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Viertes Buch.

Kalypso unterbricht Telemach, um ihn ausruhen zu lassen. Mentor tadelt ihn insgeheim, daß er die Erzählung seiner Begebenheiten unternommen, räth ihm aber, sie zu vollenden, da er sie einmal angefangen habe. Telemach erzählt, daß er während seiner Fahrt von Tyrus nach der Insel Cypern einen Traum gehabt, wo ihm Venus und Kupido erschienen, gegen welche ihn Minerva in Schutz genommen; daß er sodann auch Mentor zu sehen geglaubt habe, welcher ihn ermahnt, aus der Insel Cypern zu fliehen; daß nach seinem Erwachen ein Sturm entstanden, und das Schiff untergegangen wäre, wenn er nicht selbst das Steuer ergriffen hätte, weil die Cyprier, vom Weine berauscht, außer Stand gewesen, es zu retten; daß er bei seiner Ankunft auf der Insel mit Grausen die verführerischen Beispiele gesehen, aber daß der Syrer Hazael, dessen Sclave Mentor geworden, und der sich gerade damals auch auf der Insel befunden, die beiden Griechen wieder vereinigt, und sie in sein Schiff aufgenommen habe, um sie nach Kreta zu führen, und daß sie auf der Fahrt das schöne Schauspiel der Amphitrite gesehen, welche in ihrem Wagen, von Meerpferden gezogen, über die Gewässer hingefahren sei.


B is hieher hatte Kalypso mit stillem Entzücken die Begebenheiten Telemachs angehört; jetzt unterbrach sie ihn, um ihn ein wenig ausruhen zu lassen.

»Es ist nun Zeit,« sagte sie zu ihm, »daß du nach so vieler Anstrengung des süßen Schlafes genießest. Du hast hier nichts zu fürchten; alles ist dir günstig. Oeffne dein Herz der Freude, schmecke die Ruhe und die Annehmlichkeiten, womit die freundlichen Götter dich beglücken werden. Morgen, wenn Aurora die goldenen Thore des Ostes mit ihren Rosenfingern aufschließen wird, und die Sonnenpferde, der bittern Welle entsteigend, die Flammen des Tages verbreiten und die Sterne des Himmels vor sich her treiben werden, wirst du fortfahren, mir deine Begebenheiten zu erzählen. Nie glich dein Vater dir an Klugheit und Muth. Weder Achill, Hektors Ueberwinder, noch Theseus, der unverletzt aus der Unterwelt zurückkehrte, und selbst nicht der große Alcide, der die Erde von so vielen Ungeheuern reinigte, zeigte eine solche Heldentugend. Möge ein tiefer Schlaf dir die Nacht kürzen! Aber ach, wie lang wird sie mich dünken! Wie werde ich mich sehnen, dich wieder zu sehen, dich zu hören, das Gesagte dich wiederholen zu lassen, und von dir zu vernehmen, was ich noch nicht weiß! Gehe hin, geliebter Telemach, mit dem weisen Mentor, den dir die Götter wieder geschenkt haben; gehe in jene entlegene Grotte; dort ist alles für dich bereitet. Morpheus gieße seine sanftesten Zauber über deine milden Augenlieder aus; er ströme himmlische Erquickung in deine ermatteten Glieder; er sende dir leichte Träume, welche, dich umflatternd, deine Seele mit lieblichen Bildern ergötzen, und entferne alles von dir, was dich zu bald erwecken könnte!«

Die Göttin führte Telemach selbst in diese Grotte, welche von der ihrigen abgesondert war. Sie hatte ebenso viel ländliche Anmuth als jene. Eine Quelle, die aus einer Ecke hervorsprudelte, lud durch ihr sanftes Gemurmel zum Entschlummern ein. Die Nymphen hatten zwei Ruhestätten von weichem Grün bereitet, und über dieselben zwei große Häute ausgebreitet, eine Löwenhaut für Telemach und eine Bärenhaut für Mentor.

Ehe der Schlaf ihre Augen schloß, sprach Mentor also zu Telemach:

»Das Vergnügen, deine Geschichte zu erzählen, hat dich hingerissen; durch die Schilderung der Gefahren, denen du durch deinen Muth und deine Klugheit zu entgehen wußtest, hast du die Göttin entzückt; dadurch hast du ihr Herz nur noch mehr entflammt, und dir eine desto gefährlichere Gefangenschaft bereitet. Wie kannst du hoffen, daß sie dich jetzt von sich lassen werde, da du sie durch die Erzählung deiner Begebenheiten bezaubert hast? Eine eitle Ruhmbegierde ließ dich alle Klugheit vergessen. Sie hatte sich verbunden, dir Kunde von den Schicksalen deines Vaters zu geben; aber sie war schlau genug, mit vielen Worten nichts zu sagen, und dich dahin zu bringen, ihr alles zu offenbaren, was sie zu wissen wünschte. Lerne hieraus die Künste schmeichelnder, von Liebe beherrschter Weiber! Wann wirst du einmal weise genug sein, Telemach, nie aus Eitelkeit zu reden, und zu verschweigen, was dir zwar Beifall erwerben kann, aber deinem wahren Vortheil entgegen ist? Mögen andere es bewundern, daß du in einem Alter Klugheit zeigst, wo man den Mangel derselben verzeihlich findet; von mir kannst du dies nicht erwarten; ich bin der einzige, der dich kennt, und dem du allzu theuer bist, als daß ich dir nicht alle deine Fehler sagen sollte. Wie viel fehlt dir noch, um so weise zu sein, als dein Vater!«

»Wie?« antwortete Telemach, »konnte ich wohl der Göttin verweigern, ihr meine unglücklichen Schicksale zu erzählen?«

»Nein,« erwiederte Mentor, »du mußtest sie ihr erzählen, aber warum sagtest du ihr nicht bloß das, was ihr Mitleiden gegen dich einflößen konnte? Du konntest ihr sagen, daß du bald in der Ungewißheit umhergeirrt, bald in Sizilien und dann in Aegypten gefangen gewesen; mehr bedurfte es nicht, und alles übrige vermehrte nur das Gift, das schon an ihrem Herzen zehrt. Mögen die Götter das deinige davor bewahren!«

»Aber was soll ich jetzt thun?« fuhr Telemach in einem sanften und nachgiebigen Tone fort.

Mentor gab ihm zur Antwort:

»Nun ist es nicht mehr Zeit, deine übrigen Schicksale vor ihr zu verhehlen; sie weiß nun schon genug, um über den Verfolg deiner Begebenheiten nicht getäuscht zu werden; dein Zurückhalten würde nur ihren Unwillen erregen. Vollende also morgen deine Erzählung; sage ihr, was die Götter für dich gethan haben, und lerne ein andermal mit mehr Mäßigung von Dingen reden, die dir Lob zuziehen können.«

Liebevoll hörte Telemach diesen heilsamen Rath, und beide legten sich zur Ruhe.

Phöbus hatte nicht sobald seine ersten Strahlen über die Erde verbreitet, als Mentor, welcher die Stimme der Göttin hörte, welche ihre Nymphen in den Wald rief, Telemach weckte.

»Es ist Zeit,« sagte er zu ihm, »den Schlaf zu überwinden. Laß uns zu Kalypso zurückkehren, aber traue ihren glatten Worten nicht; öffne ihr nie dein Herz; fürchte das süße Gift ihrer Schmeicheleien. Gestern erhob sie dich über deinen weisen Vater, den unüberwindlichen Achill, den weit berühmten Theseus und selbst über Herkules, dem seine Thaten die Unsterblichkeit erwarben. Fühltest du wohl das Uebertriebene dieses Lobes? Glaubtest du, was sie dir sagte? Wisse, daß sie es selbst nicht glaubte. Sie erhob dich nur so sehr, weil sie dich für schwach und eitel genug hielt, dich durch ein Lob, das deine Thaten nicht verdienen, täuschen zu lassen.«

Hierauf verfügten sie sich an den Ort, wo die Göttin sie erwartete.

Sie lächelte den Kommenden entgegen, und verbarg unter scheinbarer Freude die bangen Besorgnisse, welche ihr Herz beunruhigten, denn ihr ahnete, daß Telemach, von Mentorn geleitet, ihren Händen eben so wie Ulysses entgehen würde.

»Eile, geliebter Telemach,« sagte sie zu ihm, »und befriedige meine Neugier. Die ganze Nacht hindurch glaubte ich dich von Phönizien abreisen, und neuen Schicksalen auf der Insel Cypern entgegen gehen zu sehen. So verliere denn keinen Augenblick, mir die Begebenheiten dieser Reise zu erzählen.«

Und nun ließen sie sich im Schatten eines dicken Gehölzes auf das mit Veilchen besäete Gras nieder.

Kalypso konnte sich nicht enthalten, Telemach ununterbrochen mit Blicken zärtlicher Liebe anzusehen; aber mit Verdruß bemerkte sie, daß Mentorn auch die kleinste Bewegung ihrer Augen nicht entging. Stillschweigend, vorwärts gebückt, mit lauschendem Ohr saßen die Nymphen umher; sie bildeten eine Art von Halbzirkel, um besser zu sehen und besser zu hören. Unverwandt waren die Augen der Versammlung auf den Jüngling gerichtet. Telemach, mit gesenkten Blicken und lieblich erröthend, setzte seine Geschichte also fort:

 

»Der sanfte Hauch eines günstigen Windes schwellte unsre Segel, und bald verschwand die Küste von Phönizien aus unsern Augen. Da ich mich unter fremden Menschen befand, deren Sitten ich nicht kannte; beschloß ich zu schweigen, auf alles aufmerksam zu sein, und ein wohlanständiges Betragen zu beobachten, um mir ihre Achtung zu erwerben. Während ich in diesem Stillschweigen beharrte, bemächtigte sich meiner ein sanfter Schlaf, dem ich nicht zu widerstehen vermochte. Die Wirksamkeit meiner Sinne war gehemmt; eine tiefe Ruhe, ein inniges Entzücken setzte mein Herz in süße Betäubung. Auf einmal glaubte ich, die Liebesgöttin zu sehen, wie sie in ihrem Wagen, von zwei Tauben gezogen, die Wolken herabfuhr. Sie hatte jene blendende Schönheit, jene blühende Jugend und jene zarten Reize, womit sie sich dem Schaume des Meeres entwand, und Jupiters Augen selbst bezauberte. Sie schwang sich in schnellem Fluge bis zu mir hernieder, legte mir lächelnd die Hand auf die Schulter, nannte mich bei meinem Namen, und sprach diese Worte:

›Junger Grieche, du näherst dich meinem Reich; bald wirst du jene beglückte Insel betreten, wo die Vergnügungen, die Freuden und die muntern Scherze meinen Tritten entkeimen. Du wirst auf meinen Altären opfern, Wohlgerüche werden von ihnen aufsteigen, und ich werde dich in einen Strom von Entzücken versenken. Oeffne dein Herz den süßesten Hoffnungen, und versuche es nicht, der mächtigsten aller Göttinnen zu widerstehen, die bereit ist, dich glücklich zu machen.‹

Zu gleicher Zeit erblickte ich den jungen Liebesgott; er schwang seine kleinen Flügel und flatterte um seine Mutter. Zwar lächelte aus seinem Gesicht liebliche Zärtlichkeit und holde Jugend-Anmuth, aber in seinen durchdringenden Augen war etwas, das mich schreckte. Lächelnd blickte er mich an, aber dieses Lächeln war tückisch, hämisch und grausam. Er zog aus seinem goldenen Köcher den schärfsten seiner Pfeile, spannte seinen Bogen, und wollte mich durchbohren, als plötzlich Minerva erschien, um mich mit ihrer Aegide zu decken. Das Antlitz dieser Göttin hatte nicht jene weichliche Schönheit, jenes verliebte Schmachten, das ich in dem Gesichte und der Stellung der Venus bemerkt hatte, ihre Schönheit war einfach, ungekünstelt, bescheiden. Die Göttin der Weisheit zeigte in ihrem ganzen Wesen Gesetztheit, Würde, Leben und Kraft. Der Pfeil des Kupido, unvermögend, die Aegide zu durchdringen, fiel zur Erde. Der Liebesgott, beschämt, sich überwunden zu sehen seufzte mit bitterm Unwillen darüber.

›Zurück, verwegener Knabe,‹ rief Minerva, ›zurück! Du wirst nie andere, als feige Seelen überwinden, die deine schändlichen Vergnügungen der Weisheit, der Tugend und der Ehre vorziehen.‹

Auf diese Worte flog Amor zürnend davon, und Venus kehrte wieder in den Olymp zurück. Lange sah ich ihren Wagen nebst ihren zwei Tauben in einer Wolke von Gold und Lasur; alsdann verschwand sie. Als ich wieder zur Erde sah, erblickte sich Minerven nicht mehr.

Jetzt däuchte es mir, als ob ich in einen lieblichen Garten versetzt sei, ähnlich den elysischen Gefilden. Hier erkannte ich Mentor, der mir zurief:

›Fliehe diesen gefährlichen Boden, diese verpestete Insel, wo man nur Wollust athmet! Hier muß die entschlossenste Tugend zittern; hier rettet nur schnelle Flucht!‹

Sobald ich ihn erblickt hatte, flog ich an seinen Hals, um ihn zu umarmen; aber meine Füße waren unbeweglich, meine Kniee brachen unter mir, und meine Hände, die sich bemühten, Mentor zu fassen, suchten einen leeren Schatten, der mir stets entschlüpfte. In dieser Anstrengung erwachte ich. Ich erkannte, daß dieser geheimnißvolle Traum eine Warnung des Himmels sei. Ich fühlte mich voll Mißtrauen gegen mich selbst, voll Muth gegen die Wollüste, voll Kraft, das weichliche Leben der Cyprier zu verabscheuen; aber der Gedanke, daß Mentor nicht mehr lebe, daß er schon über den Styx gegangen, und den seligen Aufenthalt der Gerechten bewohne, zerriß mir das Herz.

Diese Vorstellung preßte mir einen Strom von Thränen aus. Man fragte mich, warum ich weine.

›Ach!« antwortete ich, ›nur zu sehr ziemen Thränen einem unglücklichen Fremdling, der umherirrt, ohne Hoffnung, sein Vaterland wieder zu sehen.‹

Mittlerweile überließen sich die Cyprier, die in dem Schiffe waren, einer thörichten Freude. Die Ruderer, der Arbeit müde, entschliefen auf ihren Ruderbänken. Der Pilot, einen Blumenkranz um seine Schläfe, ließ das Steuer fahren, und hielt in seiner Hand einen großen Weinkrug, den er beinahe geleert hatte. Er und alle übrigen, von der Wuth des Weingotts ergriffen, und der Sinne beraubt, sangen zum Lob der Venus und des Kupido Lieder, welche jeden Tugendfreund mit Abscheu erfüllen mußten.

Indem sie dergestalt die Gefahren des Meeres vergaßen, setzte ein plötzlicher Sturm den Himmel und das Meer in Aufruhr. Die losgelassenen Winde brausten mit Wuth in den Segeln; die schwarzen Wogen schlugen die Seiten des Schiffs; es krachte unter den gewaltigem Stößen. Bald stiegen wir auf den Rücken der aufgethürmten Wellen empor, bald schien das Meer unter dem Schiff zu versinken, und uns in den Abgrund zu stürzen. In unserer Nähe erblickten wir Felsen, an denen sich die zürnenden Wogen mit schrecklichem Getöse brachen. Die Erfahrung lehrte mich jetzt, was ich so oft von Mentorn gehört hatte, daß weibische und wollüstige Menschen in der Gefahr ohne Muth sind. Alle Cyprier, von Schrecken ergriffen, weinten wie Weiber. Ich hörte nichts als Jammergeschrei, nichts als Klagen über den Verlust des Lebens und seiner Freuden, nur fruchtloses Flehen zu den Göttern, denen sie reiche Opfer versprachen, wenn sie dem Tode entgehen und den Hafen erreichen könnten. Keiner hatte so viel Besinnung behalten, die Arbeiten im Schiffe anzuordnen, oder sie selbst zu verrichten. Ich sah, daß mir nichts übrig blieb, als durch Rettung des Lebens der andern das meinige zu retten. Ich ergriff das Steuer, weil der Steuermann, einer Bacchantin ähnlich, außer Stande war, die Gefahr des Schiffes zu beurtheilen; ich flößte den erschrockenen Seeleuten Muth ein; ich befahl ihnen die Segel herabzulassen; sie ruderten aus allen Kräften; wir arbeiteten uns mitten durch die Felsen hindurch; alle Schrecken des Todes waren vor unsern Augen; endlich erreichten wir die Insel Cypern.

Dieses Ereigniß schien allen denen ein Traum, die mir die Erhaltung ihres Lebens zu danken hatten; sie sahen mich mit Erstaunen an. Wir landeten auf der Insel in demjenigen Monat des Frühlings, welcher der Liebesgöttin geheiligt ist. Mit Recht, sagten die Cyprier, ist diese Jahreszeit der Göttin geheiligt; denn sie ist es, die die ganze Natur belebt, und die Freuden des Lebens hervorruft, wie die Blumen des Feldes. Als ich diese Insel betrat, fühlte ich eine milde Luft, die meinen Körper erschlaffte und träge machte, aber meinen Geist in eine heitere und fröhliche Stimmung versetzte Der Boden, von Natur fruchtbar und schön, lag beinahe ganz unangebaut, so sehr haßten die Einwohner die Arbeit. Wo ich meine Augen hinwendete, sah ich üppig geputzte Weiber und Mädchen, die unter Gesängen zum Lob der Göttin ihrem Tempel zueilten, um sich ihrem Dienste zu weihen. Anmuth, Heiterkeit und Fröhlichkeit lachte aus ihren holden Mienen; aber ihre Reize waren allzu gekünstelt, und man vermißte bei ihnen der Schönheit höchste Zierde, edle Einfalt und holde Scham. Das Weichliche in ihren Geberden, das Bestreben, durch erkünstelte Mienen zu gefallen, ihre auffallende Kleidung, ihr schmachtender Gang, ihre Blicke, die stets nach den Männern hinschielten, ihr Wetteifer unter einander, heftige Leidenschaften in den Herzen anzufachen, mit einem Worte alles, was ich an ihnen sah, schien mir niedrig und verächtlich, und je mehr sie sich bemühten, mir zu gefallen, desto mehr Ekel flößten sie mir ein.

Man führte mich in den Tempel der Liebesgöttin; es waren mehrere derselben auf der Insel; man verehrt sie zu Cythera, zu Idalium und zu Paphos; ich wurde nach Cythera geführt. Der Tempel war ganz von Marmor, und rings umher mit hohen und dicken Säulen umgeben, die ihm ein sehr majestätisches Ansehen verschafften. Ueber dem Unterbalken und dem Fries erblickte man auf jeder Seite große Giebelfelder, wo in erhabenem Bildwerk die angenehmsten Begebenheiten der Göttin vorgestellt waren. Am Eingang des Tempels sah man immer eine große Menge Menschen versammelt, die ihre Opfer darbrachten.

Nie wird ein Opferthier innerhalb des Bezirks des heiligen Orts geschlachtet; nie wird daselbst, wie anderwärts, das Fett der Stiere und der jungen Kühe verbrannt, nie ihr Blut vergossen. Die Thiere, die man opfern will, werden nur vor den Altar gestellt, und keines kann zum Opfer gebraucht werden, das nicht jung, weiß und ohne irgend ein Fehl und Flecken sei. Die Opferthiere sind mit goldgestickten Purpurbändern geziert; ihre Hörner sind vergoldet und mit Sträußen von wohlriechenden Blumen bekränzt. Wenn sie vor dem Altare gezeigt worden sind, führt man sie an einen abgesonderten Ort, wo sie für die Gastmähler der Priester der Göttin geschlachtet werden.

Man opfert auch alle Arten von wohlriechenden Wassern und Wein, süßer als Nektar. Die Priester sind mit langen, weißen Gewändern mit goldenen Franzen bekleidet, welche goldene Gürtel umschließen. Die lieblichsten Rauchwerke des Orients brennen Tag und Nacht an den Altären, und steigen in dampfenden Wolken zum Himmel. Alle Säulen des Tempels sind mit herabhängenden Blumenkränzen geschmückt. Das Opfergeräthe ist von Gold. Ein heiliger Myrthenhain umgibt das Gebäude. Nur junge Knaben und junge Mädchen von seltener Schönheit dürfen den Priestern die Opferthiere darbringen, und das Feuer der Altäre anzünden; aber freche Sittenlosigkeit entehrt diesen prächtigen Tempel.

Anfangs flößte mir alles, was ich sah, nur Abscheu ein, aber allmählig gewöhnte sich mein Herz daran.Das Laster schreckte mich nicht mehr. Unordentliche Begierden regten sich in meiner Seele, indem ich mich zu diesen Menschen gesellte. Man verhöhnte meine Unschuld, meine Enthaltsamkeit; meine Schamhaftigkeit diente diesen frechen Menschen zum Gespötte. Sie vergaßen nichts, meine Leidenschaften zu wecken; sie legten mir Schlingen, um meine Sinnlichkeit rege zu machen. Ich fühlte, daß ich mit jedem Tage schwächer wurde. Die guten Eindrücke, welche ich durch meine Erziehung erhalten hatte, hatten fast alle ihre Kraft verloren; alle meine guten Vorsätze verschwanden; ich war zu ohnmächtig, dem von allen Seiten auf mich eindringenden Uebel zu widerstehen; sogar eine unselige Scham vor der Tugend selbst hatte sich meiner bemächtigt; ich glich einem Menschen, der in einem tiefen und reißenden Strome schwimmt; anfangs kämpft er gegen die Wellen, er arbeitet dem Strom entgegen; aber ist das Ufer steil, kann er es nicht erreichen, so ermüdet er endlich, seine Kraft verläßt ihn, seine erschöpften Glieder erstarren, und der Strom reißt ihn mit sich fort.

So fingen auch meine Augen an dunkel zu werden, mein Geist ermattete; vergebens bemühte ich meine Vernunft zurück zu rufen, vergebens, mich durch die Vorstellung der Tugenden meines Vaters aufrecht zu erhalten. Der Traum, in welchem ich wähnte, Mentor in Elysiums Gefilden gesehen zu haben, schlug meinen Muth vollends nieder; ich fühlte ein geheimes und sanftes Ermatten; ich liebte schon das schmeichelnde Gift, das sich schleichend durch meine Adern verbreitete, und bis in das Mark meiner Gebeine drang. Noch entstiegen tiefe Seufzer meiner Brust; ich vergoß bittere Thränen; ich brüllte wie ein Löwe in meiner Verzweiflung.

›Unselige Jugend!‹ rief ich aus; ›Götter! wie grausam spielet ihr mit den Menschen! Warum lasset ihr sie die Jahre der Jugend, diese Zeit der Thorheit und des Wahnsinns, durchlaufen? Ach! warum ist mein Haupt nicht schon mit grauen Haaren bedeckt, warum nähere ich mich nicht schon gebückt dem Grabe wie Laertes, mein Großvater? Der Tod würde mir minder bitter sein, als dieser Zustand, erniedrigender Schwachheit, in welchem ich mich jetzt befinde.‹

Kaum hatte ich diese Worte ausgeredet, als mein Kummer nachließ, und mein Herz, von thörichter Sinnlichkeit berauscht, fast alle Scham abwarf Dann fühlte ich mich aufs neue von schmerzlicher Reue gepeinigt. In dieser Unruhe durchirrte ich wie sinnlos den heiligen Hain; einem Wilde gleich, das, vom Jäger verwundet, die dicken Wälder durchschweift; es sucht Linderung für seinen Schmerz; aber der mörderische Pfeil, der es getroffen, steckt ihm in der Seite, es trägt ihn überall mit sich; so trieb auch mich ein eitles Bemühen, mich selbst zu vergessen, umher, und nichts linderte die Wunde meines Herzens.

Mit einem Male erblickte ich in dem dunkeln Schatten des Gehölzes ziemlich weit von mir die Gestalt meines Freundes; aber sein Gesicht war so blaß, so traurig, so ernsthaft, daß mir diese Erscheinung keine Freude gewährte.

›Bist du es, Mentor, theurer Freund, einzige Hoffnung meines Lebens? Bist du es selbst? Täuscht nicht ein trügerisches Bild meine Augen? Bist du es wirklich? Ist es nicht dein Schatten, den meine Leiden noch rühren? Wandelst du noch nicht unter den seligen Geistern, die den Lohn ihrer Tugenden genießen, von den Göttern mit ewiger Ruhe und himmlischer Wonne in Elysiums Gefilden beglückt? Rede, Mentor, bist du noch unter den Lebenden? Bin ich so glücklich, dich zu besitzen, oder ist es nur der Schatten meines Freundes?‹

Indem ich diese Worte sprach, lief ich, von Sehnsucht beflügelt, mit schnellen Schritten auf ihn zu. Ruhig und ohne mir entgegen zu kommen, erwartete er mich. Ihr wißt es, o ihr Götter, wie groß mein Entzücken war, als meine Hände ihn berührten!

›Nein, nicht bloß ein leerer Schatten ist es, was ich anfühle; ich halte ihn, ich umfasse ihn, den geliebten Freund!‹

Also rief ich aus. Häufige Thränen entquollen meinen Augen, sie benetzten sein Gesicht. Lange hing ich sprachlos an seinem Halse. Traurig, aber voll zärtlichen Mitleids sah er mich an.

Endlich sagte ich zu ihm:

›Ach, von wannen kommst du, mein Freund? Welchen Gefahren war ich nicht während deiner Abwesenheit ausgesetzt, und wie würde es mir auch jetzt noch ohne dich ergehen?‹

Er antwortete nicht auf meine Fragen, sondern sprach die fürchterlichen Worte zu mir:

›Fliehe, zögere keinen Augenblick zu fliehen! Hier bringt die Erde nur Gift statt der Früchte hervor; die Luft, die man athmet, ist verpestet; die Menschen nahen sich hier einander nur, um sich das tödtliche Gift mitzutheilen, von dem sie angesteckt sind. Die schnöde, die schändliche Wollust, die schrecklichste der Plagen, die der Büchse der Pandora entflogen, entnervt hier die Herzen und verdrängt jede Tugend. Fliehe! was säumest du noch? Fliehe! Wende deinen Blick nicht rückwärts! Auch die leiseste Spur dieser grauenvollen Insel werde aus deiner Seele vertilgt.‹

Er sprach's und mir war, als ob eine dicke Wolke sich vor meinen Augen zertheilte. Ich erblickte das reine Licht wieder; ein sanftes Entzücken ergoß sich durch meine Seele; neuer Muth erwachte in meinem Herzen. Wie verschieden waren meine jetzigen Empfindungen von jener erschlaffenden, thörichten Freude, die meine Sinne vergiftet hatte! Es war eine berauschende, betäubende Freude, von wüthenden Leidenschaften, von quälender Reue unterbrochen; was ich jetzt fühlte, war eine Freude, welche die Vernunft billigte; sie hatte etwas Beseligendes, etwas Himmlisches an sich; rein, unwandelbar, unerschöpflich, beglückte sie um so mehr, je mehr man sich in sie versenkte; sie füllte die Seele mit Entzücken, ohne sie in Unruhe zu setzen. Ich weinte vor Vergnügen und fand, daß es nichts angenehmeres gebe, als so zu weinen.

›Wohl dem Menschen!‹ rief ich aus, ›dem sich die Tugend in ihrer ganzen Schönheit zeigte! Kann man sie sehen, ohne sie zu lieben; kann man sie lieben, ohne glücklich zu sein?‹

Hierauf sprach Mentor zu mir:

›Ich muß dich verlassen; ich reise in diesem Augenblick ab; es ist mir nicht vergönnt, länger hier zu weilen.‹

›Wohin willst du denn gehen?‹ fragte ich ihn; ›in welches unbewohnte Land würde ich dir nicht folgen? O, hoffe nicht, mir zu, entfliehen, und wenn es mir auch das Leben kostete, dennoch würde ich deinen Tritten folgen;‹ also sprach ich, und hielt ihn fest umschlossen.

›Vergebens,‹ sagte er, ›hoffest du, mich zurück zu halten. Der grausame Metophis verkaufte mich an äthiopische oder arabische Kaufleute, die in Handelsgeschäften nach Damascus in Syrien reisten, sie wollten sich meiner entledigen, und überließen mich einem gewissen Hazael, von dem sie eine große Summe Geldes für mich zu bekommen hofften, und der einen griechischen Sclaven suchte, um durch ihn die griechischen Sitten kennen zu lernen, und sich in unsern Wissenschaften zu unterrichten. Hazael kaufte mich wirklich um einen hohen Preis. Die Kenntniß, die ich ihm von unsern Sitten ertheilte, hat ihn begierig gemacht, nach Kreta zu reisen, um die weisen Gesetze des Minos kennen zu lernen. Während unserer Fahrt haben uns die Winde genöthigt, auf der Insel Cypern zu landen. Den günstigen Wind erwartend, ist er in den Tempel gegangen, um sein Opfer darzubringen. Eben tritt er aus demselben; die Winde rufen uns, schon schwellen unsere Segel; lebe wohl, mein lieber Telemach, ein Sclave, der die Götter fürchtet, muß seinem Herrn gewissenhaft folgen. Die Götter haben mich dem Willen eines andern unterworfen; hätte ich über mich selbst zu gebieten, sie wissen es, daß ich nur für dich leben würde Lebe wohl! Gedenke deines Vaters und seiner Leiden, gedenke der Thränen Penelopens, gedenke der gerechten Götter! Mächte des Himmels, Beschützer der Unschuld, in welchem Lande bin ich gezwungen, Telemach zurück zu lassen!‹

›Nein, nein, mein lieber Mentor,‹ sagte ich zu ihm, ›es steht nicht in deiner Macht, mich hier zu lassen; lieber will ich sterben, als dich ohne mich abreisen sehen. Ist er unerbittlich, dieser Syrer? Sog er die Brust einer Tigerin in seiner Kindheit? Wird er dich wohl aus meinen Armen reißen wollen? Er tödte mich, oder leide, daß ich dir folge. Du selbst ermahnst mich, zu fliehen, und doch willst du nicht, daß ich fliehend deinen Tritten folge. Ich will mit Hazael reden, vielleicht flößt ihm meine Jugend Mitleid ein, vielleicht rühren ihn meine Thränen. Da er die Weisheit liebt, da er sie sogar in fernen Landen sucht, so kann er kein gefühlloses, kein grausames Herz haben. Ich werde mich zu seinen Füßen werfen; ich werde seine Knie umfassen; ich werde ihn nicht lassen, er erlaube mir denn, dir zu folgen; ich werde mich ihm zum Sclaven anbieten; ich werde mit dir in die Dienstbarkeit gehen, mein lieber Mentor. Wenn er mich ausschlägt, so ist es um mich geschehen, und ich werde meinem Leben selbst ein Ende machen.‹

In diesem Augenblick rief Hazael Mentor. Ich warf mich vor ihm nieder; er erstaunte, einen Unbekannten in dieser Stellung vor sich zu sehen.

›Was willst du?‹ sagte er zu mir.

›Das Leben,‹ antwortete ich ihm; ›denn es ist mir unmöglich, länger zu leben, wenn du mir nicht erlaubest, Mentorn zu folgen, welcher dein Sclave ist. Ich bin der Sohn des großen Ulysses, des weisesten unter den griechischen Königen, welche das stolze Troja zerstört haben, das in ganz Asien berühmt ist. Ich sage dir meine Herkunft nicht, mich zu rühmen, sondern nur, um dir einiges Mitleid gegen einen Unglücklichen einzuflößen. Ich segelte durch alle Meere, um nach meinem Vater zu forschen; dieser Mann begleitete mich; er war mir ein zweiter Vater. Das widrige Glück, das Maaß meiner Leiden voll zu machen, hat mir ihn entrissen; es hat ihn zu deinem Sclaven gemacht; laß es mich auch sein. Wenn es wahr ist, daß du die Gerechtigkeit liebst und daß du nach Kreta gehst, um dich in den Gesetzen des guten Königs Minos zu unterrichten, o, so sei nicht fühllos gegen meine Seufzer und meine Thränen! Du siehst den Sohn eines Königs, den das Mißgeschick zwingt, die Dienstbarkeit als seine letzte Hoffnung zu erflehen. Vordem war ich in Sizilien bereit zu sterben, um der Knechtschaft zu entgehen; aber meine ersten Leiden waren nur der Anfang der Mißhandlungen des mich verfolgenden Glücks; jetzt, würde ich mich glücklich schätzen, Sclave zu sein. Götter, laßt euch meine Leiden rühren! Hazael, gedenke des Minos, dessen Weisheit du bewunderst, und der uns einst beide in dem Reiche des Pluto richten wird.‹

Hazael sah mich mit sanften und mitleidigen Blicken an, er reichte mir die Hand, und hob mich vom Boden auf.

›Ich kenne,‹ sprach er, ›die Weisheit und den Heldenmuth deines Vaters; oft hat mir Mentor erzählt, welchen Ruhm er sich unter den Griechen erwarb, und das schnell wandelnde Gerücht hat auch längst seinen Namen unter allen Völkern des Orients genannt. Folge mir, Sohn des Ulysses, ich werde dein Vater sein, bis du den wieder gefunden hast, der dir das Leben gab. Fühlte ich mich auch nicht durch den Ruhm deines Vaters, durch seine Leiden und deine eigenen Bedrängnisse zum Mitleid gegen dich bewogen, so würde schon die Freundschaft, die ich für Mentor hege, dir Anspruch auf meine Liebe geben. Zwar habe ich ihn als Sclaven gekauft, aber ich betrachte ihn als einen treuen Freund. Das Geld, das ich für ihn gab, hat mir den besten und kostbarsten Freund verschafft, den ich auf der Welt habe. Ich fand einen Weisen an ihm, und ich danke ihm alle Liebe der Tugend, die ich besitze. Von diesem Augenblick an ist er frei; du bist es auch; ich fordere von euch beiden nichts, als daß ihr mir euere Liebe schenket.‹

In einem Augenblick ging ich von den bittersten Schmerzen zu der lebhaftesten Freude über, die ein menschliches Herz nur empfinden kann. Ich sah mich aus der schrecklichsten Gefahr gerettet; ich näherte mich meinem Vaterlande; meine Rückkehr in dasselbe wurde mir erleichtert; ich hatte das tröstende Gefühl, in der Gesellschaft eines Mannes zu sein, der bloß aus Liebe zur Tugend mir geneigt war; endlich fand ich alles, indem ich Mentor wiederfand, und hoffen konnte, nie mehr von ihm getrennt zu werden.

Hazael ging dem Gestade des Meeres zu; wir folgten ihm; wir stiegen in das Schiff. Die Ruderer theilten die friedlichen Wellen; ein leichter Zephyr spielte in unsern Segeln; er setzte das Schiff in Bewegung; es gleitete dahin. Bald verloren wir die Insel Cypern aus dem Gesicht.

Hazael, der begierig war, meine Gesinnungen kennen zu lernen, fragte mich, was ich von den Sitten dieser Insel dächte. Mit Offenherzigkeit erzählte ich ihm die Gefahren, die meine Jugend bedroht hätten, und verbarg ihm den Kampf meines Innern nicht. Der Abscheu, den ich vor dem Laster bezeigte, rührte ihn und er brach in diese Worte aus:

›Göttin, ich erkenne deine Macht und die Macht deines Sohnes; ich habe auf deinen Altären geopfert; aber zürne nicht, wenn ich die schändliche Weichlichkeit der Bewohner deiner Insel und die schamlose Frechheit verabscheue, womit sie deine Feste begehen.‹

Alsdann sprach er mit Mentorn von jener Urkraft, welche Himmel und Erde gebildet, von jener unversiegbaren reinen Quelle des Lichts, die in alle Wesen strömt, ohne sich je selbst zu erschöpfen, von jener höchsten allumfassenden Wahrheit, die alle Seelen, wie die Sonne alle Körper erleuchtet.

›Wer die Einflüsse dieses reinen Lichts nie empfunden hat,‹ setzte er hinzu, ›dessen Augen umhüllt Finsterniß, gleich den Augen eines Blindgebornen; er wandelt in dunkler Nacht, wie die Völker, die einen Theil des Jahres der Strahlen der Sonne beraubt sind; er vermeint, weise zu sein, und ist thöricht; er wähnt, alles erforscht zu haben, und alles ist ihm verborgen. Er verläßt die Welt, ohne je die wahre Gestalt der Dinge gesehen zu haben; höchstens erblickte sein Auge düstre und täuschende Schimmer, eitle Schatten und wesenlose Gestalten. Dies ist das Loos der Menschen, die sich von der Sinnenlust und den Reizen der Einbildung dahin reißen lassen. Nur diejenigen verdienen den Namen der Menschen, welche diese ewige Vernunft befragen, sie lieben und ihr folgen. Ihre Eingebungen sind es, wenn wir richtig denken; sie ist es, welche uns bestraft, wenn wir irren; die Vernunft ist eben sowohl ihr Geschenk, als das Leben; sie gleicht einem großen Lichtmeer und unsere Seelen sind eben so viele kleine Bäche, die aus diesem Meer ausfließen, um am Ende wieder in dasselbe zurückzukehren, und sich in ihm zu verlieren.‹

Wiewohl ich den tiefen Sinn dieses Gesprächs noch nicht vollkommen begriff, so schmeckte ich doch ein reines und erhabenes Vergnügen bei Anhörung desselben; mein Herz fühlte sich dadurch erwärmt, und die Wahrheit schien mir aus allen Worten hervor zu leuchten. Sie sprachen weiter von dem Ursprung der Götter, von den Heroen, den Dichtern, dem goldenen Zeitalter, von der allgemeinen Ueberschwemmung der Erde, den ersten Begebenheiten des menschlichen Geschlechts, dem Fluß der Vergessenheit, in den sich die Seelen der Verstorbenen tauchen, den ewigen Strafen, welche die Lasterhaften in dem finstern Schlund des Tartarus erwarten, und von jener seligen Ruhe, welche die Gerechten in den Gefilden Elysiums genießen, und deren Verlust sie nie zu befürchten haben.

Während Mentor und Hazael sprachen, erblickten wir Delphine, deren schuppige Haut von Gold und Lasur zu schimmern schien. Sie spielten in den Gewässern und erhoben schäumende Wellen. Tritone erschienen, welche auf ihren gekrümmten Muscheln bliesen. Sie umgaben den Wagen der Amphitrite, von Meerpferden gezogen, weißer als der Schnee. Diese theilten die salzigen Wellen, und eine tiefe Furche zog sich hinter ihnen weit in dem Meere hin. Ihre entflammten Augen brannten, ihre Mäuler dampften. Der Wagen der Göttin war eine Muschel von wunderschöner Gestalt, blendend weiß wie Elfenbein, die Räder schimmerndes Gold. Er schien über die Fläche der stillen Gewässer hin zu schweben. Blumenbekränzte Nymphen schwammen in großen Schaaren hinter demselben her; ihre schönen Locken rollten auf ihre Schultern herab und flatterten im Winde. Die Göttin hatte in der einen Hand ein goldenes Scepter, womit sie den Wogen gebot, mit der andern hielt sie auf ihrem Schooß den kleinen Gott Palemon, ihren Sohn, der an ihrer Brust lag. Die ungestümen Winde und die schwarzen Stürme flohen vor der sanften Majestät, die auf ihrem heiteren Gesichte glänzte. Die Tritone führten die Pferde und hielten die goldenen Zügel. Ein großes Segel von Purpur wallte flatternd über dem Wagen in der Luft; es war halb aufgeschwellt vom Hauch einer Menge kleiner Zephyre, welche bemüht waren, den Wagen fortzuwehen. Mitten in der Luft zeigte sich Aeolus, voll Eifer, unruhig, rastlos. Sein runzliches und mürrisches Gesicht, seine drohende Stimme, seine dichten, herabhängenden Augenbraunen, seine düstern Blicke, voll wilden Feuers, zähmten die trotzigen Aquilone, und verjagten alle Wolken. Die unermeßlichen Wallfische und alle anderen Ungeheuer des Meers, die mit ihren Naselöchern eine Ebbe und Fluth in den bittern Gewässern des Meeres erregten, entstiegen eilends ihren tiefen Grotten, um die Göttin zu sehen.«



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