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Sechzehntes Buch.

Telemach entzweit sich mit Phalanten wegen Gefangener, die sie sich streitig machen. Er bekämpft und besiegt den Hippias, der, seine Jugend verachtend, sich dieser Gefangenen auf eine trotzige Weise für seinen Bruder Phalant bemächtigt hatte. Aber er freut sich seines Sieges nicht, sondern seufzt insgeheim über seine Vermessenheit und seinen Fehltritt, den er gern wieder gut gemacht hätte. Adrast, der in Erfahrung bringt, daß die verbündeten Fürsten nur damit beschäftigt sind, den Handel des Telemach und Hippias zu schlichten, greift sie unvermuthet an. Nachdem er sich hundert ihrer Schiffe bemächtigt, um seine Krieger in das Lager der Verbündeten überzuschiffen, steckt er es in Brand. Er beginnt den Angriff bei der Lagerstelle Phalants, tödtet seinen Bruder Hippias, und Phalant selbst erliegt beinahe unter seinen Streichen.


S taunend und mit gefesselter Aufmerksamkeit horchte Telemach der Erzählung Philoktets. Seine Augen waren fest auf den großen Mann geheftet, so lange er sprach. Alle die verschiedenen Leidenschaften, welche den Herkules, Philoktet, Ulysses und Neoptolem in Bewegung gesetzt hatten, malten sich abwechselnd auf dem offenen Gesichte Telemach's ab, wie die Erzählung sie nach und nach seiner Seele darstellte. Bisweilen vergaß er sich, und unterbrach Philokteten durch seine Ausrufungen; bisweilen fiel er in ein tiefes Nachdenken, gleich einem Menschen, der den Folgen der Dinge nachspürt. Als Philoktet die Verlegenheit Neoptolems schilderte, der sich nicht zu verstellen wußte, schien Telemach in derselben Verlegenheit zu sein, und man würde ihn in diesem Augenblick für Neoptolem selbst gehalten haben.

Inzwischen rückte das Kriegsheer der Verbündeten, wohl geordnet, Adrasten, dem König der Daunier, entgegen. Dieser war ein Verächter der Götter, und sann nur darauf, wie er die Menschen überlisten könnte.

Telemach fühlte die Schwierigkeiten, sich unter so vielen Fürsten, die eifersüchtig auf einander waren, mit gehöriger Klugheit zu betragen Bei keinem sollte er Verdacht gegen sich erregen, die Liebe aller sollte er gewinnen. Sein Herz war gut und aufrichtig, aber er wußte nicht zu schmeicheln. Er bekümmerte sich wenig um das, was andern Vergnügen machen konnte. Er liebte den Reichthum nicht, aber er verstand auch die Kunst nicht, zu geben.

Mit einem Herzen voll Edelmuth und Rechtschaffenheit kam er also in den Verdacht, weder gefällig, noch empfindlich für die Freundschaft, noch freigebig, noch erkenntlich gegen die Bemühungen anderer um ihn, noch aufmerksam zu sein, dem Verdienste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ohne lange zu überlegen, folgte er dem Zuge seines Herzens.

Trotz der Gegenbemühungen Mentors hatte ihm seine Mutter einen Uebermuth und Stolz eingeflößt, der seine schönsten Eigenschaften verdunkelte. Er hielt sich für ein Wesen anderer Art, als die übrigen Menschen. Er wähnte, daß die Götter die andern nur dazu geschaffen hätten, ihm zu gefallen, zu dienen, allen seinen Wünschen zuvorzukommen, und alles auf ihn, als auf ein höheres Wesen, zu beziehen. Das Glück, ihm zu dienen, war, seiner Meinung nach, eine hinlängliche Belohnung für diejenigen, welche unter ihm standen. Er forderte das Unmögliche von andern, wenn es darauf ankam, seine Neigungen zu befriedigen, und die geringste Zögerung empörte sein heftiges Gemüth.

Wenn man ihn so den Antrieben seines Herzens folgen sah, mußte man denken, daß er unfähig sei, etwas anderes, als sich selbst zu lieben, und daß ihm nur sein Ruhm und sein Vergnügen am Herzen liege. Aber diese Gleichgültigkeit gegen andere und dieses selbstsüchtige Wesen waren bloß die Folgen eines leidenschaftlichen Zustandes, in welchem er sich immer befand. Seine Mutter hatte ihn von Jugend an verzärtelt, und er war ein auffallendes Beispiel von dem Unglück derer, welche in einem hohen Stande geboren werden. Die widrigen Schicksale, die er schon früh erfahren hatte, hatten seine Hitze und seinen Stolz nicht mäßigen können. Von allem entblößt, verlassen, so manchen Uebeln ausgesetzt, hatte er doch nichts von seinem Uebermuth verloren. Immer erhob er sich wieder aufs neue, wie die biegsame Palme, die aus eigener Kraft emporstrebt, so sehr man sich auch bemüht, sie niederzudrücken.

So lange Mentor über Telemach wachte, zeigten sich diese Fehler nicht, und nahmen mit jedem Tage ab. Einem raschen Pferde ähnlich, das übers die weiten Ebenen rennt, und unaufgehalten von steilen Felsen, Abgründen und reißenden Strömen nur der Stimme und der Hand eines Einzigen gehorcht, der es zu zügeln weiß, war nur Mentor allein fähig, dem feurigen Geiste Telemachs Einhalt zu thun.

Aber es bedurfte auch nur eines Blickes dieses Mannes, um ihn auf einmal in seinem größten Ungestüm aufzuhalten. Sogleich verstand er die Bedeutung dieses Blickes, alle seine tugendhaften Entschließungen kehrten wieder in seine Seele zurück. Die Weisheit erheiterte und verschönerte plötzlich sein Gesicht. Nicht schneller besänftigt Neptun die schwarzen Stürme, wenn er seinen Dreizack erhebt, und die aufgethürmten Wogen bedroht.

Sobald Telemach sich selbst überlassen war, brachen alle seine Leidenschaften, die in ihrer Wirksamkeit gehemmt worden waren, gleich einem Strom, den ein starker Damm zurück hielt, wieder aus. Der Trotz der Lacedämonier und ihres Anführers, Phalant, war ihm unerträglich. Diese Lacedämonier hatten Tarent gegründet, und bestanden aus den Jünglingen, die während der Belagerung von Troja geboren und ohne Erziehung aufgewachsen waren. Die Unechtheit ihrer Geburt, das sittenlose Leben ihrer Mütter, und die Ausgelassenheit, in der man sie erzog, gaben ihrem Charakter etwas Rohes und Wildes. Sie glichen eher einer Bande Straßenräuber, als griechischen Abkömmlingen.

Phalant ergriff jede Gelegenheit, dem Telemach zu widersprechen. Oft unterbrach er ihn in den Rathsversammlungen, und verachtete seinen Rath, als den eines Jünglings ohne Erfahrung. Er spottete seiner, und behandelte ihn als einen schwachen und verzärtelten Menschen. Er machte die Anführer auf seine kleinsten Fehler aufmerksam. Er suchte überall Eifersucht gegen ihn zu erregen, und den Stolz Telemachs allen Verbündeten in einem gehässigen Lichte darzustellen.

Als Telemach eines Tages einige Daunier zu Gefangenen gemacht hatte, behauptete Phalant, daß diese Gefangenen ihm angehörten, weil er es gewesen, der an der Spitze der Lacedämonier diesen feindlichen Haufen niedergeworfen, und Telemach, der die Feinde bereits überwunden und auf der Flucht gefunden, kein anderes Verdienst gehabt habe, als ihnen das Leben zu schenken, und sie in das Lager zu führen. Telemach aber gab vor, daß Phalant ohne ihn würde überwunden worden sein, und daß er die Daunier besiegt habe. Sie brachten beide ihre Sachen vor die verbündeten Fürsten. Telemach ging so weit, daß er Drohworte gegen Phalanten ausstieß, und sie würden sich auf der Stelle geschlagen haben, wenn man sie nicht zurückgehalten hätte.

Phalant hatte einen Bruder, Hippias genannt, berühmt im ganzen Heere durch seine Tapferkeit, Stärke und Gewandtheit. Pollux, sagten die Tarentiner, wußte den Cästus nicht besser zu führen, Castor nicht geschickter die Rosse zu lenken. An Stärke und Wuchs glich er beinahe dem Herkules. Das ganze Heer fürchtete ihn, weil seine Zanksucht und Wildheit seine Stärke und Tapferkeit noch übertrafen.

Als Hippias sah, welche stolze Drohungen Telemach gegen seinen Bruder ausgestoßen, ging er eilends hin, die Gefangenen nach Tarent zu führen, ohne erst den Ausspruch der Versammlung abzuwarten! Telemach, der heimliche Botschaft davon bekam, verließ wüthend die Versammlung. Gleich einem schäumenden Eber, der den Jäger sucht, der ihn verwundet hat, irrte er in dem Felde umher. Seine Augen suchten den Feind. Er schwingt die Lanze, mit der er ihn durchbohren will. Endlich erblickt er ihn, und seine Wuth verdoppelt sich. Er war nicht mehr jener weise Telemach, von Minerven in Mentors Gestalt geleitet. Er war ein Rasender, ein ergrimmter Löwe.

Er ruft dem Hippias zu:

»Halt! Verworfenster aller Menschen! Halt! Laß sehen, ob du mit dem Raub derer davon gehen wirst, die ich besiegt habe. Vergebens hoffst du, ihn nach Tarent zu bringen. Hinab mit dir zur Stunde zu den finstern Ufern des Styx.«

Er sprachs und warf seine Lanze, aber er schleuderte sie mit solchem Ungestüm, daß er den Wurf nicht gehörig abmessen konnte. Die Lanze verfehlte den Hippias. Sogleich zückte Telemach sein Schwert. Golden war das Heft. Laertes hatte es ihm verehrt, als ein Pfand seiner zärtlichen Liebe, als jener von Ithaka abreiste. Mit Ruhm hatte sich Laertes desselben in seiner Jugend bedient, und es war mit dem Blute vieler Anführer der Epiroten gefärbt, welche Laertes in einem Kriege besiegt hatte.

Kaum hatte Telemach sein Schwert gezogen, als Hippias, der sich seiner überlegenen Stärke gegen ihn bedienen wollte, auf ihn stürzte, um es seiner Hand zu entreißen. Das Schwert zerbrach in ihren Händen. Und nun fassen sie sich; sie klammern sich fest an einander. Sie gleichen zwei ergrimmten Thieren, die sich zu zerreißen suchen. Ihre Augen glühen. Sie ziehen sich zusammen; sie dehnen sich aus; sie bücken sich; sie erheben sich; sie stürzen auf einander los; sie lechzen nach Blut. Die Hitze des Kampfes vermehrt sich. Fuß stemmt sich gegen Fuß, Hand gegen Hand. Ihre beiden verschlungenen Körper schienen nur ein Leib zu sein.

Aber Hippias war älter als Telemach, und es schien, als ob er diesen, der ihm wegen seiner Jugend an Stärke nachstand, überwältigen würde. Telemach, des Athems beraubt, fühlte seine Knie wanken. Hippias bemerkte es, und verdoppelte seine Anstrengung. Jetzt wäre der Sohn des Ulysses unterlegen, und hätte die Strafe seiner Vermessenheit und seines Ungestüms bezahlt, wenn nicht Minerva, die von ferne über ihn wachte, und ihn nur in die äußerste Gefahr gerathen ließ, um ihn klüger zu machen, den Sieg auf seine Seite gelenkt hätte.

Die Göttin verließ den Palast von Salent nicht, aber sie sandte Iris, die behende Botschafterin der Götter. Diese enteilte leichten Flugs, sie theilte die unermeßlichen Räume der Luft. Ein langer Lichtstreif zog sich hinter der Fliegenden her und bemalte eine Wolke mit tausend bunten Farben. Nicht eher stand sie still, als bis sie die Ufer des Meeres erreicht hatte, wo das zahllose Heer der Verbündeten gelagert war. Schon von weitem sah sie den Kampf, die Wuth und die Anstrengung der beiden Streitenden. Sie bebte bei dem Anblick der Gefahr, in welcher der junge Telemach schwebte. Sie naht sich, in ein leichtes Gewölk gehüllt, das aus seinen Dünsten gebildet, sie umwallte. In dem Augenblick, da Hippias, seine ganze Stärke fühlend, den Sieg in Händen zu haben glaubte, deckte sie den jungen Zögling Minervens mit der Aegyde, welche ihr die weise Göttin gegeben hatte.

Sogleich fühlte Telemach, dessen Kraft ganz erschöpft war, neues Leben. Je mehr er sich erholte, desto mehr gerieth Hippias in Unruhe. Er fühlte, daß etwas Höheres auf ihn wirkte, das ihn verwirrte und seine Kraft lähmte. Telemach dringt stärker auf ihn ein; er sucht, ihn bald in dieser, bald in einer andern Stellung beizukommen; er sieht ihn wanken; er läßt ihm keinen Augenblick Zeit, sich zu erholen; endlich wirft er ihn zu Boden und fällt auf ihn. Eine große Eiche des Berges Ida, die von tausend Streichen der Axt gefällt hinstürzt, und den ganzen Wald erschüttert, macht kein schrecklicheres Getöse, als Hippias im Fallen machte: die Erde bebte, und rings umher zitterte Alles.

Indessen hatte Telemach mit seiner Stärke-auch seine Besinnung wieder bekommen. Kaum war Hippias unter ihn gefallen, als er den Fehler einsah, den er begangen hatte; den Bruder eines der verbündeten Könige, zu dessen Hülfe er herbeigekommen war, auf diese Art anzufallen. Mit Beschämung dachte er an Mentors weise Lehren. Er erröthete über seinen Sieg, und fühlte, daß er verdient hätte, überwunden zu werden.

Mittlerweile war Phalant wüthend herbeigerannt, seinem Bruder beizustehen, und er würde auch den Telemach mit einem Wurfspieß, den er in der Hand hielt, durchbohrt haben, wenn er nicht befürchtet hätte, auch den Hippias zu durchbohren, der unter Telemach im Staube lag. Leicht hätte der Sohn des Ulysses seinem Feinde das Leben nehmen können; aber er fühlte keinen Zorn mehr, und war nur darauf bedacht, seinen Fehler durch Mäßigung wieder gut zu machen. Er stand auf und sagte:

»Hippias, es genüge mir, dich belehrt zu haben, nicht verächtlich von meiner Jugend zu denken. Lebe! Ich bewundere deine Stärke und deinen Muth. Die Götter schützten mich; weiche ihrer Macht, und laß uns jetzt nur darauf sinnen, die Daunier mit vereinigten Kräften zu bekämpfen.«

Indem Telemach dies sagte, stand Hippias auf, mit Staub und Blut bedeckt, im Herzen Scham und Wuth. Phalant scheute sich, demjenigen das Leben zu rauben, der es seinem Bruder so edelmüthig geschenkt hatte. Er konnte sich zu nichts entschließen, er wußte nicht, wie ihm war.

Inzwischen waren die verbündeten Könige herbei gekommen. Einige führten Telemach, andere den Phalant und Hippias hinweg, der seinen Trotz verloren hatten und mit gesenkten Blicken einherging. Das ganze Heer war erstaunt, daß Telemach in einem Alter, wo der Mensch seine ganze Stärke noch nicht erlangt hat, den Hippias habe überwältigen können, der an Größe und Stärke den Riesen, jenen Kindern der Erde glich, die es einst versuchten, die Unsterblichen aus dem Olymp zu verjagen.

Aber der Sohn des Ulysses war weit entfernt, sich seines Sieges zu freuen. Indeß ihm allgemeine Bewunderung zu Theil ward, verbarg er sich in seinem Zelt, schämte sich seines Fehlers, zürnte über sich selbst, und bereute seine Uebereilung. Er erkannte, daß ihn seine Leidenschaften zu unbesonnenen und ungerechten Handlungen hinrissen. Er sah das Eitle, Schwache und Erniedrigende seines ungemessenen Stolzes. Er erkannte, daß wahre Größe nur in der Mäßigung, der Gerechtigkeit, der Bescheidenheit und der Menschlichkeit bestehe; er sah es deutlich ein, aber nach so vielen Rückfällen durfte er nicht mehr hoffen, je ein anderer Mensch zu werden! Er lag mit sich selbst im Streit, und man hörte ihn brüllen, gleich einem ergrimmten Löwen.

Zwei Tage lang verharrte er einsam in seinem Gezelt. Er konnte, sich nicht entschließen, unter Menschen zu gehen. Er strafte sich selbst.

»Ach!« sagte er bei sich selbst, »wie kann ich es wagen, Mentorn je wieder anzublicken? Bin ich wohl der Sohn des Ulysses, des weisesten aller Menschen, dieses großen Dulders? Kam ich nur, Uneinigkeit und Zwiespalt in dem Heere der Verbündeten auszurichten? Bin ich hieher gekommen, ihr Blut, oder das Blut der Daunier, ihrer Feinde zu vergießen? Welche Vermessenheit! Ich ließ mich mit dem Hippias in einen ungleichen Kampf ein. Ich wußte nicht einmal, meine Lanze zu werfen. Ich hatte nichts zu gewärtigen, als den Tod nebst der Schmach, der Besiegte zu sein. Doch, was wäre daran gelegen gewesen? Ich würde nicht mehr sein, der vermessene Telemach, dieser unsinnige Jüngling, den keine Belehrung klug machen kann, würde nicht mehr sein! Meine Schande hätte mit meinem Leben geendigt. Ach! dürfte ich hoffen, nie wieder zu begehen, was mich jetzt mit so vielem Kummer erfüllt, wie glücklich wäre ich! Aber wer bürgt mir dafür, das ich nicht heute noch in dieselben Fehler falle, an die ich mich jetzt nur mit Scham und Abscheu erinnern kann, oder mich doch geneigt dazu fühle? Unseliger Sieg! Verwünschter Ruhm! Wie bitter rückt ihr mir meine Thorheit vor!«

Indem er sich so in trostloser Einsamkeit verzehrte, kamen Nestor und Philoktet zu ihm. Nestor wollte ihm vorstellen, wie sehr er gefehlt habe; aber als der weise Greis sah, wie bekümmert das Herz des Jünglings war, unterdrückte er seine ernsten Ermahnungen, und sagte ihm nur Worte der Liebe, um seinen Schmerz zu lindern.

Durch diesen Zwist waren die verbündeten Fürsten in ihren Unternehmungen aufgehalten worden, und sie konnten nicht eher gegen den Feind ziehen, bis sie den Telemach mit Phalanten und Hippias ausgesöhnt hatten. Man mußte jeden Augenblick befürchten, daß die Tarentiner die hundert jungen Kreter, die dem Telemach in diesen Krieg gefolgt waren, anfallen würden. Telemachs Fehltritt hatte allgemeine Verwirrung angerichtet, und Telemach, der das gegenwärtige Uebel sah, dessen Urheber er war, und die Gefahren der Zukunft ahndete, überließ sich den bittersten Schmerzen.

Die Fürsten waren in großer Verlegenheit. Sie wagten es nicht, das Kriegsheer aufbrechen zu lassen, aus Furcht, die Kreter und die Tarentiner möchten während des Zuges an einander gerathen, und es kostete Mühe, sie innerhalb des Lagers in Schranken zu halten, wo man sie doch genau beobachten konnte. Nestor und Philoktet gingen unablässig zwischen den Gezelten des Telemach und des unversöhnlichen Phalant, der nichts als Rache schnaubte, ab und zu. Weder Nestors sanfte Beredsamkeit, noch das Ansehen des großen Philoktet vermochten dieses empörte Gemüth zu besänftigen, welches durch die wüthenden Reden des Hippias nur noch mehr entflammt wurde. Telemach war weit sanfter; aber er fühlte sich von einem Gram niedergedrückt, den nichts mildern konnte.

Das ganze Heer gerieth in Bestürzung, als es seine Fürsten in dieser Unruhe sah. Das Lager glich einem Hause, das über den Verlust eines Vaters trauert, der die Stütze seiner Verwandten und die Hoffnung seiner unmündigen Kinder war.

Noch war das Kriegsheer in diesem Zustande der Verwirrung und Niedergeschlagenheit, als man auf einmal ein entsetzliches Getöse von Wagen, klirrenden Waffen, wiehernden Rossen, wildes Geschrei wuthschnaubender Sieger, und Stimmen der Fliehenden, Sterbenden und Verwundeten vernahm. Eine dicke Staubwolke wallte empor, bedeckte den Himmel und hüllte das ganze Lager ein. Bald gesellte sich zu dieser Wolke ein dicker Rauch, verfinsterte die Luft, und hielt den Athem zurück. Man hörte ein dumpfes Brausen, wie es aus dem Aetna schallt, wenn Vulkan mit seinen Cyklopen dem Vater der Götter die Donnerkeile schmiedet, und dieser Berg aus seinen entflammten Eingeweiden Feuerströme ausgießt. Entsetzen faßte alle Herzen.

Adrast, stets wachsam und unermüdet, hatte die Verbündeten überfallen. Er hatte ihnen den Anzug seines Heeres verborgen, und war von dem Zuge des ihrigen unterrichtet. Er hatte sich äußerst angestrengt, einen fast unzugänglichen Berg zu umgehen, wovon die Verbündeten beinahe alle Zugänge besetzt hatten. Da sie im Besitz dieser Engpässe waren, so hielten sie sich vollkommen sicher, und schmeichelten sich sogar, den Feind, der hinter dem Berge stand, vermittelst dieser engen Wege, die sie inne hatten, überfallen zu können, wenn erst einige Kriegsvölker, die sie erwarteten, zu ihnen gestoßen sein würden.

Adrast, der das Gold mit vollen Händen austheilte, wenn es darauf ankam, die geheimen Anschläge seiner Feinde zu erfahren, hatte von ihrer Entschließung Nachricht erhalten; denn Nestor und Philoktet, diese zwei sonst so weisen und erfahrenen Feldherren wußten ihre Entwürfe nicht geheim genug zu halten. Nestor ließ sich bei der Neige seiner Tage allzu sehr von dem Vergnügen hinreißen, seine rühmlichen Thaten zu erzählen. Philoktet, von Natur weniger gesprächig, war heftig, und wenn man seine Lebhaftigkeit nur ein wenig reizte, konnte man alle seine Heimlichkeiten erfahren. Listige Menschen hatten den Schlüssel zu seinem Herzen gefunden, und wußten ihm seine wichtigsten Geheimnisse zu entlocken. Es bedurfte nichts, als ihn anzubringen, und dann wußte er nicht mehr an sich zu halten. Er brach in Drohungen aus, und rühmte sich, alle Mittel in seiner Gewalt zu haben, zu seinen Zwecken zu gelangen. Schien man an der Wirksamkeit dieser Mittel zu zweifeln, so eilte er, sich in eine unbedachtsame Erörterung derselben einzulassen, und die tiefsten Geheimnisse entwischten seinem Herzen. Einem kostbaren, aber zerbrochenen Gefäße ähnlich, dem seine köstliche Flüssigkeit entrinnt, wußte das Herz dieses großen Feldherrn kein Geheimniß zu bewahren.

Die Verräther, welche Adrast durch sein Gold gewonnen hatte, nützten die Schwachheit dieser zwei Fürsten. Sie schmeichelten Nestorn durch ein eitles Lob; sie erinnerten ihn an seine erfochtenen Siege, bewunderten seine Klugheit und wurden nicht müde, ihm Weihrauch zu streuen. Den aufbrausenden Philoktet suchten sie auf eine andere Weise in ihre Schlingen zu locken. Sie sprachen von nichts als Schwierigkeiten, Fehlschlagungen, Gefahren, widrigen Ereignissen und von Fehlern, die nicht wieder gut zu machen seien. Sobald sein heftiges Gemüth einmal entflammt war, verließ ihn seine Klugheit, und er war nicht mehr derselbe Mensch.

Bei allen Mängeln, die wir an Telemach bemerkt haben, besaß er doch weit mehr Klugheit in Bewahrung seiner Geheimnisse. Sein widriges Geschick und die Nothwendigkeit, sich von Jugend auf vor den Freiern seiner Mutter zu verbergen, hatten ihn diese Kunst gelehrt. Auch wußte er ein Geheimniß zu verschweigen, ohne eine Unwahrheit zu sagen, und sogar, ohne die Miene der Zurückhaltung und Verheimlichung zu haben, welche verschwiegenen Leuten eigen ist. Es hatte nicht einmal das Ansehen, als ob ihn seine Verschwiegenheit Mühe kostete. Man fand ihn immer unbefangen, natürlich und offen, gleich einem Menschen, der das Herz auf den Lippen trägt. Aber wenn er sich so weit heraus gelassen hatte, als es ohne Gefahr geschehen konnte, wußte er zu rechter Zeit, und ohne daß es ihm Zwang gekostet hätte, inne zu halten, um nichts zu sagen, das Argwohn hätte erregen, oder sein Geheimniß verrathen können.

Auf diese Weise war sein Herz unzugänglich und undurchdringlich. Selbst seine besten Freunde erfuhren nichts von ihm, als was er, um ihren Rath einzuholen, ihnen zu offenbaren für nöthig hielt. Mentor war der einzige, vor dem er kein Geheimniß hatte. Er schenkte wohl auch andern Freunden sein Vertrauen, aber nicht auf gleiche Weise, sondern in dem Verhältniß, als er ihre Klugheit und Freundschaft erprobt hatte.

Telemach hatte schon öfters bemerkt, daß sich die Beschlüsse der Rathsversammlung allzu sehr im Lager verbreiteten. Er hatte Nestorn und Philokteten davon benachrichtigt, aber diese so erfahrenen Männer hatten seinen heilsamen Rath nicht genug beherzigt. Das Alter hat keine Biegsamkeit mehr; die lange Gewohnheit legt ihm Fesseln an; es kann, sich beinahe nimmer von seinen Fehlern losmachen. Aehnlich den Bäumen, deren rauher knotiger Stamm sich durch die Zeit verhärtet hat, und nicht mehr gebeugt werden kann, vermögen die Menschen in einem gewissen Alter fast nichts mehr über ihre Gewohnheiten, welche mit ihnen alt geworden sind, und sich ihrem ganzen Wesen einverleibt haben. Nicht selten werden sie sich derselben bewußt, aber allzuspät, und vergebens seufzen sie über sie. Die zarte Jugend ist allein das Alter, wo der Mensch noch Gewalt über sich hat, wo er noch der Besserung fähig ist.

Es befand sich bei dem Heere ein Doloper, Namens Eurimachus, ein Mensch, der zu schmeicheln, und sich nach dem Geschmacke und den Neigungen aller Fürsten zu bequemen wußte, sinnreich und unverdrossen, neue Mittel ausfindig zu machen, ihnen zu gefallen. Wenn man ihn hörte, so war nichts unausführbar. Begehrte man seinen Rath, so entging ihm nicht, was der andere am liebsten hören würde. Er scherzte, er spottete der Schwachen, war unterwürfig gegen diejenigen, welche er fürchtete, und besaß die Geschicklichkeit, seinen Schmeicheleien eine so feine Wendung zu geben, daß sie auch der Bescheidenste mit Wohlgefallen hörte. Bei ernsthaften Menschen war er gesetzt, bei lustigen heiter. Es wurde ihm nicht schwer, jede Gestalt anzunehmen. Gerade und rechtschaffene Menschen, den Vorschriften der Tugend getreu, zeigen immer dieselbe Gestalt, aber eben deßwegen sind sie den Fürsten, die sich von ihren Leidenschaften beherrschen lassen, minder angenehm als jene.

Eurimachus verstand den Krieg, und war in den Geschäften bewandert. Er war ein Abenteurer. Er hatte sich dem Dienste Nestors gewidmet, und wußte dem Herzen dieses etwas eitlen und die Schmeichelei liebenden Mannes alles zu entlocken, was er zu wissen wünschte.

Obgleich Philoktet sich ihm nicht anvertraute, so bewirkte doch seine Hitze und Ungeduld, was bei Nestorn das Zutrauen. Eurimachus durfte ihm nur widersprechen, und ihn aufbringen, so erfuhr er alles von ihm. Dieser Mensch hatte große Summen von Adrast empfangen, damit er ihm die Anschläge der Verbündeten verrathen möchte. Der König der Daunier hatte bei dem Kriegsheere der letztern eine Anzahl Ueberläufer, von denen immer einer nach dem andern aus dem Lager der Verbündeten entwischen, und zu dem seinigen zurückkehren mußte. So oft Adrasten eine Sache von Wichtigkeit kund gethan werden sollte, ließ Eurimachus einen von diesen Ueberläufern abgehen. Der Betrug konnte nicht leicht entdeckt werden, weil die Ueberläufer keine Briefe bei sich trugen. Wenn man sie ertappte, so fand man nichts bei ihnen, was den Eurimachus hätte verdächtig machen können.

Auf diese Art kam Adrast allen Unternehmungen der Verbündeten zuvor. Kaum war eine Entschließung in der Rathsversammlung gefaßt worden, so machten die Daunier ihre Vorkehrungen, um den glücklichen Erfolg zu vereiteln. Telemach unterließ nichts, der Sache auf den Grund zu kommen, und Nestors und Philoktets Mißtrauen zu erregen, aber seine Bemühungen waren umsonst, sie waren verblendet.

Man hatte in der Rathsversammlung beschlossen, die zahlreichen Kriegsvölker zu erwarten, welche ankommen sollten, und hatte in der Nacht insgeheim hundert Schiffe auslaufen lassen, um diese Völker; desto schneller von einer sehr rauhen Küste des Meeres, wo sie landen sollten, an den Ort zu bringen, wo das Heer gelagert war. Man glaubte in der Zwischenzeit vor dem Feinde in Sicherheit zu sein, weil man die Engpässe des benachbarten Berges, welcher eine fast unzugängliche Seite des Apennins war, mit Völkern besetzt hielt.

Das Heer war an den Ufern des Galesus gelagert, nicht fern von dem Meer. Diese herrliche Strecke Landes hatte einen Ueberfluß an Weiden und an allen Früchten, welche zum Unterhalt eines Kriegsheeres erforderlich sind. Adrast stand hinter dem Berge, und man glaubte nicht, daß er über denselben kommen könnte. Aber da er wußte, daß die Verbündeten noch schwach waren, daß ihnen eine große Verstärkung zueilte, daß die Schiffe die Krieger erwarteten, die eintreffen sollten, und daß das Heer durch den Zwist Telemachs mit Phalanten getrennt war, so machte er mit seinem Heere einen großen Umweg, und eilte Tag und Nacht in beschleunigten Zügen längs der Meeresküste hin auf Wegen, die man bis jetzt für völlig ungangbar gehalten hatte. So besiegt Kühnheit und unermüdete Anstrengung die größten Hindernisse, und beinahe alles ist demjenigen möglich, der den Muth hat, etwas zu wagen, und den Mühseligkeiten Trotz zu bieten; wer aber in träger Ruhe verharrt, und das Schwierige für unmöglich hält, verdient von dem Unglück übereilt und unterdrückt zu werden.

Adrast überfiel mit Tages Anbruch die hundert Schiffe der Verbündeten. Da diese Schiffe nur schlecht bewacht waren, und man keine Gefahr besorgte, bemächtigte er sich derselben ohne Widerstand, und bediente sich ihrer, seine Völker mit unglaublicher Geschwindigkeit bis zur Mündung des Galesus hin zu schiffen. Schnell steuerte er sodann den Fluß aufwärts. Die äußersten Wachen des Lagers gegen den Fluß glaubten, daß diese Schiffe ihnen die Völker zuführten, die man erwartete. Man empfängt sie anfangs mit großem Freudengeschrei. Adrast und seine Krieger steigen ans Land, ehe man sie erkennen kann. Sie fallen über die Verbündeten her, die nichts Böses ahnen. Sie finden sie in einem ganz offenen Lager, ohne Ordnung, ohne Haupt, ohne Waffen.

Der erste Angriff geschah auf derjenigen Seite des Lagers, wo die Tarentiner unter Phalant standen. Die Daunier drangen mit solchem Ungestüm ein, daß die jungen Lacedämonier, die sich des Ueberfalls nicht gewärtigten, ihnen nicht widerstehen konnten. Während jene nach ihren Waffen liefen, und sich in der allgemeinen Verwirrung selbst hinderten, ließ Adrast das Lager anzünden. Die Flamme ergriff die Gezelte, und stieg bis an die Wolken. Das Feuer brausete wie ein gewaltiger Strom, der sich über ein großes Feld ergießt, und in seinem unaufhaltsamen Lauf hohe Eichen sammt ihren tiefen Wurzeln, Ernten, Scheuern, Ställe und Heerden mit sich fortreißt. Der Wind wirbelte die Flamme mit Ungestüm von Zelt zu Zelt, und nicht lange, so glich das ganze Lager einem alten Walde, den ein Feuerfunke in Brand gesetzt hat.

Phalant, der der Gefahr am nächsten war, wußte ihr nicht Einhalt zu thun. Er sah, daß alle seine Krieger in dem Brande umkommen würden, wenn er nicht eilends das Lager verließe, aber er erkannte auch, wie gefährlich ein solcher unordentlicher Rückzug im Angesichte eines siegreichen Feindes sein müßte. Indeß ließ er seine jungen, nur halb bewaffneten Lacedämonier aus dem Lager rücken.

Aber Adrast läßt ihn nicht zu Athem kommen. Von der einen Seite schießt ein Haufe geschickter Bogenschützen eine zahllose Menge Pfeile auf sie ab, von der andern werfen die Schleuderer einen Hagel von großen Steinen auf sie. Adrast selbst, das Schwert in der Hand, und vor einem auserlesenen Haufen der unerschrockensten Daunier einherschreitend, verfolgt beim Leuchten des Feuers die fliehenden Feinde. Alles, was dem Feuer entgeht, fällt unter der Schärfe seines Schwerts. Das Blut strömt um ihn; er wird des Würgens nicht satt. Er wüthet noch mehr als Löwen und Tiger, wenn sie Heerden und Schäfer erwürgen.

Den Kriegern des Phalant entfällt der Muth; sie unterliegen. Der bleiche Tod, von einer höllischen Furie angeführt, deren Haupt Schlangen umstarren, verwandelt das Blut ihrer Adern in Eis. Ihre erstarrten Glieder erkalten, und ihre brechenden Kniee rauben ihnen sogar die Hoffnung, sich durch die Flucht zu retten.

Phalant, dem Scham und Verzweiflung noch einige Kraft verlieh, hob seine Hände und Augen gegen Himmel. Er sah seinen Bruder Hippias unter den Streichen der gewaltigen Hand Adrasts zu seinen Füßen niederstürzen. Hippias, zur Erde gestreckt, wälzt sich im Staub. Schwarzes, wallendes Blut entströmt wie ein Bach der tiefen Wunde, die seine Seite durchdringt. Seine Augen erblicken das Licht nicht mehr. Sein wüthender Geist entflieht mit seinem Blute. Phalant selbst, triefend vom Blute seines Bruders und unvermögend, ihm beizustehen, sieht sich von einer Menge Feinde umringt, bemüht, ihn niederzustürzen. Sein Schild ist von tausend Pfeilen durchbohrt, sein Körper mit Wunden bedeckt. Er kann seine zerstreuten Krieger nicht mehr sammeln. Die Götter sehen ihn, und haben kein Mitleiden mit ihm.



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