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Zweites Buch.

Telemach erzählt, daß er auf dem tyrischen Schiffe von der Flotte des Sesostris gefangen genommen, und nach Aegypten geführt worden sei. Er schildert die Schönheit dieses Landes und die weise Regierung seines Königs; meldet, daß Mentor als Sklave nach Aethiopien gesendet worden und er selbst genöthigt gewesen, eine Heerde in der Wüste Oasis zu hüten; daß Thermosiris, ein Priester des Apoll, ihm Muth eingesprochen, und ihn gelehrt habe, dem Apoll nachzuahmen, der auch einst dem König Admet als Hirte gedient; daß dem Sesostris endlich die Wunder zu Ohren gekommen, die er unter den Schäfern gewirkt, daß er seine Unschuld erkannt, ihn aus seiner Verbannung zurück berufen, und ihm verheißen habe, ihn nach Ithaka zurück zu senden, daß aber der Tod dieses Königs ihn in neues Unglück gestürzt, und man ihn in einen Thurm am Ufer des Meeres eingeschlossen habe; von wo aus er den neuen König Bocchoris in einem Gefecht mit seinen empörten Unterthanen, denen die Tyrier beigestanden, umkommen sehen.


» D urch ihren Stolz hatten die Tyrier den König Sesostris gegen sich aufgebracht, der in Aegypten regierte, und so viele Reiche erobert hatte. Die Reichthümer, die sie durch den Handel erworben, und die Stärke der unüberwindlichen Stadt Tyrus, die im Meere lag, hatten dieses Volk übermüthig gemacht. Sie hatten sich geweigert, dem Sesostris den Tribut zu entrichten, den er ihnen bei der Wiederkehr von seinen Eroberungen aufgelegt hatte, und hatten seinen Bruder mit Kriegsvölkern unterstützt, der ihn bei seiner Rückkehr mitten unter den Freuden eines großen Gastmahls hatte ermorden wollen.

Um diesen Stolz zu demüthigen, beschloß Sesostris, ihren Handel in allen Meeren zu stören. Nach allen Seiten liefen seine Schiffe aus, die Phönizier aufzusuchen. Eine aegyptische Flotte begegnete uns, als wir anfingen, die Berge von Sizilien aus dem Gesichte zu verlieren. Der Hafen und das Land schienen hinter uns zu fliehen, und sich in den Wolken zu verlieren. Die Schiffe der Aegypter näherten sich uns, gleich einer schwimmenden Stadt. Die Phönizier erkannten sie, und wollten ihnen entfliehen, aber es war nicht mehr Zeit. Ihre Segel waren besser als die unsrigen; der Wind war ihnen günstig; ihre Ruderer waren in größerer Zahl; sie kamen auf uns zu, nahmen uns weg, und führten uns gefangen nach Aegypten.

Vergebens stellte ich ihnen vor, daß wir keine Phönizier seien, kaum würdigten sie mich anzuhören. Sie hielten uns für Sclaven, mit denen die Phönizier handelten, und dachten nur an den Vortheil, den ihnen ihre Beute bringen würde. Schon sahen wir das Wasser des Meeres durch die Vermischung mit dem Nil weiß gefärbt. Wir erblickten die Küste von Aegypten, welche sich nur wenig über die Fläche des Meeres erhebt. Hierauf kamen wir bei der Insel Pharos an, die in der Nähe der Stadt No liegt; von hier fuhren wir den Nil hinauf bis nach Memphis.

Hätte das schmerzliche Gefühl unserer Gefangenschaft uns nicht gegen jedes Vergnügen unempfindlich gemacht, so würden wir mit Entzücken dieses fruchtbare Land angeblickt haben, das, einem lieblichen, von unendlichen Kanälen bewässerten Garten ähnlich, vor unsern Augen da lag. Auf welches der beiden Ufer wir unsere Augen warfen, erblickten wir wohlhabende Städte, reizend gelegene Landhäuser, Ländereien, die, ohne jemals zu ruhen, alle Jahre ihre goldenen Ernten spenden, Wiesen voll weidender Heerden, Ackerleute, die unter der Last der Früchte zu erliegen schienen, die die Erde aus ihrem Schooß hervorbrachte, und Hirten, die mit den lieblichen Tönen ihrer Flöten und Pfeifen rings umher die Luft erfüllten.

›Glücklich,‹ rief Mentor aus, ›das Volk, das ein weiser König beherrscht! Es ist im Besitz des Ueberflusses; es lebt zufrieden, und liebt den, dem es seine ganze Glückseligkeit zu danken hat. So mußt auch du regieren, Telemach, und der Schöpfer des Glückes deines Volkes werden, wenn die Götter dich einst in den Besitz des Reichs deines Vaters setzen. Liebe deine Untergebenen, wie deine Kinder; genieße der Wonne, von ihnen geliebt zu sein, und nie müsse Glück und Ruhe sie beseligen, ohne daß sie sich erinnerten, daß es ein guter König ist, der ihnen diese kostbaren Güter verschafft hat. Die Könige, welche nur darauf sinnen, sich furchtbar zu machen und ihre Unterthanen zu drücken, um sie desto unterwürfiger zu machen, sind die Geißeln des menschlichen Geschlechts. Sie werden gefürchtet, wie sie es wünschen; aber sie werden gehaßt und verabscheuet, und haben noch weit mehr von ihren Unterthanen zu fürchten, als ihre Unterthanen von ihnen.‹

›Ach!‹ antwortete ich Mentorn, ›es kann nun nicht mehr die Rede von den Grundsätzen sein, nach welchen man regieren muß. Es gibt kein Ithaka mehr für uns. Wir werden weder unser Vaterland, noch Penelopen jemals wiedersehen; und wenn auch Ulysses selbst, mit Ehren gekrönt, in sein Reich zurückkehren sollte, so wird ihm doch nie die Freude werden, mich wiederzusehen, mir nie die Freude, ihm zu gehorchen, um von ihm regieren zu lernen. Laß uns sterben, geliebter Mentor; es ist uns nicht erlaubt, einen andern Gedanken zu haben; laß uns sterben, weil die Götter kein Mitleiden mit uns haben.‹

Tiefe Seufzer unterbrachen meine Worte, indem ich dieß sagte. Aber Mentor, der das Unglück fürchtete, ehe es gegenwärtig war, kannte keine Furcht mehr, wenn es ihn wirklich betroffen hatte.

›Unwürdiger Sohn des weisen Ulysses,‹ rief er aus, ›wie? du unterliegst dem Ungemach? Wisse, daß du Ithaka und Penelopen einst wiedersehen wirst; auch denjenigen wirst du in seinem ehemaligen Glanze sehen, den du nie gekannt hast, den unüberwindlichen Ulysses, ihn, den das Unglück nicht niederbeugen kann, und der dir durch sein Betragen in Mühseligkeiten, denen die deinigen bei weitem nicht gleich kommen, ein Beispiel gibt, den Muth nie zu verlieren. Ha! wenn er in den fernen Ländern, wohin ihn die Stürme getrieben haben, erfahren könnte, daß sein Sohn weder seine Geduld, noch seinen Muth nachzuahmen weiß, so würde diese Kunde sein Herz mit Scham erfüllen, und ihm schmerzlicher sein, als alle Leiden, die er schon so lange erduldet.‹

Mentor lenkte sodann meine Aufmerksamkeit auf die Freude und den Ueberfluß, welche über die Gefilde Aegyptens ausgegossen waren, wo man nahe an zwei und zwanzig tausend Städte zählte. Er bewunderte das treffliche Regiment dieser Städte, die Gerechtigkeit, die dem Armen gegen den Reichen zu Theil wurde, die gute Erziehung der Kinder, welche an den Gehorsam, die Arbeit, die Mäßigkeit, die Liebe der Künste und Wissenschaften gewöhnt wurden, die genaue Beobachtung der Religionsgebräuche, die Uneigennützigkeit, die Ehrbegierde, die Redlichkeit und die Furcht der Götter, die jeder Vater seinen Kindern einflößte, und wurde nicht müde, die schöne Ordnung zu bewundern.

›Glücklich,‹ sagte er mir stets von neuem, ›das Volk, das ein weiser König mit solcher Klugheit leitet! Aber glücklicher noch der König, der das Glück so vieler Menschen macht, und das seinige in der Tugend findet! Durch ein weit festeres Band, als das Band der Furcht, knüpft er die Menschen an sich; es ist das Band der Liebe. Man gehorcht ihm nicht bloß, man fühlt sich glücklich, ihm zu gehorchen. Er herrscht über alle Herzen; weit entfernt, sich eines solchen Fürsten entledigen zu wollen, fürchtet ein jeder ihn zu verlieren, und würde gern sein Leben für ihn hingeben.‹

Aufmerksam hörte ich Mentorn zu. Neuer Muth erwachte in meinem Herzen, während dieser weise Freund mit mir redete.

Sobald wir in dem reichen und prächtigen Memphis angelangt waren, befahl der Statthalter, daß wir uns nach Theben begeben sollten, um dem König Sesostris vorgestellt zu werden, der alles selbst untersuchen wollte, und sehr gegen die Phönizier aufgebracht war.

Wir fuhren also den Nil noch weiter hinauf, bis wir zu dieser berühmten Stadt mit hundert Thoren, dem Sitz dieses großen Königs, gelangten. Diese Stadt däuchte uns von ungeheurem Umfange und weit bevölkerter, als die blühendsten Städte Griechenlands. Es herrschte in derselben die größte Sorge für die Reinlichkeit der Straßen, den Lauf des Wassers, die Bequemlichkeit der Bäder, die Uebung der Künste und die öffentliche Sicherheit. Die öffentlichen Plätze waren mit Springbrunnen und Obelisken geziert; die Tempel waren von Marmor und von einfacher, aber erhabener Bauart. Der Palast des Königs allein glich einer großen Stadt; hier erblickte man nur Säulen von Marmor, Pyramiden und Obelisken, kolossalische Bildsäulen und Geräthschaften von gediegenem Gold und Silber.

Diejenigen, welche sich unserer bemächtigt hatten, sagten dem König, daß man uns in einem phönizischen Schiffe gefunden habe. Er hörte jeden Tag zu gewissen festgesetzten Stunden alle diejenigen, welche entweder Beschwerden vorzubringen, oder ihm irgend einen Rath zu ertheilen hatten. Er verachtete keinen Menschen; keiner wurde abgewiesen. Er glaubte nur König zu sein, um seine Unterthanen zu beglücken, die er alle wie seine Kinder liebte. Die Fremden nahm er mit Güte auf, er verlangte, sie selbst zu sehen, weil er überzeugt war, daß man immer etwas Nützliches lerne, wenn man sich von den Sitten und Gebräuchen entfernter Völker unterrichte.

Diese Wißbegierde des Königs war die Ursache, daß wir ihm vorgestellt wurden. Er saß auf einem elfenbeinernen Thron, in der Hand das goldene Scepter. Er war schon betagt, aber leutselig, voll Anmuth und hoher Würde. Am Tage sprach er seinem Volke Recht mit einer Geduld und einer Weisheit, der Jedermann ungeheuchelte Bewunderung zollte. Wenn er dann den ganzen Tag gearbeitet, die Angelegenheiten seines Reichs in Ordnung gebracht, und genaue Gerechtigkeit verwaltet hatte, widmete er den Abend der Erholung. Er hörte die Gelehrten, oder sprach mit tugendhaften Männern, die er mit Einsicht zu wählen wußte, um sie seines vertrauten Umgangs zu würdigen. Sein ganzes Leben war untadelhaft gewesen; man konnte ihm nur einen Vorwurf machen, nämlich, daß er sich seines Triumphes über die von ihm besiegten Könige zu sehr überhoben, und sein Vertrauen einem seiner Unterthanen geschenkt habe, den ich dir sogleich schildern werde.

Als Sesostris mich sah, wurde er von meiner Jugend und meinem Kummer gerührt. Er fragte mich um meinen Namen und mein Vaterland. Wir erstaunten über die Weisheit, die aus ihm sprach.

Ich antwortete ihm: ›Großer König! die Belagerung von Troja, welche zehn Jahre gedauert, und der Untergang dieser Stadt, welche Griechenland so viel Blut gekostet hat, ist dir wohl bekannt. Mein Vater Ulysses war einer der angesehensten Könige, die diese Stadt zerstörten. Jetzt irrt er auf den Meeren umher, ohne sein Königreich, die Insel Ithaka, wieder finden zu können. Ich forsche nach ihm. Ein Schicksal, ähnlich dem seinigen, hat mich in die Gefangenschaft geführt. Gib mich meinem Vater und meinem Vaterlande wieder. Mögen dich dann die Götter deinen Kindern erhalten, und mögen sie das Glück fühlen, unter einem so guten Vater zu leben!‹

Sesostris fuhr fort, mich mit einem Auge des Mitleids anzusehen; aber da er wissen wollte, ob meine Aussage wahr sei, sendete er uns an einen seiner Diener, der den Auftrag erhielt, bei denjenigen, die unser Schiff weggenommen hatten, Erkundigung einzuziehen, ob wir wirklich Griechen oder ob wir Phönizier seien.

›Wenn sie Phönizier sind,‹ sagte der König, ›muß man sie doppelt strafen, weil sie unsere Feinde sind, noch mehr aber, weil sie uns durch eine schändliche Lüge haben hintergehen wollen. Sind sie aber Griechen, so ist mein Wille, daß man sie gütig behandele, und daß man sie auf einem meiner Schiffe in ihre Heimat sende. Denn ich liebe Griechenland; mehrere Aegypter haben dort Gesetze gegeben; ich kenne die Heldentugend des Herkules; der Ruhm des Achilles ist bis zu uns gedrungen, und ich bewundere, was man mir von der Weisheit des unglücklichen Ulysses erzählt hat; mein Vergnügen ist, der leidenden Tugend beizustehen.‹

Der Beamte, dem der König die Untersuchung unserer Sache aufgetragen hatte, war eben so lasterhaft und arglistig, als Sesostris unverstellt und edelmüthig war. Er nannte sich Metophis. Er legte uns verfängliche Fragen vor, und da er bemerkte, daß Mentor mit mehr Klugheit antwortete, als ich, sah er ihn mit Widerwillen und Mißtrauen an; denn der Lasterhafte haßt den Rechtschaffenen. Er trennte uns, und von dieser Zeit an wußte ich nicht mehr, was aus Mentorn geworden war.

Diese Trennung war ein Donnerschlag für mich. Metophis hoffte noch immer, wenn er uns einzeln befragte, widersprechende Aussagen von uns zu hören, besonders aber hoffte er, mich durch seine schmeichelhaften Versprechungen zu verblenden, und mich zu Geständnissen zu vermögen, die Mentor nicht hätte ablegen wollen. Mit einem Worte, er forschte nicht mit Aufrichtigkeit nach der Wahrheit; er wollte nur einen Vorwand finden, dem Könige sagen zu können, daß wir Phönizier seien, um uns zu seinen Sklaven zu machen. Es gelang ihm auch wirklich, trotz unserer Unschuld und der Weisheit des Königs, ihn zu täuschen.

Ach, wie traurig ist das Loos der Fürsten! Auch die weisesten werden nicht selten hintergangen. Schlaue und habsüchtige Menschen umgeben sie; die bessern ziehen sich zurück, weil sie weder die Kunst zu schmeicheln verstehen, noch zudringlich sind. Die Rechtschaffenen warten, bis man sie aufsucht, und die Fürsten wissen sie nur selten zu finden. Die Lasterhaften hingegen sind dreist, hinterlistig, eifrig bemüht, sich einzuschmeicheln, und sich angenehm zu machen; in der Kunst der Verstellung erfahren, immer bereit, alles gegen Recht und Gewissen zu unternehmen, wenn es darauf ankommt, die Leidenschaften dessen zu befriedigen, der die Oberherrschaft hat. Wie unglücklich ist ein Fürst, stets den Fallstricken solcher Bösewichter bloßgestellt zu sein! Er ist verloren, wenn er die Schmeichler nicht von sich stößt, und seine Zuneigung denen nicht schenkt, die das Herz haben, ihm die Wahrheit zu sagen. Dies waren die Betrachtungen, die ich in meinem Unglück anstellte, und ich rief alles in mein Gedächtniß zurück, was ich von Mentorn hatte sagen hören.

Ich wurde mit den Sclaven des Metophis in die Gebirge der Wüste Oasis gesendet, um mit ihnen seine großen Heerden zu hüten.«

 

Hier unterbrach Kalypso den Telemach, und sagte zu ihm: »Wohlan! was begannst du in diesem Zustande, du, der in Sizilien den Tod der Knechtschaft vorgezogen hatte?«

Er antwortete:

 

»Meine Leiden nahmen mit jedem Tage zu. Ich hatte nicht mehr den armseligen Trost, zwischen der Knechtschaft und dem Tode zu wählen. Die Sklaverei war nun einmal mein Loos, und ich sollte alles erfahren, was das widrige Geschick Bitteres hat. Jede Hoffnung war aus meinem Herzen entflohen; ich hatte nicht einmal die Kraft, ein Wort zu sprechen, um an meiner Befreiung zu arbeiten. Mentor sagte mir in der Folge, daß man ihn an Aethiopier verkauft habe, und daß er ihnen nach Aethiopien gefolgt sei.

Ich langte in fürchterlichen Einöden an. Brennender Sand bedeckte die Ebenen; ewiger Winter herrschte auf den Gipfeln der Berge, welche mit Schnee bedeckt waren, der nie schmolz. Gegen die Mitte dieser steilen Gebirge fanden sich nur zwischen den Felsen spärliche Weiden, die Heerden zu nähren. Die Thäler waren so tief, daß die Strahlen der Sonne kaum in sie eindringen konnten.

Ich fand keine andere Menschen in diesem Lande, als Hirten, die eben so wild waren, als das Land selbst. Die Nächte verflossen mir unter Thränen über mein Unglück, und die Tage brachte ich zu, meine Heerden zu weiden, um den wüthenden Zorn eines Obersclaven nicht auf mich zu laden, der, in Hoffnung seine Freiheit zu erhalten, die andern unaufhörlich anklagte, um sich bei seinem Herrn durch seinen Diensteifer und die Sorge für seinen Nutzen zu empfehlen. Dieser Sklave nannte sich Butis. Ich hätte unter diesen Umständen erliegen sollen; meine Leiden erreichten die höchste Stufe. Eines Tages verlor ich meine Heerde. Ich warf mich nahe bei einer Höhle auf den Boden, und erwartete den Tod, unfähig, meine Qualen länger zu ertragen.

Auf einmal bemerkte ich, daß der ganze Berg bebte; die Eichen und die Fichten schienen von seinem Gipfel herabzusteigen; die Lüfte verstummten; eine dumpfe Stimme kam aus der Höhle, und ließ mich diese Worte hören:

›Sohn des weisen Ulysses, durch Dulden mußt du dich zur Größe deines Vaters erheben. Fürsten, die stets glücklich waren, sind selten würdig, es zu sein. Die Weichlichkeit entnervt, die Hoffart berauscht sie. Wie glücklich wirst du einst sein, wenn du dein Ungemach überwindest, und desselben stets eingedenk bleibst! Du wirst Ithaka wiedersehen, und dein Ruhm wird die Gestirne erreichen. Wenn du einmal über andere Menschen herrschen wirst, so erinnere dich, daß du schwach, arm und unglücklich warst wie sie. Laß es deine Lust sein, dein Volk zu erleichtern, liebe es, verabscheue die Schmeichelei, und vergiß es nie, daß du nur dann groß sein wirst, wenn du deine Begierden mäßigest, und Muth genug hast, deine Leidenschaften zu besiegen.‹

Diese göttlichen Worte drangen bis ins Innerste meines Herzens; Freude und Muth erwachten wieder in demselben. Ich fühlte nicht jenen Schauer, der das Blut in den Adern starren macht, wenn die Unsterblichen sich den Menschen mittheilen. Ich stand ruhig auf, und verehrte kniend und mit emporgehobenen Händen Minerven, der ich diese göttliche Offenbarung zu danken haben glaubte. Ich fühlte, daß ich ein neuer Mensch geworden war. Die Weisheit erleuchtete meinen Geist; ich empfand eine wohlthätige Kraft in mir, meine Leidenschaften zu mäßigen, und dem Feuer meiner Jugend Einhalt zu thun; ich gewann die Liebe aller Schäfer der Wüste. Meine Sanftmuth, meine Geduld, die genaue Erfüllung meiner Pflichten besänftigten endlich den hartherzigen Butis, der über die andern Sklaven gesetzt war, und mich im Anfange seine Strenge hatte fühlen lassen.

Damit ich das Lästige der Gefangenschaft und die Einsamkeit besser ertragen möchte, suchte ich Bücher zu bekommen, denn meine Seele war in Traurigkeit versenkt, da es mir an allem Unterricht mangelte, der meinen Geist hätte nähren und aufrichten können.

›Glücklich,‹ sagte ich bei mir selbst, ›sind diejenigen, die rauschende Freuden verabscheuen, und sich mit den Reizen eines unschuldigen Lebens begnügen! Glücklich diejenigen, denen der Unterricht Erholung gewährt, und die Geschmack daran finden, ihren Geist durch Wissenschaft zu bilden! Wohin auch das widrige Geschick sie verschlagen mag, sie finden immer ihre Unterhaltung in sich, und der Ueberdruß, der andere Menschen selbst mitten in ihren Ergötzungen versehrt, ist denjenigen unbekannt, welche sich mit Lesen zu beschäftigen wissen. Glücklich sind die Menschen, welche gern lesen, und nicht, wie ich, dieses Vergnügens beraubt sind.‹

Während ich diesen Gedanken nachhing, vertiefte ich mich in einen finstern Wald, wo ich mit einem Male einen alten Mann vor mir sah, der ein Buch in der Hand hielt. Dieser Greis hatte eine große kahle Stirn, auf der das Alter einige Furchen gezogen hatte. Ein weißer Bart floß bis zu seinem Gürtel herab. Hoch und majestätisch war seine Gestalt, die Farbe seines Gesichts noch frisch und blühend, seine Augen lebhaft und durchdringend, seine Stimme sanft, seine Worte einfach und liebreich. Noch nie hatte ich einen so ehrwürdigen Alten gesehen. Er nannte sich Thermosiris, und war Priester des Apollo, dem er in einem marmornen Tempel diente, welchen die Könige von Aegypten dem Gott in diesem Walde geweiht hatten. Das Buch, welches er in der Hand hielt, war eine Sammlung von Hymnen zur Ehre der Götter.

Liebevoll redete er mich an. Wir sprachen mit einander. Redete er von vergangenen Dingen, so glaubte man sie zu sehen. Er erzählte mit Kürze, und nie haben mich seine Erzählungen ermüdet. Die Zukunft lag offen vor seinen Blicken, denn er besaß eine tiefe Weisheit. Er kannte die Menschen, und las in ihren Herzen. Aber bei aller seiner Klugheit war er heiter und gefällig, und die munterste Jugend hat nicht so viel Anmuth, als dieser Mann in einem so hohen Alter hatte; auch liebte er die jungen Leute, wenn sie gelehrig waren, und Geschmack an der Tugend fanden.

Bald faßte er eine zärtliche Zuneigung zu mir. Er gab mir Bücher, um mich zu trösten. Er nannte mich seinen Sohn. Oft sagte ich zu ihm: ›O, mein Vater, die Götter, die mir Mentor raubten, hatten Mitleiden mit mir, sie gaben mir in dir eine andere Stütze.‹ Dieser Mann, ein zweiter Orpheus oder Linus, war sonder Zweifel von den Göttern begeistert. Er sagte mir seine eigenen Lieder her, und theilte mir die Gesänge mehrerer trefflichen Dichter mit, denen die Musen hold waren.Wenn er mit seinem langen, glänzend weißen Gewande angethan, seine elfenbeinerne Leier rührte, kamen die Tiger, die Bären und die Löwen schmeichelnd herbei, seine Füße zu lecken. Die Satyren verließen die Wälder, und tanzten um ihn her; die Bäume selbst schienen zu empfinden, und man hätte glauben sollen, daß sogar die Felsen, vom Zauber seiner lieblichen Töne gerührt, von den Gipfeln der Berge herabsteigen wollten. Die Größe der Götter, die Tugend der Helden und die Weisheit der Menschen, welche den Ruhm den Vergnügungen vorzogen, waren allein der Gegenstand seiner Gesänge.

Er sagte mir oft, daß ich Muth fassen sollte, und daß die Götter weder den Ulysses, noch seinen Sohn verlassen würden. Er ermahnte mich, den Hirten nach dem Beispiel Apolls, zu lehren, die Künste der Musen zu üben.

›Apoll,‹ sagte er, ›erzürnt, daß Jupiter in den schönsten Tagen den heitern Himmel mit Gewitterwolken umzog, wollte sich dafür an den Cyklopen rächen, die ihm die Donnerkeule schmiedeten. Er erlegte sie mit seinen Pfeilen. Sogleich hörte der Berg Aetna auf, seine Flammenwirbel auszustoßen; man hörte nicht mehr die Schläge der ungeheueren Hämmer, welche, auf den Amboß fallend, die tiefen Höhlen der Erde und die Abgründe des Meeres erbeben machten. Das Eisen und das Erz, von den Cyklopen nicht mehr geglättet, fing an zu rosten. Vulkan fuhr wüthend aus seiner Werkstätte empor; obgleich hinkend, stieg er schnell den Olymp hinan. Mit Schweiß und Staub bedeckt, trat er in die Versammlung der Götter, und führte bittere Klagen. Jupiter, über den Apoll entrüstet, jagte ihn aus dem Himmel und stürzte ihn auf die Erde. Sein leerer Wagen machte von selbst seinen gewohnten Weg, und gab den Menschen die Tage und die Nächte, und die regelmäßigen Wechsel der Jahreszeiten.

Apoll, aller seiner Strahlen beraubt, war gezwungen, ein Hirte zu werden, und die Heerden des Königs Admet zu hüten. Er blies die Flöte, und alle andern Hirten versammelten sich um ihn im kühlen Schatten der Ulmen, am Rand einer Quelle, um seinen Liedern zu horchen. Bis jetzt hatten sie ein wildes und rauhes Leben geführt. Sie verstanden nichts, als ihre Schafe zu weiden; sie zu scheeren, sie zu melken und Käse zu bereiten; das ganze Gefilde glich einer grauenvollen Einöde.

Bald lehrte Apoll den Hirten die Künste, die das Leben angenehm machen. Er besang die Blumen, mit denen der Frühling sich bekränzt, Wohlgerüche, die er ausstreuet, das sanfte Grün, das unter seinen Tritten aufsproßt. Auch die erquickenden Nächte des Sommers besang er, wo die Weste die Menschen erfrischen, und der Thau die Erde tränkt. Sein Lied vergaß nicht, die goldenen Früchte zu preisen, womit der Herbst die Mühe des Landmanns belohnt, und die Ruhe des Winters, wo die schäkernde Jugend beim wärmenden Feuer tanzt. Endlich besang er auch die finstern Wälder, die die Gebirge bedecken und die tiefen Thäler, wo die Flüsse in tausend Krümmungen durch lachende Wiesen sich schlängeln. Von ihm unterwiesen, lernten die Hirten, wie beglückend das ländliche Leben für diejenigen ist, welche zu schätzen wissen, was die einfache Natur Bezauberndes hat.

Bald fühlten sie sich bei ihren Flöten glücklicher, als die Könige, und die reinen Vergnügungen, welche die vergoldeten Paläste fliehen, eilten schaarenweise ihren Hütten zu. Die Scherze, die Freuden, die Grazien folgten überall den Tritten der unschuldigen Schäferinnen. Alle Tage waren frohe Feste. Man hörte nur das Zwitschern der Vögel, den milden Hauch der Zephyre, die in den Aesten der Bäume spielten, das Gemurmel eines Baches, der von einem Felsen herabfiel, oder die Gesänge, welche die Musen den Hirten eingaben, die dem Apoll folgten. Auch lehrte sie dieser Gott im Wettlauf den Preis erringen, und die Gemsen und Hirsche mit ihren Pfeilen erlegen. Die Götter selbst wurden über die Hirten eifersüchtig; dieses Leben schien ihnen angenehmer, als alle ihre Herrlichkeit, und sie riefen den Apoll in den Olymp zurück.

Mein Sohn, diese Geschichte kann dir zur Lehre dienen, weil du dich in eben dem Zustande befindest, in welchem Apoll war. Mache diesen rauhen Boden urbar, die Einöde gewinne unter deinen Händen eine blühende Gestalt, wie unter den seinigen. Lehre den Hirten die Zauberkraft harmonischer Töne kennen, erweiche ihre unempfindlichen Herzen, zeige ihnen, wie reizend die Tugend ist; laß sie schmecken, wie süß die unschuldigen Freuden sind, die man in stiller Einsamkeit genießt, und die ihnen nicht entrissen werden können. Einst, mein Sohn, einst auf dem Throne, wenn du sie fühlst, die Mühseligkeiten und die verzehrenden Sorgen, welche die Könige umringen, wirst du das Schäferleben zurückwünschen.‹

Also sprach Thermosiris, und gab mir eine lieblich tönende Flöte. Echo wiederholte rings umher in den Gebirgen ihre Melodien und bald sah ich mich von allen benachbarten Hirten umgeben. Meine Stimme hatte eine himmlische Harmonie. Entzücken schwellte meinen Busen. Ich fühlte mich dahin gerissen und angetrieben, die Annehmlichkeiten zu besingen, womit die Natur das Feld geschmückt hat. Ganze Tage und ein Theil der Nächte verfloß uns unter vereintem Gesang. Alle Hirten, ihrer Hütten und Heerden vergessend, waren um mich versammelt, und horchten, von Entzücken gefesselt, meinen Lehren. Die Einöde schien ihre Wildheit verloren zu haben; alles hatte ein holdes und lachendes Ansehen; die mildern Sitten dieser Gebirgsbewohner schienen auch dem Boden eine gewisse Milde mitgetheilt zu haben.

Oft versammelten wir uns, um in dem Tempel, wo Thermosiris Priester war, unser Opfer darzubringen. Die Hirten trugen Lorbeerkränze zur Ehre des Gottes; die mit Blumen bekränzten Schäferinnen gingen tanzend dahin, und trugen auf ihren Köpfen die heiligen Geschenke in Körbchen. Ein ländliches Mahl folgte dem Opfer. Unsere liebsten Gerichte waren die Milch unserer Ziegen und Schafe, die wir selbst melkten, und die mit eigenen Händen frisch gepflückten Früchte, die Datteln, die Feigen und die Trauben. Rasen waren unsere Sitze, und unsere dickbelaubten Bäume gewährten uns einen angenehmern Schatten, als die vergoldeten Wände der Paläste der Könige geben können.

Aber was meinen Ruf unter diesen Hirten vollkommen machte, war, daß eines Tages ein hungriger Löwe in meine Heerde brach. Schon hatte er angefangen, grimmig um sich her zu würgen. Ich hatte nichts in der Hand, als meinen Hirtenstab. Kühn ging ich auf ihn los; der Löwe sträubte seine Mähne, zeigte mir seine Zähne und seine Klauen, sperrte seinen trockenen, entflammten Rachen gegen mich auf; seine Augen schienen in Blut und Feuer zu schwimmen; er schlug seine Seiten mit seinem langen Schweif. Ich warf ihn zu Boden. Das kleine Panzerhemd, womit ich nach der Sitte der ägyptischen Hirten bekleidet war, hinderte ihn, mich zu zerreißen. Dreimal warf ich ihn nieder; dreimal erhob er sich wieder; von seinem Gebrüll ertönten die Wälder; endlich erstickte ich ihn in meinen Armen, und die Hirten, Zeugen meines Sieges, wollten, daß ich mich in die Haut dieses fürchterlichen Thieres kleiden sollte.

Das Gerücht von dieser That und der schönen Verwandlung, die mit allen Hirten vorgegangen war, erscholl in ganz Aegypten, und gelangte selbst zu den Ohren des Sesostris. Man sagte ihm, daß einer der zwei Gefangenen, die man für Phönizier gehalten, das goldene Alter in diese fast unbewohnbaren Wildnisse zurückgebracht habe.

Er wollte mich sehen, denn er liebte die Musen, und nichts war seinem edlen Herzen gleichgültig, was den Unterricht der Menschen befördern konnte. Er sah mich, er hörte mich mit Vergnügen, und erfuhr, daß Metophis ihn aus Geiz hintergangen habe. Er verurtheilte ihn zu einer immerwährenden Gefangenschaft, und nahm ihm alle Reichthümer, die er auf eine ungerechte Weise besaß.

›Wie unglücklich ist man doch,‹ sagte er, ›wenn man über andere Menschen erhaben ist! Nur selten kann man die Wahrheit mit eigenen Augen sehen. Man ist von Menschen umgeben, die ihr nicht gestatten, zu dem zu gelangen, der die oberste Gewalt hat. Jeder findet seinen Vortheil dabei, ihn zu betrügen; jeder verbirgt unter dem Schein des Diensteifers seinen Ehrgeiz. Man gibt sich die Miene, den Fürsten zu lieben, und man liebt nur die Reichthümer, die er gibt. Man liebt ihn so wenig, daß man, um seine Gunst zu erlangen, ihn durch Schmeicheleien bethört, und zum Verräther an ihm wird.‹

Sesostris bezeigte sich jetzt als einen zärtlichen Freund gegen mich. Er beschloß, mich mit Schiffen und Kriegsvölkern nach Ithaka zu senden, damit ich meine Mutter aus der Gewalt ihrer Freier retten möchte. Schon lagen die Schiffe zum Auslaufen bereit; unsere Gedanken waren nur auf unsere Abreise gerichtet; ich bewunderte den schnellen Wechsel des Glücks, das oft plötzlich diejenigen erhebt, die es am tiefsten erniedrigt hatte. Diese Erfahrung erweckte die Hoffnung bei mir, daß wohl auch Ulysses einst nach langen Leiden in sein Reich zurückkehren könnte; auch hoffte ich, Mentor wieder zu sehen, wiewohl er in die entlegensten Gegenden Aethiopiens weggeführt worden war.

Indeß ich meine Abreise ein wenig verzögerte, um Nachrichten von ihm einzuholen, starb Sesostris, der sehr alt war, plötzlich, und sein Tod bereitete mir neuen Jammer.

Ganz Aegypten war untröstlich über diesen Verlust. Jede Familie glaubte ihren besten Freund, ihren Beschützer, ihren Vater verloren zu haben. Mit gen Himmel erhobenen Händen riefen die Greise aus:

›Niemals hatte Aegypten einen so guten König, nie wird es einen ähnlichen bekommen! Warum, o ihr Götter! zeigtet ihr ihn den Menschen, wenn ihr ihn denselben wieder entreißen wolltet? Ach, warum müssen wir den großen Sesostris überleben?‹

›Die Hoffnung Aegyptens ist dahin,‹ klagten die jungen Leute, ›wie glücklich waren unsere Väter, unter einem so guten Könige zu leben! Wir, wir haben ihn nur gesehen, um seinen Verlust zu fühlen!‹

Seine Diener weinten Tag und Nacht.

Als das Leichenbegängniß des Königs veranstaltet wurde, welches vierzig Tage dauerte, kamen die entferntesten Völker in großer Menge herbei. Jeder wollte den Leichnam des Sesostris noch einmal sehen, jeder wollte sich sein Bild eindrücken, viele wollten sogar mit ihm begraben werden.

Man fühlte den Verlust dieses Königs umso schmerzlicher, da sein Sohn Bocchoris weder Leutseligkeit gegen die Fremden, noch Wißbegierde noch Achtung für die Menschen, noch Ruhmbegierde besaß. Die hohe Würde seines Vaters hatte dazu beigetragen, ihn in der Regierung so unwürdig zu machen. Er war in Ueppigkeit und einem unbändigen Trotz aufgewachsen Er schätzte die Menschen gering, wähnte, sie seien nur für ihn geschaffen, und er selbst sei aus einem andern Stoff gebildet, als sie. Er sann nur darauf, seine Leidenschaften zu befriedigen, die unermeßlichen Schätze zu verschwenden, die sein Vater mit vieler Mühe gesammelt hatte, das Volk zu quälen, und die Armen vollends auszusaugen. Umgeben von einem Schwarm unsinniger Jünglinge, deren verderblichen Eingebungen er folgte, sah er die weisen Männer, die das Zutrauen seines Vaters gehabt hatten, mit Verachtung an, und entfernte sie von sich. So war Bocchoris, der eher den Namen eines Ungeheuers, als eines Königs verdiente. Ganz Aegypten seufzte; aber obgleich der Name des Sesostris, der den Aegyptern so theuer war, ihnen noch einige Schonung für seinen feigen und grausamen Sohn einflößte, so war es doch sichtbar, daß er seinem Verderben zueilte, und ein Fürst, der des Thrones so unwürdig war, konnte unmöglich lange regieren.

Meine Rückkehr nach Ithaka zu hoffen war mir nun nicht mehr vergönnt. Ich befand mich in einem Thurm am Ufer des Meeres nahe bei Pelusium, wo unsere Einschiffung hätte vor sich gehen sollen, wenn Sesostris nicht gestorben wäre. Metophis hatte Mittel gefunden, sich bei dem neuen König in Gunst zu setzen, und aus seiner Gefangenschaft los zu kommen. Er hatte mich in diesen Thurm einsperren lassen, um sich wegen der Ungnade zu rächen, die ich ihm zugezogen hatte. Hier brachte ich die Tage und die Nächte in tiefer Traurigkeit zu. Alles, was mir Thermosiris voraus gesagt und ich in der Höhle vernommen hatte, däuchte mir jetzt nur ein Traum. Meine Seele versank in bittere Schwermuth. Die Wogen des Meeres schlugen den Fuß des Thurms, in dem ich gefangen saß. Oft sah ich vom Sturm umhergetriebene Schiffe, die in Gefahr waren, an den Felsen zu scheitern, auf welchen der Thurm erbaut war. Statt diese vom Schiffbruch bedrohten Menschen zu beklagen, beneidete ich ihr Loos. Bald, sagte ich bei mir selbst, bald werden sich die Leiden ihres Lebens enden, oder sie werden in ihrer Heimat anlangen. Ach, weder das eine, noch das andere ist mir zu hoffen vergönnt.

Während ich mich auf diese Art in fruchtlosen Klagen verzehrte, erblickte ich auf einmal einen ganzen Wald von Masten; das Meer war mit Segeln bedeckt, die der Wind schwellte; die Wellen schäumten, geschlagen von unzählbaren Rudern. Von allen Seiten drang verworrenes Geschrei in meine Ohren. Das Ufer war mit Aegyptern bedeckt. Einige, in schreckenvoller Bestürzung, eilten zu den Waffen; andere schienen der Flotte, die man herannahen sah, entgegen zu gehen. Ich erkannte bald, daß diese fremden Schiffe theils aus Phönizien, theils aus der Insel Cypern waren; denn meine Unglücksfälle hatten mich über manches belehrt, was die Schifffahrt betrifft. Die Aegypter schienen mir unter sich getheilt zu sein. Ich zweifelte nicht, daß der unsinnige Bocchoris durch seine Gewaltthaten eine Empörung seiner Unterthanen veranlaßt, und das Feuer des Bürgerkriegs angefacht habe, und von der Höhe meines Thurms herab ward ich der Zuschauer eines blutigen Kampfes.

Die Aegypter, welche die Fremden zu ihrem Beistande herbeigerufen hatten, halfen ihnen ihre Landung bewerkstelligen, und griffen alsdann die andern Aegypter an, die den König zum Anführer hatten. Ich sah diesen König, wie er die Seinigen durch sein Beispiel zum Muth entflammte. Er glich dem Kriegsgott. Ströme von Blut flossen um ihn her; ein schwarzes, dickes, schäumendes Blut färbte die Räder seines Wagens, die kaum vermögend waren, sich über die Haufen todter und zertretener Körper einen Weg zu bahnen. Wuth und Verzweiflung flammten aus den Augen dieses jungen, wohlgebildeten, rüstigen Königs, von hoher und trotziger Miene. Er glich einem schönen Pferde, das dem Zaum nicht gehorcht. Sein Muth riß ihn zur Verwegenheit hin. Keine Klugheit mäßigte seine ungestüme Tapferkeit. Weder wußte er die begangenen Fehler wieder gut zu machen, noch angemessene Befehle zu ertheilen, noch den Unfällen zu begegnen, die ihn bedrohten, noch diejenigen schonend zu behandeln, die er am nöthigsten hatte. Zwar mangelte es ihm nicht an Fähigkeiten; seine Einsichten kamen seinem Muthe gleich; aber nie hatte ihn das Unglück belehrt; seine schönen Anlagen waren durch die Schmeicheleien seiner Lehrer zu Grunde gerichtet worden. Berauscht von seiner Macht und seinem Glück, wähnte er, alles müsse seinen stürmischen Begierden weichen. Der geringste Widerstand entflammte seinen Zorn; alsdann verlor er alle Besinnung; er war wie außer sich, und sein unbändiger Stolz verwandelte ihn in ein wildes Thier; die natürliche Güte seines Herzens und seine richtige Vernunft verließen ihn auf einmal; seine treuesten Diener sahen sich genöthigt, vor ihm zu fliehen, und er duldete nur diejenigen um sich, die seinen Leidenschaften das Wort redeten. Auf diese Weise wurde er stets mit Vernachlässigung seiner wahren Vortheile zu gewaltsamen Entschließungen hingerissen, und nöthigte alle Rechtschaffenen, seine sinnlose Aufführung zu verabscheuen.

Lange widerstand sein Muth dem Andrang der feindlichen Menge, aber endlich wurde er überwältigt. Ich sah ihn fallen; die Lanze eines Phöniziers durchbohrte seine Brust. Die Zügel entfielen seinen Händen; er fiel von seinem Wagen unter die Füße seiner Pferde. Ein Krieger aus der Insel Cypern hieb ihm den Kopf ab, faßte ihn bei den Haaren, und zeigte ihn triumphirend dem ganzen siegreichen Heere.

Nie werde ich es vergessen, dieses bluttriefende Haupt gesehen zu haben, diese geschlossenen und ihres Schimmers beraubten Augen, dieses bleiche und entstellte Gesicht, diesen halb geöffneten Mund, der angefangene Worte endigen zu wollen schien, diese stolze, drohende Miene, die der Tod selbst nicht hatte auslöschen können. Mein ganzes Leben über wird dieses Bild vor meinen Augen schweben, und vergönnen die Götter mir je, zu regieren, so soll dieses Beispiel nicht für mich verloren sein. Nie werde ich es vergessen, daß ein König nur dann verdient, über andere zu herrschen, und nur dann bei seiner Macht glücklich ist, wenn er in der Ausübung derselben den Vorschriften der Vernunft folgt. Ach, wie traurig ist das Loos eines Menschen, dem das allgemeine Wohl anvertraut ist, wenn er seine Erhabenheit über die andern nur dazu anwendet, sie unglücklich zu machen.«



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