneus, ähnlich einer jungen und zarten Blume, in der ersten Blüthe seines Alters grausam hinweggemäht.

Der quälende Schmerz raubt dem Vater die Besinnung; er weiß nicht, wo er ist, nicht was er thut, noch was er beginnen soll; mit wankenden Schritten geht er der Stadt zu, und fragt nach seinem Sohne.

Indessen schreit das Volk, von Mitleid gegen das Kind und von Abscheu vor der unmenschlichen That des Vaters ergriffen, aus: »Die gerechten Götter haben ihn in die Gewalt der Furien gegeben.« Die Wuth bewaffnet sie; sie ergreifen Prügel und Steine; die Zwietracht haucht ihr tödtliches Gift in alle Herzen; die Kreter, die weisen Kreter vergessen der Mäßigung, die sie sonst so sehr liebten.

Idomeneus Freunde sahen kein anderes Mittel mehr, ihn zu retten, als ihn zu seinen Schiffen zurückzuführen; sie schifften sich mit ihm ein; sie überlassen sich den Wogen; sie fliehen. Indessen kommt Idomeneus wieder zu sich; er dankt ihnen, daß sie ihn einem Boden entrissen, den er mit dem Blute seines Sohnes gefärbt, und den er nicht mehr hätte bewohnen können. Die Winde trieben sie gegen Hesperien, und sie sind im Begriff, ein neues Reich in dem Lande der Salentiner zu gründen.

Die Kreter, ihres Königs beraubt, beschlossen einen Mann zu ihrem Oberhaupte zu wählen, der die Gesetze des Landes in ihrer Reinheit bewahre. Dies sind die Vorkehrungen, die sie getroffen haben, diese Wahl zu bewerkstelligen. Die angesehensten Bürger ihrer hundert Städte sind hier versammelt. Schon hat man den Anfang mit den Opfern gemacht. Man hat die berühmtesten Weisen der benachbarten Länder zusammen berufen, damit sie erforschen, wer durch seine Einsichten der Regierung würdig sei; man hat öffentliche Spiele angestellt, wo alle diejenigen kämpfen sollen, die nach der Königswürde verlangen, denn man will die Oberherrschaft nur demjenigen ertheilen, der die andern an Einsichten des Geistes und an Vorzügen des Körpers übertreffen wird. Man verlangt einen König, dessen Körper stark und gewandt, und dessen Seele mit Weisheit und Tugend geschmückt sei; deswegen sind auch alle Fremden hieher berufen worden.‹

Nach Erzählung dieser wunderbaren Geschichte sagte Nausikrates zu uns:

›So säumet denn nicht, ihr Fremdlinge, auch in unsere Versammlung zu kommen; ihr werdet mit den übrigen kämpfen, und wofern die Götter einem von euch den Sieg über die andern bestimmt haben, so wird er in diesem Lande regieren.‹

Wir folgten ihm, ohne ein Verlangen zu fühlen, den Sieg davon zu tragen, sondern bloß aus Neugier, eine so ungewöhnliche Sache zu sehen.

Wir traten in eine Art von zirkelrundem Platz von sehr großem Umfang; ein dicker Wald umgab ihn. In der Mitte dieser Zirkelfläche war ein mit Sand bestreuter Platz für die Kämpfer bereit, von einem großen Amphitheater von frischen Rasen umgeben, wo das in unzählbarer Menge versammelte Volk in schöner Ordnung saß. Als wir anlangten, empfing man uns auf eine ehrenvolle Art; denn kein Volk der Erde übt die Gastfreiheit mit mehr Edelmuth und Gewissenhaftigkeit, als die Kreter. Man wies uns Sitze an und lud uns zum Kampfe ein. Mentor führte sein Alter und Hazael seine schwache Gesundheit zur Entschuldigung an.

Meine Jugend und meine Kraft ließen keine Entschuldigung zu; doch warf ich einen Blick auf Mentor, um seine Gedanken zu erforschen. Ich bemerkte, daß er wünschte, daß ich kämpfen möchte. Ich nahm also das Anerbieten an. Ich entkleidete mich. Ein sanftes und glänzendes Oel wurde in Strömen über alle Glieder meines Körpers ausgegossen. Ich stellte mich unter die Streitenden. Von allen Seiten erscholl's: ›Der Sohn des Ulysses ist gekommen, den Preis in den Spielen davon zu tragen,‹ und viele Kreter erkannten mich, die während meiner Jugend in Ithaka gewesen waren.

Der Anfang wurde mit dem Ringen gemacht. Ein Rhodier von ungefähr fünf und dreißig Jahren überwältigte alle, die es wagten, sich ihm entgegen zu stellen. Er war noch in voller Jugendkraft; seine Arme waren nervig und fleischig. Bei der geringsten Bewegung, die er machte, zeigten sich alle seine Muskeln. Er war eben so gewandt, als stark. Ich schien ihm nicht würdig zu sein, von ihm überwunden zu werden. Mitleidig blickte er auf meine zarte Jugend, und war im Begriff sich wegzubegeben, als ich mich vor ihn stellte. Wir griffen einander an, wir drückten uns bis zum Ersticken. Schulter drängte sich gegen Schulter; Fuß gegen Fuß. Unsere Sehnen waren gespannt, unsere Arme ineinander gewunden, wie Schlangen. Jeder strengte sich an, seinen Gegner zu Boden zu werfen. Bald versuchte er es, mich zu überraschen, indem er mich in die rechte Seite stieß, bald bemühte er sich, mich gegen die linke niederzubeugen. Während er mir auf diese Art beizukommen suchte, rannte ich mit solcher Heftigkeit gegen ihn an, daß seine Lenden nachgaben. Er stürzte auf den Kampfplatz, und riß mich auf sich nieder. Vergebens bemühte er sich, mich unter sich zu bringen, ich hielt ihn unbeweglich unter mir. Das ganze Volk rief aus: ›Heil dem siegreichen Sohne des Ulysses!‹ und ich half dem beschämten Rhodier vom Boden aufstehen.

Der Kampf mit dem Cästus Mit Metallstücken versehene Faustwehr, die zeitweise beim antiken Faustkampf Verwendung fand. – Anm.d.Hrsg. hatte mehr Schwierigkeit. Der Sohn eines reichen Bürgers aus Samos hatte sich hohen Ruhm in diesem Kampf erworben. Er hatte alle andere überwältigt; ich war noch der Einzige, der hoffen konnte, ihm obzusiegen. Er versetzte mir gleich anfangs so gewaltige Schläge auf Kopf und Magen, daß ich Blut auswarf, und eine dicke Wolke sich über meine Augen zog. Ich wankte; er drang auf mich ein; der Athem entging mir. Aber Mentors Stimme gab mir neues Leben. ›Sohn des Ulysses,!‹ rief er mir zu, ›solltest du überwunden werden?‹ Der Zorn gab mir neue Kraft. Ich vermied mehrere Streiche, die mich würden zu Boden gestürzt haben. Ich ersah den Augenblick, da der Samier einen Fehlstreich gethan hatte, und sein Arm sich vergebens ausstreckte, um mich zu erreichen, ihn in dieser gebückten Stellung zu überfallen. Schon taumelte er rückwärts, als als ich meinen Cästus erhob, um mit desto größerer Gewalt auf ihn zu stürzen. Er wollte ausbeugen, aber er verlor das Gleichgewicht, und gab mir dadurch Gelegenheit, ihn zu Boden zu werfen. Kaum war er auf der Erde ausgestreckt, so reichte ich ihm die Hand, um ihm wieder aufzuhelfen. Er richtete sich selbst auf, mit Staub und Blut bedeckt. Er war äußerst beschämt, aber er getraute sich nicht, den Kampf zu erneuern.

Das Wagenrennen nahm jetzt den Anfang. Die Wagen wurden nach dem Loose vertheilt. Der meinige war unter allen der schlechteste; seine Räder waren nicht leicht genug, und den Pferden fehlte es an Stärke. Wir fuhren ab. Eine Staubwolke erhob sich, und bedeckte den Himmel. Anfangs ließ ich die andern vor mir hinfahren. Ein junger Lacedämonier, Krantor genannt, ließ zuerst alle andern hinter sich. Polikletes, ein Kreter, war zunächst hinter ihm. Hippomachus, ein Verwandter des Idomeneus, dessen Nachfolger er zu werden hoffte, ließ seinen von Schweiß dampfenden Pferden die Zügel schießen; sein ganzer Leib beugte sich über ihre flatternden Mähnen hin. Sein Wagen flog so schnell dahin, daß die Räder desselben unbeweglich schienen, wie die Flügel eines Adlers, der durch die Luft hinstreicht. Allmählig ermunterten sich meine Pferde, und fingen an, sich in Athem zu setzen. Bald ließ ich alle diejenigen weit hinter mir zurück, welche ihren Lauf mit so vieler Eile begonnen hatten. Während Hippomachus seine Pferde allzusehr antrieb, stürzte das stärkste derselben zu Boden, und raubte durch seinen Fall seinem Herrn die Hoffnung zu regieren.

Polikletes, der sich zu sehr über seine Pferde hingebeugt hatte, konnte sich bei einem Stoß nicht aufrecht erhalten; er fiel vom Wagen; die Zügel entfielen seinen Händen, und er konnte sich noch glücklich schätzen, dem Tode zu entgehen.

Mit zornerfüllten Augen sah Krantor, daß ich ihm ganz nahe war. Er verdoppelte seine Anstrengung. Bald flehte er zu den Göttern, und versprach ihnen reiche Gaben; bald sprach er zu seinen Pferden, um sie anzufrischen. Er besorgte, daß ich zwischen ihm und dem Ziele hinfahren möchte, denn meine Pferde, minder entkräftet, als die seinigen, waren vermögend, ihm zuvorzukommen. Es blieb ihm kein anderes Mittel mehr übrig, als mir den Weg zu versperren. Um dies zu bewerkstelligen, lief er Gefahr, seinen Wagen an dem Ziele zu zerschmettern; er zerbrach auch wirklich ein Rad an demselben. Ich war nun auf nichts anderes bedacht, als durch schnelle Wendung ihn zu umgehen, um nicht in seinen Fall verwickelt zu werden, und einen Augenblick nachher sah er mich am Ende der Laufbahn. Noch einmal rief das Volk aus: ›Der Sohn des Ulysses ist Sieger; ihn haben die Götter bestimmt, über uns zu herrschen.‹

Jetzt wurden wir von den angesehensten und weisesten unter den Kretern in einen alten und geheiligten Wald geführt, der sich den Augen der Ungeweihten entzog. Hier versammelten uns die Alten, welche Minos zu Richtern des Volks und zu Aufsehern der Gesetze bestellt hatte. Wir waren dieselben, welche in den Spielen gekämpft hatten; kein anderer wurde in diese Versammlung gelassen. Die Weisen öffneten die Bücher, in welchen die Gesetze des Minos enthalten waren.

Ehrfurcht und Scham wandelten mich an, als ich mich diesen Greisen nahte, denen ihr hohes Alter so viele Würde gab, ohne ihnen etwas von der Stärke des Geistes geraubt zu haben. Sie saßen nach der Ordnung ruhig und unbeweglich. Ihre Haare waren gebleicht; mehrere von ihnen hatten beinahe keine mehr. Sanfte, stille Weisheit ruhte auf ihren ernsten Gesichtern. Sie sprachen mit Bedacht, und wußten sich im Reden zu mäßigen. Waren sie verschiedener Meinung, so brachten sie ihre Behauptungen mit solcher Bescheidenheit vor, daß man hätte glauben sollen, sie seien alle eines Sinnes. Lange Erfahrung und Uebung in Geschäften hatten ihnen tiefe Einsichten in alle Sachen gegeben. Was aber ihrer Vernunft die höchste Reife gab, war die Ruhe ihres Gemüths. Frei von thörichten Leidenschaften und von grillenhaften Einfällen der Jugend, wurden sie allein von der Weisheit geleitet. Durch lange Uebung der Tugend hatten sie eine vollkommene Herrschaft über ihre Begierden erlangt. Sie gehorchten der Vernunft, ohne sich Gewalt anzuthun, und genossen des süßen und edlen Vergnügens, ihren Vorschriften zu folgen.

Mit Bewunderung blickte ich auf die Weisen und wünschte, daß meine Tage schnell dahin eilen möchten, damit ich auf einmal dieses kostbare Alter erreiche. Die Jugend, so ungestüm in ihren Begierden, so weit von dieser erleuchteten und ruhigen Tugend entfernt, schien mir ein unglücklicher Zustand.

Der erste dieser Alten öffnete das Gesetzbuch des Minos. Es war, ein großes Buch, das man in einem goldenen Kästchen unter wohlriechenden Spezereien verwahrte. Die Greise küßten es mit Ehrfurcht; ›denn nächst den Göttern,‹ sagten sie, ›von welchen gute Gesetze herrühren, muß den Menschen nichts so heilig sein, als eben diese Gesetze, die bestimmt sind, sie gut, weise und glücklich zu machen. Diejenigen, deren Händen die Gesetze anvertraut sind, damit sie durch dieselben über das Volk herrschen, müssen sich immer selbst von dem Gesetz leiten lassen. Das Gesetz und nicht der Mensch soll herrschen.‹

Also sprachen die Weisen. Alsdann legte derjenige, welcher den Vorsitz hatte, drei Fragen vor, welche im Geiste des Minos beantwortet werden sollten.

Die erste Frage lautete also: ›Wer ist der Freieste aller Menschen?‹

Einige antworteten, daß es ein König sei, der mit unumschränkter Macht über sein Volk herrsche, und alle seine Feinde besiege. Andere behaupteten, daß es ein Mensch sei, der Reichthümer genug besitze, um alle seine Begierden befriedigen zu können. Andere sagten, es sei ein Mensch, der sich nicht vermähle, und sein ganzes Leben hindurch in fremden Ländern umherreise, ohne jemals den Gesetzen irgend eines Volks unterworfen zu sein. Einige wähnten, daß es ein Barbar sei, der mitten in den Wäldern von der Jagd lebe, durch keine bürgerliche Verfassung gebunden, und frei von allen Bedürfnissen. Andere glaubten, daß es ein Mensch sei, der so eben der Knechtschaft entgangen sei, weil er, das Drückende der Sklaverei nicht mehr; fühlend, mehr als irgend ein anderer die Annehmlichkeiten der Freiheit schmecken müsse. Einige kamen sogar auf den Gedanken, daß es ein Sterbender sei, weil der Tod ihn von allen Leiden befreie, und die Menschen insgesammt keine Gewalt mehr über ihn hätten.

Als die Reihe an mich kam, war es mir nicht schwer zu antworten, denn ich hatte nicht vergessen, was Mentor mir so oft gesagt, hatte. ›Derjenige Mensch,‹ sagte ich, ›besitzt die größte Freiheit, der sich in der Dienstbarkeit selbst frei fühlt. In welchem Land, in welcher Lage ein Mensch auch immer sein mag, er genießt vollkommene Freiheit, wenn er nur die Götter fürchtet, und sonst keine Furcht kennt. Mit einem Wort, der wahrhaft freie Mensch ist derjenige, welcher von aller Furcht, von allen Begierden entbunden, nur den Göttern und der Vernunft gehorcht.‹

Lächelnd sahen sich die Alten unter einander an: sie erstaunten, als sie hörten, daß ich eben so geantwortet hatte, wie Minos selbst.

Jetzt wurde die zweite Frage vorgelegt: ›Wer ist,‹ so lautete sie, ›der Unglücklichste unter den Menschen?‹

Jeder sagte, was ihm in den Sinn kam. Der eine: es ist ein Mensch, der weder Vermögen, noch Gesundheit, noch Ehre besitzt. Ein anderer sagte: es ist ein Mensch, der keinen Freund hat. Andere behaupteten, es sei ein Mensch, der undankbare, seiner unwürdige Kinder habe. Ein Weiser aus Lesbos trat auf, und sagte: ›Der unglücklichste aller Menschen ist derjenige, welcher glaubt es zu sein, denn das Unglück rührt nicht sowohl von den Widerwärtigkeiten her, die man zu erdulden hat, als von der Ungeduld, womit man sie erträgt, und wodurch sie nur vermehrt werden.‹

Bei diesen Worten erhob die ganze Versammlung ein Geschrei; man gab dem Lesbier Beifall, und jeder glaubte, daß er bei dieser Frage den Preis davon tragen würde. Aber man verlangte auch meine Meinung zu hören, und ich antwortete Mentors Grundsätzen gemäß:

›Der Unglücklichste aller Menschen ist ein König, welcher glücklich zu sein glaubt, während er andere Menschen elend macht. Seine Verblendung macht ihn doppelt unglücklich, denn da er seinen Zustand nicht kennt, so ist auch seine Genesung unmöglich; überdies scheut er sich vor allem, was ihm diese Kenntniß verschaffen könnte; Die Wahrheit bemüht sich umsonst, den Haufen der Schmeichler zu durchdringen, und bis zu ihm zu gelangen. Er ist ein Sclave seiner Leidenschaften; er kennt nicht seine Pflichten; nie genießt er das Vergnügen, Gutes zu thun, nie die Freuden der reinen Tugend. Er ist unglücklich und verdient es zu sein. Mit jedem Tage vermehrt sich sein Elend. Er läuft seinem Verderben entgegen, und schon rüsten sich die Götter, seinen Uebermuth mit ewigen Strafen zu belegen.‹

Die ganze Versammlung gestand, daß ich den weisen Lesbier überwunden, und die Alten erklärten; daß ich den Sinn des Minos vollkommen getroffen hätte.

Die dritte Frage war: ›Wer verdient den Vorzug, ein König, welcher Länder bezwingt und im Kriege unüberwindlich ist, oder derjenige, welcher, ohne des Krieges kundig zu sein, die Geschicklichkeit besitzt, sein Volk im Frieden mit Weisheit zu regieren?‹

Die meisten antworteten, daß der Vorzug dem gebühre, der stets siegreich über seine Feinde sei.

›Was nutzt es,‹ sagten sie, ›einen König zu haben, der die Kunst versteht, im Frieden gut zu regieren, wenn er das Vaterland bei Entstehung eines Krieges nicht zu vertheidigen weiß? Der Feind wird ihn überwinden und sein Volk in die Knechtschaft führen.‹

Andere behaupteten dagegen, daß ein friedlich gesinnter König dem andern vorzuziehen sei, weil er den Krieg scheuen, und sich bemühen werde, ihn zu vermeiden. Andere sagten, daß ein kriegerischer König sich und seinem Volk durch seine Thaten hohen Ruhm erwerbe, und seine Untergebenen zu Herren anderer Völker mache, statt daß sie unter einem friedfertigen in eine schimpfliche Trägheit versinken würden.

Man wollte meine Meinung wissen, und ich antwortete also:

»Ein Fürst, dem es der Geschicklichkeit fehlt, sein Volk sowohl in Friedenszeiten zu regieren, als es im Kriege anzuführen, ist nur ein halber Regent. Vergleicht man aber einen bloß kriegerischen König mit einem weisen Fürsten, der, ohne selbst Kriegserfahrenheit zu haben, den Krieg im Nothfall durch seine Feldherren zu führen weiß, so muß ich dem Letztern den Vorzug geben. Ein König, dessen ganze Seele nur auf kriegerische Thaten gerichtet ist, wird stets Krieg führen wollen, um seine Herrschaft zu erweitern und seinen Ruhm zu vermehren; er wird sein Volk zu Grunde richten. Welchen Gewinn hat ein Volk davon, wenn sein König andere Nationen unterjocht, während es selbst unter seiner Regierung elend ist? Langwierige Kriege ziehen immer viele Unordnungen nach sich; der siegende Theil selbst verschlimmert sich während dieser Zeit der Verirrung. Sehet, um welchen Preis Griechenland seinen Triumph über Troja erkauft hat. Länger als zehn Jahre war es seiner Könige beraubt, Wenn der Krieg rings umher alles in Flammen setzt, so gerathen Gesetze, Ackerbau und Künste in Verfall. Auch die besten Fürsten sind während des Kriegs genöthigt, das größte aller Uebel, die Zügellosigkeit zu dulden, und sich der Lasterhaften zu bedienen. Wie viele Frevler gibt es, die man in Friedenszeiten bestrafen würde, und deren kühnen Muth man während der Verwirrung des Krieges belohnen muß? Nie hatte ein Volk einen ländersüchtigen Fürsten, ohne sehr viel von seinem Ehrgeiz zu leiden. Ein Eroberer, der von seinem Ruhm berauscht ist, stürzt sein eigenes siegreiches Volk beinahe eben so sehr ins Verderben, als andere Völker, die er bezwungen hat. Besitzt ein Fürst nicht die Eigenschaften, die erforderlich sind, in Zeiten des Friedens zu regieren, wie kann er seinen Unterthanen den Genuß der Früchte eines glücklich geendigten Krieges verschaffen? Er gleicht einem Menschen, der zwar seinen Acker gegen seinen Nachbar zu vertheidigen, und zur gleichen Zeit die Felder desselben an sich zu reißen, aber nicht zu pflügen, zu säen und keine Erndte einzusammeln wüßte. Ein solcher Fürst scheint bloß geboren zu sein, zu verheeren, zu verwüsten, die ganze Welt umzukehren; aber nicht sein Volk durch eine weise Regierung glücklich zu machen.

Betrachten wir nun den friedliebenden König. Er ist allerdings nicht geschickt, große Eroberungen zu machen, das heißt er ist nicht dazu gemacht, die Ruhe seines Volkes zu stören, während er darauf ausgeht, andere Völker zu unterjochen, welchen zu gebieten er kein Recht hat. Aber wenn er wirklich fähig ist, sein Volk zur Zeit des Friedens mit Weisheit zu regieren, so besitzt er auch gewiß die Eigenschaft, die erforderlich ist, seinem Volke gegen seine Feinde Sicherheit zu verschaffen. Der Grund ist leicht einzusehen. Er ist gerecht und verträglich gegen seine Nachbarn; er weiß sich zu mäßigen; nie wird er etwas gegen sie unternehmen, das den Frieden stören könnte. Die Verträge sind ihm heilig. Seine Bundesgenossen, statt ihn zu fürchten, lieben ihn, und haben ein vollkommenes Zutrauen zu ihm. Findet sich in seiner Nähe irgend ein unruhiger, stolzer, ehrsüchtiger Fürst, so treten alle benachbarten Regenten, die den Ruhestörer fürchten, in den friedfertigen König aber kein Mißtrauen setzen, mit ihm in Bund, um seine Unterdrückung zu verhindern. Seine Rechtschaffenheit, seine Mäßigung, seine Ehrlichkeit macht ihn zum Schiedsrichter aller Staaten, die ihn umgeben. Er genießt den Ruhm, gleichsam der Vater und Vormund aller andern Fürsten zu sein, während der hochstrebende König allen andern verhaßt ist, und immer befürchten muß, daß sie sich gegen ihn verbinden möchten.

Dies sind die Vortheile, die ihm von außen zufließen; noch wichtiger sind diejenigen, die ihm von innen zu Theil werden. Da er die Geschicklichkeit besitzt, sein Volk in Friedenszeiten zu regieren, so darf ich annehmen, daß er nur durch weise Gesetze regiere; er wird also die Prachtliebe, die Ueppigkeit und alle Künste einschränken, die nur den Lastern schmeicheln; er wird diejenigen Künste aufmuntern, die den wahren Bedürfnissen des Lebens dienen; vornehmlich wird er seine Unterthanen zum Ackerbau anhalten; dadurch wird er ihnen Ueberfluß des Nothwendigen verschaffen. Aber ein arbeitsames Volk von einfachen Sitten, das nur wenige Bedürfnisse kennt, und seinen Unterhalt leicht durch den Anbau seiner Ländereien gewinnt, vermehrt sich in's Unendliche. Ein solcher Staat muß nothwendig eine zahllose Menge gesunder, kraftvoller, starker Menschen enthalten, die die Wollüste nicht verzärtelt haben, die durch Tugend geübt sind, die Annehmlichkeiten eines trägen und sinnlichen Lebens nicht kennen, den Tod zu verachten wissen, und eher ihr Leben dahin geben würden, als daß sie sich die Freiheit entreißen lassen sollten, die sie unter einem weisen Könige genießen, dessen ganzes Bestreben dahingeht, sich von den Vorschriften der Vernunft in der Regierung des Landes leiten zu lassen. Sollte ein benachbarter Eroberer dieses Land angreifen, so wird er es vielleicht nicht sehr bewandert finden in der Kunst, ein Lager zu schlagen, sich in Schlachtordnung zu stellen, und die Werkzeuge zu errichten, mit denen man Städte belagert, aber seine Menge, sein Muth, sein Ausdauern in Mühseligkeiten, die Gewohnheit, Mangel zu ertragen, seine Tapferkeit in den Gefechten und eine Seelenstärke, die das Unglück selbst nicht niederschlagen kann, wird es unüberwindlich machen. Mag ein solcher Fürst immerhin nicht Kriegserfahrenheit genug besitzen, seine Heere in eigener Person anzuführen; andere Männer, welche des Krieges kundig sind, werden an seine Stelle treten, und er wird sich ihrer ohne Nachtheil seines Ansehens zu bedienen wissen. Seine Bundesgenossen werden ihm zu Hülfe eilen. Seine Unterthanen werden eher umkommen, als sich einem gewaltthätigen und ungerechten Monarchen unterwerfen; die Götter selbst werden für ihn streiten. Es wird ihm also auch mitten unter den größten Gefahren nie an Hülfsquellen fehlen.

Aus dem, was ich gesagt habe, erhellet demnach, daß ein friedfertiger König, der des Krieges unkundig ist, zwar ein sehr unvollkommener Regent ist, weil es ihm an dem Geschick fehlt, eine seine größten Pflichten zu erfüllen, nämlich seine Feinde zu besiegen, aber ich finde zu gleicher Zeit, daß er einem ländersüchtigen Fürsten weit vorzuziehen ist, der die Gabe nicht hat, seinem Volke zur Zeit des Friedens vorzustehen, und nur zu kriegerischen Unternehmungen geschickt ist.‹

Ich bemerkte mehrere in der Versammlung, denen meine Meinung nicht einleuchten wollte, denn die meisten Menschen, durch äußern Glanz verblendet, ziehen Siege und Eroberungen einfachen, geräuschlosen und dauerhaften Gütern, dem Frieden und einer ruhigen und weisen Regierung vor. Aber die Alten erklärten, daß ich eben so gesprochen hätte, wie Minos.

Der erste dieser Greise rief aus:

›Ich sehe die Erfüllung eines Ausspruchs des Apoll, der in der ganzen Insel bekannt ist. Minos hatte die Götter befragt, wie lange sein Geschlecht nach den Gesetzen regieren würde, die er gegeben hatte. Der Gott gab ihm zur Antwort: »Die Deinigen werden aufhören zu regieren, wenn ein Fremdling in deine Insel kommen, und deinen Gesetzen wieder die Herrschaft verschaffen wird. Wir fürchteten lange, es möchte ein Fremder, als Eroberer, in unsere Insel kommen, und sich dieselbe unterwerfen; aber das Unglück des Idomeneus und die Weisheit des Sohnes des Ulysses, der, wie kein anderer Sterblicher, die Gesetze des Minos versteht, lehren, uns den Sinn des Orakels. Was säumen wir, denjenigen zu krönen, den der Himmel selbst uns zum Könige gibt?««



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