Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Buch.

Idomeneus erzählt Mentorn sein Zutrauen in Protesilaus und die Ränke dieses Günstlings, der sich mit Timokrates einverstanden, den Philokles zu stürzen, und ihn selbst zu verrathen. Er verhehlt ihm nicht, das er, durch diese zwei Menschen gegen den Philokles eingenommen, dem Timokrates den Auftrag gegeben habe, jenen in einem Feldzug, bei dem er seine Flotte anführte, zu tödten; daß, da dieser seine Absicht verfehlt, Philokles seines Lebens geschont, und nach der Insel Samos entwichen sei, zuvor aber dem Polimenes die Anführung der Flotte übergeben habe, den Idomeneus in seinem schriftlichen Befehl zum Anführer derselben ernannt, und daß er, trotz der Verrätherei des Protesilaus, sich nicht habe entschließen können, sich von ihm los zu machen.


S chon lockte der Ruf von der sanften und gemäßigten Regierung des Idomeneus von allen Enden eine Menge Menschen herbei, welche kamen, sich seinem Staate einzuverleiben, und ihr Glück unter einer so milden Herrschaft zu suchen. Schon versprachen die so lange mit Dornen und wildem Gesträuch bedeckten Gefilde reiche Ernte und bis jetzt in diesen Gegenden noch nie gesehene Früchte. Die Erde öffnete ihren Schooß, vom scharfen Pfluge durchschnitten, und bereitete die Schätze, womit sie den Fleiß des Landmanns belohnt. Von allen Seiten verbreiteten sich wieder die Schimmer der Hoffnung. In Thälern und auf Hügeln sah man Schafe weiden und im Grase spielen, und große Heerden von Hornvieh, von deren Gebrüll die hohen Berge erschollen. Sie düngten das Feld. Mentor hatte diese Heerden herbeizuschaffen gewußt; er hatte dem Idomeneus gerathen, da sie den Salentinern mangelten, sie von den Peuceten, einem benachbarten Volke, gegen die entbehrlichen Dinge, die in Salent nicht mehr geduldet werden sollten, einzutauschen.

Die Stadt und die Dörfer umher wimmelten von einer wohlgebildeten Jugend, welche lange im Elend geschmachtet, und aus Furcht, ihre Leiden zu vermehren, sich nicht getraut hatte, in den Ehestand zu treten. Jetzt, da sie sahen, wie liebevolle Gesinnungen Idomeneus angenommen, wie er sich bestrebte,Vater seines Volkes zu sein, jetzt schreckte sie nicht mehr der Hunger und die andern Plagen, womit die Götter die Erde heimsuchen. Man hörte jetzt nur Töne der Freude, nur die Lieder der Hirten und der Ackerleute, welche das Glück ihrer Ehen feierten. Pan mit seinem Gefolge von Satyren und Faunen schien beim Tone der Flöten in schattigen Hainen mit Nymphen Tänze zu halten. Ruhe und Fröhlichkeit war in allen Herzen. Aber das Vergnügen wurde mit Mäßigung genossen; es war nur Erholung nach der Arbeit, und eben deßwegen um so lebhafter und reiner.

Die Alten, voll frohen Erstaunens bei dem Anblick einer Glückseligkeit, die sie nicht mehr zu sehen gehofft hatten, weinten Thränen der Freude und Zärtlichkeit. Sie hoben ihre zitternden Hände-gen Himmel.

»Segne, großer Jupiter,« riefen sie aus, »segne einen König, der dir so ähnlich ist, ihn, das kostbarste aller Geschenke, das deine Hand uns je ertheilte. Zum Glücke der Menschen schufst du ihn: lohne ihm die Wohlthaten, die wir von ihm empfangen. Unsere spätesten Enkel, aus diesen zärtlichen Verbindungen entsprungen, die sein Werk sind, werden ihm alles, bis auf ihre Geburt, zu verdanken haben, und mit Recht wird er der Vater seines Volkes genannt werden.«

Die Jünglinge und die Mädchen, die jetzt das Band der Ehe umschlang, äußerten ihre Freude nur dadurch, daß sie das Lob dessen sangen, der der Schöpfer dieser Freude war. Sein Name war in jedem Munde, in allen Herzen. Man fühlte sich glücklich, ihn zu sehen; man fürchtete, ihn zu verlieren; sein Tod würde alle Familien in die tiefste Trauer versenkt haben.

Idomeneus gestand Mentorn, daß er nie ein innigeres Vergnügen empfunden, als das Vergnügen, geliebt zu sein, und so viele Menschen glücklich zu machen.

»Nimmer hätte ich dies geglaubt. Ich wähnte, die Größe der Fürsten bestehe nur darin, gefürchtet zu werden; ich hielt dafür, die übrigen Menschen seien nur für sie geschaffen, und was man von Königen erzählte, die die Liebe und die Wonne ihres Volks gewesen sein sollten, schien mir eine bloße Erdichtung. Nun erkenne ich, daß es keine Täuschung ist. Aber laß dir erzählen, wie man es anfing mein Herz schon von zarter Kindheit an durch irrige Begriffe über die höchste Gewalt zu vergiften. Alles Unglück meines Lebens rührte daher.«

Idomeneus begann also:

»Unter allen jungen Männern, die ich kannte, war mir Protesilaus, der ein wenig älter war, als ich, der liebste. Sein lebhafter, emporstrebender Geist gefiel mir. Er nahm Theil an meinen Vergnügungen; er schmeichelte meinen Leidenschaften. Ich hatte noch einen andern jungen Freund, der sich Philokles nannte. Protesilaus erregte bei mir Verdacht gegen diesen. Philokles fürchtete die Götter; er hatte eine große Seele, aber ihre Bewegungen waren gemäßigt. Er suchte seine Größe nicht darin, sich über andere zu erheben, sondern sich selbst zu überwinden, und sich keine niedrige Handlung zu erlauben. Freimüthig sprach er mir von meinen Fehlern, und wenn er es auch nicht wagte, mir Vorstellungen zu thun, so las ich doch hinlänglich aus seinem Stillschweigen und seiner traurigen Miene die Vorwürfe, die er mir machen wollte.

Anfänglich gefiel mir diese Aufrichtigkeit, und oft bezeigte ich ihm, daß ich ihn stets mit Zutrauen hören würde, damit er mich vor der Schmeichelei bewahren möchte. Er sagte mir alles, was ich thun müßte, um ein würdiger Nachfolger meines Großvaters Minos zu werden, und mein Reich glücklich zu machen. Er besaß nicht deine tiefe Weisheit, Mentor, aber seine Grundsätze waren gut; jetzt erkenne ich es. Protesilaus, eifersüchtig und voll Ehrgeiz, brachte es allmählich durch seine Ränke dahin, daß ich einen Widerwillen gegen Philokles faßte. Dieser suchte sich nicht vorzudrängen; er ließ dem andern den Vorzug, und begnügte sich, mir immer die Wahrheit zu sagen, wenn ich sie hören wollte. Es war ihm um mein Wohl und nicht um sein Glück zu thun.

Protesilaus wußte mich auf eine feine Art zu überreden, daß Philokles ein verdrießlicher und übermüthiger Mann sei, der alle meine Handlungen tadelte; daß er deßwegen nichts von mir begehrte, weil er den Stolz habe, mein Schuldner nicht sein zu wollen, und nach dem Ruf eines Mannes strebe, der über alle Ehrenstellen erhaben sei. Er fügte hinzu, daß er bei andern eben so frei von meinen Fehlern spreche, als bei mir; daß er es nicht verberge, daß er nur wenige Achtung für mich habe, und daß er durch Herabsetzung meiner Ehre und den Schein einer strengen Tugend, den er annehme, sich den Weg zum Throne bahnen wollte.

Anfangs konnte ich nicht glauben, daß Philokles die Absicht haben sollte, mich des Thrones zu berauben. Wahre Tugend zeichnet sich durch eine Natürlichkeit und Unbefangenheit aus, die man nicht erkünsteln kann, und die dem aufmerksamen Beobachter nie entgeht. Aber die Beharrlichkeit des Philokles, mir meine Schwächen vorzuhalten, fing an, mich zu ermüden, und die Gefälligkeit des Protesilaus und sein unermüdetes Bestreben, neue Vergnügungen für mich ausfindig zu machen, machte mir die ernste Tugend des andern nur desto unerträglicher. Protesilaus, unwillig, daß ich nicht alles glaubte, was er mir von seinem Feinde sagte, beschloß, nicht mehr von ihm zu reden, und meine Zweifel durch etwas, das mehr Gewicht hatte, als seine Worte, zu besiegen. Das Mittel, das er wählte, mich vollends zu hintergehen, war dieses: Er rieth mir, den Philokles zum Befehlshaber der Flotte zu ernennen, welche bestimmt war, die karpathischen Schiffe anzugreifen. Er sagte mir, um mich zu diesem Entschluß zu bewegen:

›Das Lob, das ich dem Philokles ertheile, kann nicht verdächtig sein. Ich gestehe, daß man ihm Muth und Kriegserfahrenheit nicht absprechen kann. Er wird deine Befehle besser vollstrecken, als irgend ein anderer, und ich ziehe deinen Vortheil dem Unwillen vor, den ich gegen ihn gefaßt habe.‹

Ich war entzückt, diese Geradheit und Billigkeit in dem Herzen des Protesilaus zu finden, dem ich die Besorgung meiner wichtigsten Geschäfte anvertraut hatte. Freudig umarmte ich ihn, und schätzte mich glücklich, einem Manne mein ganzes Vertrauen geschenkt zu haben, der mir so völlig über jede Leidenschaft und jeden Eigennutz erhaben schien. Aber, ach! wie sehr verdienen die Fürsten das Mitleiden der Menschen! Dieser Mann kannte mich besser, als ich mich selbst kannte. Er wußte, daß die Fürsten meistens mißtrauisch und sorglos sind; mißtrauisch, weil sie täglich neue Erfahrungen über die Kunstgriffe der Lasterhaften machen, die sie umgeben; sorglos, weil sie bloß ihrem Vergnügen leben, und gewohnt sind, Leute um sich zu haben, welche für sie denken, ohne daß sie selbst sich damit bemühen dürften. Er sah also wohl ein, daß es ihm nicht schwer fallen würde, Mißtrauen und Eifersucht gegen einen Mann bei mir zu erwecken, der nicht ermangeln würde, große Thaten zu verrichten, besonders da er in seiner Abwesenheit volle Gelegenheit hatte, ihm Schlingen zu legen.

Philokles sah bei seiner Abreise wohl ein, was ihm bevorstand.

›Vergiß nicht,‹ sagte er zu mir, ›daß es hinfort nicht mehr in meiner Macht stehen wird, mich zu vertheidigen, daß du jetzt nur meine Feinde hören wirst, und daß, indem ich mein Leben für dich wage, ich Gefahr laufe, statt aller Belohnung, deinen Unwillen auf mich zu laden.‹

›Du irrst,‹ antwortete ich, ›Protesilaus urtheilt ganz anders von dir, als du von ihm. Er lobt, er achtet dich. Er glaubt, daß du es verdienest, daß man dir die wichtigsten Geschäfte anvertraue. Er würde mein Zutrauen verlieren, wenn er es unternehmen sollte, nachtheilig von dir zu reden. Geh, fürchte nichts, und laß es bloß deine Sorge sein, mir nützliche Dienste zu leisten.‹

Er reiste ab und ließ mich in einem sonderbaren Zustande zurück.

Ich verhehle dir nicht, Mentor, daß ich deutlich einsah, wie nöthig es mir sei, mehrere Personen zu haben, mit denen ich mich besprechen könnte, und daß es sowohl für meine Ehre, als für den glücklichen Fortgang der Geschäfte sehr nachtheilig sein würde, wenn ich mich nur einer einzigen anvertraute. Die Erfahrung hatte mir gezeigt, daß die weisen Rathschläge des Philokles mich vor vielen gefährlichen Fehltritten bewahrt hatten, wozu mich der trotzige Protesilaus verleitet haben würde. Es entging mir nicht, daß Philokles eine Rechtschaffenheit und Geradheit besaß, welche dem Protesilaus mangelte; aber ich hatte den letztern einen gewissen entscheidenden Ton annehmen lassen, dem ich beinahe nicht mehr widerstehen konnte. Ich war es müde, mich immer im Gedränge zwischen diesen zwei Menschen zu befinden, die ich nicht vereinigen konnte, und bei diesem Unvermögen, mir zu helfen, war ich schwach genug zuzugeben, daß das Wohl des Staats minder gut besorgt wurde, nur damit ich freier athmen könnte. Aber ich hütete mich wohl, mir selbst den schimpflichen Grund zu gestehen, der mich zu diesem Verfahren bestimmte; aber eben dieser Grund, dessen Bewußtsein ich mir zu verhehlen suchte, wirkte nichts desto weniger im Grunde meines Herzens, und war die wahre Triebfeder von allem, was ich that.

Philokles überfiel die Feinde, trug einen vollkommenen Sieg über sie davon, und eilte zurück, um den bösen Anschlägen seiner Feinde, die er fürchtete, zuvor zu kommen. Aber Protesilaus, der noch nicht Gelegenheit gefunden hatte, mich zu hintergehen, schrieb ihm, daß ich wünschte, daß er zur Verfolgung seines Sieges eine Landung auf der Insel Karpathus vornehmen möchte. Er hatte mich auch wirklich überredet, daß die Eroberung dieser Insel keine Schwierigkeit habe. Aber er ließ es dem Philokles bei dieser Unternehmung an vielen nöthigen Dingen fehlen, band ihm durch die Befehle, die er ihm zugehen ließ, die Hände, und legte dadurch der Ausführung seines Vorhabens mancherlei Hindernisse in den Weg.

Er bediente sich zu seinen Absichten eines treulosen Dieners, den ich um mich hatte. Dieser gab auf alles Acht, um es ihm zu hinterbringen, ob sie sich gleich den Schein zu geben wußten, daß sie in keiner genauen Verbindung mit einander ständen, und in ihren Gesinnungen nicht mit einander übereinstimmten.

Dieser Mensch nannte sich Timokrates. Eines Tages kam er zu mir, um mir im Vertrauen zu sagen, daß er eine Sache entdeckt habe, die gefährliche Folgen haben könnte.

›Philokles,‹ sagte er, ›geht damit um, sich deiner Flotte zu bedienen, um sich zum Könige der Insel Karpathus aufzuwerfen. Die Anführer des Heers sind ihm ergeben; die Krieger hat er durch seine Geschenke, noch mehr aber durch die verderbliche Zügellosigkeit gewonnen, die er ihnen gestattet. Sein Sieg hat ihn übermüthig gemacht. Hier ist ein Brief, den er an einen seiner Freunde über sein Vorhaben schrieb, sich zum König zu machen. Nach einem so offenbaren Beweis kann man nicht mehr daran zweifeln.‹

Ich las diesen Brief, und glaubte die Hand des Philokles zu erkennen. Aber er war ein Werk des Protesilaus und des Timokrates, die seine Züge vollkommen nachzuahmen gewußt hatten. Dieser Brief erweckte das größte Erstaunen bei mir; ich las ihn zu wiederholten Malen. Indem mein verwirrter Geist alle die rührenden Beweise von Uneigennützigkeit und Treue, die er mir gegeben hatte, durchlief, war es mir unmöglich, mich zu überreden, daß er von Philokles sei. Aber was konnte ich machen? Wie hätte ich einem Briefe widerstehen können, in welchem ich die Züge des Philokles so deutlich zu sehen glaubte.

Als Timokrates sah, daß sein Betrug gewirkt hatte, ging er noch weiter.

›Darf ich dich wohl,‹ sagte er stockend, ›auf einen Ausdruck dieses Briefes aufmerksam machen? Philokles schreibt seinem Freunde, er dürfe kein Bedenken tragen, mit Protesilaus von einer Sache zu sprechen, die er aber nur mit einem geheimen Zeichen andeutet. Es kann nicht anders sein, Protesilaus und Philokles sind einverstanden; sie haben sich mit einander versöhnt, um gegen dich zu arbeiten. Du weißt, daß Protesilaus dir anlag, den Philokles gegen die Karpathier zu senden. Seit einiger Zeit hat er aufgehört, nachtheilig von ihm zusprechen, was er sonst that. Statt dessen ertheilt er ihm Lobsprüche, und entschuldigt ihn bei jeder Gelegenheit. Sie kamen zuletzt wieder zusammen, und begegneten sich mit Achtung. Man kann nicht daran zweifeln, Protesilaus und Philokles haben mit einander ihre Maßregeln genommen, um das eroberte Karpathus unter sich zu theilen. Du siehst selbst, daß er diese Unternehmung gegen alle Regeln der Klugheit betrieb, und daß er deine Flotte der Gefahr bloßstellte, zu Grunde gerichtet zu werden, nur um seine Ruhmsucht zu befriedigen. Kannst du wohl glauben, daß er die ehrgeizigen Entwürfe des Philokles befördern würde, wenn sie noch Feinde wären? Nein, nein, es ist keinem Zweifel mehr unterworfen, daß diese zwei Leute im Einverständniß mit einander handeln, um sich zu einem hohen Ansehen empor zu schwingen, und vielleicht gar den Thron umzustürzen, auf dem du herrschest. Ich weiß, daß ich mich durch alles das, was ich dir gesagt habe, ihrer Rache aussetze, wenn du trotz meiner aufrichtigen Warnung die Gewalt noch ferner in ihren Händen lassest; aber ich achte es nicht; genug, daß ich dir die Wahrheit gesagt habe.‹

Diese letzten Worte des Timokrates machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich zweifelte nicht mehr an der Verrätherei des Philokles, und ich war mißtrauisch gegen Protesilaus, den ich für seinen Freund hielt. Timokrates wiederholte mir immer:

›Wenn du wartest, bis Philokles die Insel Karpathus erobert hat, so wird es nicht mehr in deiner Macht stehen, seine Anschläge zu hintertreiben. Eile, dich seiner Person zu versichern, so lange es noch Zeit ist.‹

Die tiefe Verstellung der Menschen erfüllte mich mit Abscheu. Ich sah Niemand mehr, dem ich mich hätte anvertrauen können. Nachdem ich den Philokles als einen Verräther erkannt hatte, fand ich keinen Menschen mehr auf der Erde, an dessen Tugend ich noch hätte glauben können. Ich war entschlossen, den Treulosen ohne Verzug hinrichten zu lassen, aber ich scheute den Protesilaus und ich wußte nicht, wie ich in Ansehung seiner verfahren sollte. Ich fürchtete mich, ihn schuldig zu finden, und ich konnte doch auch kein Vertrauen mehr in ihn setzen.

Endlich, von Unruhe umher getrieben, konnte ich nicht mehr an mich halten, und sagte ihm, daß Philokles mir verdächtig geworden sei. Er schien über diese Aeußerung betroffen. Er stellte mir seine Rechtschaffenheit, seine Mäßigung vor. Er erhob die Dienste, die er mir geleistet hatte; kurz er that alles, was mich auf den Gedanken bringen mußte, daß er in sehr gutem Vernehmen mit ihm stehe.

Timokrates verlor seiner Seits keinen Augenblick, mich auf diese Eintracht aufmerksam zu machen, und mich zu bewegen, den Philokles aus dem Wege zu räumen, so lange es noch Zeit sei, mich seiner zu versichern.

Du siehst, theurer Mentor, wie unglücklich das Loos der Könige ist, und wie sehr die Menschen mit ihnen spielen, selbst in den Augenblicken, wenn sie zu ihren Füßen liegen, und vor ihnen zu zittern scheinen.

Ich dachte nicht klüger handeln, und die Maßregeln des Protesilaus nicht besser vereiteln zu können, als daß ich den Timokrates insgeheim zu der Flotte schickte, damit er den Philokles aus dem Wege räumen ließe. Protesilaus trieb seine Verstellung aufs Höchste, und betrog mich um so leichter, da er sich ganz das Ansehen eines Menschen zu geben wußte, der sich betrügen ließe. Timokrates reiste ab, und fand den Philokles in großer Verlegenheit, wie er die Landung bewerkstelligen sollte. Es mangelte ihm an allem; denn Protesilaus, der nicht wissen konnte, ob der erdichtete Brief seinen Freund stürzen würde, wollte sich durch die Fehlschlagung eines Unternehmens, von dem er mich so viel hatte hoffen lassen, noch einen andern Ausweg offen erhalten, weil er wußte, daß ich dadurch sehr gegen Philokles aufgebracht werden würde.

Aber so viele Schwierigkeiten dieser Krieg auch hatte, so besiegte sie doch Philokles durch seinen Muth, seine Einsichten und die Liebe, die seine Krieger für ihn hatten. Das ganze Heer erkannte, daß diese Landung eine Verwegenheit sei, und einen üblen Ausgang für die Kreter haben würde; aber jeder bemühte sich, dem Philokles einen glücklichen Erfolg zu sichern, nicht anders, als wenn sein Leben und sein Glück an denselben gebunden wäre. Jeder schätzte sich glücklich, sein Leben zu jeder Stunde für einen Anführer zu wagen, der so klug und so bemüht war, die Liebe seiner Untergebenen zu gewinnen.

Das Unternehmen, einen Feldherrn in der Mitte seines Heeres, das ihn leidenschaftlich liebte, zu ermorden, war für den Timokrates mit der größten Gefahr verbunden. Aber zügelloser Ehrgeiz ist blind. Timokrates fand nichts unmöglich, wenn es darauf ankam, den Protesilaus zu befriedigen, mit welchem er nach dem Tode des Philokles unumschränkt über mich zu herrschen hoffte, und Protesilaus verabscheute einen rechtschaffenen Mann, dessen bloßer Anblick ein geheimer Vorwurf seiner Verbrechen war, und der, wenn er mir die Augen öffnete, alle seine Entwürfe zu Schanden machen konnte.

Timokrates brachte zwei Hauptleute auf seine Seite, welche immer um Philokles waren. Er verhieß ihnen große Belohnungen in meinem Namen. Alsdann sagte er zu Philokles, daß er geheime Aufträge von mir an ihn habe, die er ihm aber nur in Gegenwart dieser zwei Hauptleute anvertrauen dürfte. Philokles schloß sich mit ihnen und dem Timokrates ein. Hier versetzte Timokrates dem Philokles einen Dolchstich. Der Stoß glitschte ab und drang nicht tief ein. Philokles, ohne zu erschrecken, riß ihm den Dolch aus der Hand, und bediente sich desselben gegen ihn und die beiden andern; zu gleicher Zeit rief er um Hülfe. Man eilte herbei, man stieß die Thür ein; man befreite den Philokles aus den Händen der drei Mörder, die in der Verwirrung ihres Geistes ihn nicht mit hinlänglicher Entschlossenheit angefallen hatten. Sie wurden ergriffen, und sie würden auf der Stelle zerrissen worden sein, so ergrimmt war das Heer, wenn Philokles die Menge nicht zurückgehalten hätte. Sodann nahm er den Timokrates auf die Seite, und fragte ihn mit Sanftmuth, was ihn bewogen habe, eine so schwarze That zu begehen. Timokrates, der den Tod fürchtete, eilte, den Befehl zu zeigen, den ich ihm schriftlich gegeben hatte, den Philokles zu tödten; und da jeder Verräther eine niederträchtige Seele hat, dachte er an nichts, als sein Leben zu retten, und entdeckte dem Philokles die ganze Verrätherei des Protesilaus.

Philokles, voll Entsetzen über die Bosheit der Menschen, faßte einen Entschluß, der von seiner Mäßigung zeigte. Er erklärte dem ganzen Heer, daß Timokrates unschuldig sei. Er brachte ihn in Sicherheit, und schickte ihn nach Kreta zurück. Er übertrug die oberste Gewalt bei dem Heer dem Polimenes, den ich in dem von meiner Hand geschriebenen Befehl zum obersten Befehlshaber ernannt hatte, wenn Philokles getödtet sein würde. Endlich ermahnte er die Krieger, mir treu zu bleiben, und bestieg in der Nacht eine leichte Barke, welche ihn nach der Insel Samos brachte, wo er in ruhiger Stille arm und einsam lebt, und sich mit Verfertigung von Bildsäulen beschäftigt, die ihm seinen Unterhalt gewähren. Er will nichts mehr von den betrügerischen und ungerechten Menschen, am wenigsten aber von Fürsten hören, welche er für die verblendetsten und unglücklichsten unter allen Sterblichen hält.«

Hier unterbrach Mentor den Idomeneus, und sagte zu ihm:

»Sage mir, blieb dir die Wahrheit lange verborgen?«

»Nein,« erwiederte Idomeneus, »ich lernte nach und nach die Ränke des Protesilaus und Timokrates kennen. Es entstanden sogar Mißhelligkeiten unter ihnen; denn lasterhafte Menschen haben Mühe, sich miteinander zu vertragen. Ihre Uneinigkeit ließ mich vollends die Tiefe des Abgrunds sehen, in den sie mich gestürzt hatten.«

»Aber,« sagte Mentor, »faßtest du denn nicht den Entschluß, dich von diesen Menschen los zu machen?«

»Ach!« antwortete Idomeneus, »weißt du denn nicht, wie schwach die Fürsten sind, und in welcher schwierigen Lage sie sich befinden? Wenn schlechte und freche Menschen, welche die Kunst verstehen, sich unentbehrlich zu machen, sich einmal ihres Herzens bemächtiget haben, so ist es auf immer um ihre Freiheit geschehen. Diejenigen werden am besten von ihnen behandelt, die sie am meisten verachten; diese überhäufen sie mit Wohlthaten. Ich verabscheute den Protesilaus, und doch ließ ich ihm die Gewalt, die ich ihm anvertraut hatte. Unselige Verblendung! Ich bildete mir etwas darauf ein, ihn zu kennen, und doch hatte ich nicht Stärke genug, ihm die Macht wieder zu entziehen, die ich ihm gegeben hatte. Außerdem war er ein Mann nach meinem Geschmack, gefällig, sinnreich, meinen Leidenschaften zu schmeicheln, und voll Eifer, mir zu dienen; und dann hatte ich noch einen Grund, meine Schwachheit bei mir selbst zu entschuldigen. Echte Tugend war mir immer fremd geblieben, weil ich die Kunst nicht verstand, rechtschaffene Leute ausfindig zu machen, um ihnen meine Geschäfte anzuvertrauen. Ich hielt die Tugend für einen schönen Traum, und glaubte nicht, daß sie auf Erden zu finden sei.

›Wozu dient es,‹ sagte ich bei mir selbst, ›sich mit großem Geräusch aus den Händen eines lasterhaften Menschen los zu machen, wenn man es nicht verhindern kann, in die Hände eines andern zu fallen, der weder uneigennütziger noch redlicher ist als jener?‹

Mittlerweile war die Flotte, die Polimenes befehligte, zurückgekehrt. Ich dachte nicht mehr an die Eroberung der Insel Karpathus, und Protesilaus konnte sich nicht so sehr verstellen, daß ich nicht bemerkt hätte, wie sehr es ihn kränkte, den Philokles zu Samos in Sicherheit zu wissen.«

Nochmals unterbrach Mentor den Idomeneus, und fragte ihn, ob er nach Entdeckung einer so schändlichen Verrätherei dem Protesilaus noch immer das Ruder seines Staats gelassen habe.

»Ich haßte die Geschäfte allzusehr,« antwortete Idomeneus, »und bekümmerte mich zu wenig um die Regierung, als daß ich mich von ihm hätte losmachen können Ich hätte die Einrichtung ändern müssen, die ich einmal zu meiner Bequemlichkeit gemacht hatte, ich hätte einen Andern in dem Gang der Geschäfte unterrichten müssen. Hierzu fühlte ich mich nicht stark genug, und lieber verschloß ich die Augen vor den Ränken des Protesilaus. Ich tröstete mich damit, daß ich einigen vertrauten Personen offenbarte, daß mir seine Treulosigkeit nicht verborgen sei, und ich bildete mir ein, nur halb hintergangen zu sein, da ich wußte, daß man mich hinterging. Ich ließ es den Protesilaus sogar von Zeit zu Zeit merken, daß mir das Joch beschwerlich sei, das er mir auflegte. Ich machte mir nicht selten das Vergnügen, ihm zu widersprechen, irgend eine seiner Anordnungen öffentlich zu tadeln, und gegen seine Meinung zu entscheiden; aber da er meine Gemächlichkeit und Trägheit kannte, so setzte ihn mein Unwille in keine Verlegenheit. Er verlor den Muth nicht. Bald sprach er in einem dreisten und entscheidenden Tone, bald zeigte er sich nachgiebig und einschmeichelnd. Vorzüglich, wenn er sah, daß ich ihm zürnte, verdoppelte er seine Bemühungen, neue Vergnügungen für mich ausfindig zu machen, um meine Kraft zu lähmen, oder mich in irgend eine Sache zu verwickeln, wobei er Gelegenheit hätte, sich mir nothwendig zu machen, und mir zu zeigen, wie sehr ihm meine Ehre am Herzen liege.

Ob ich gleich immer gegen ihn auf der Huth stand, ließ ich mich doch immer wieder durch die Art, wie er meinen Leidenschaften schmeichelte, bethören. Er half mir in allen meinen Verlegenheiten. Er wußte mir ein furchtbares Ansehen zu verschaffen. Kurz, ich konnte mich nicht entschließen, ihn zu verderben. Aber indem ich ihn bei seinem Ansehen schätzte, machte ich es allen rechtschaffenen Leuten unmöglich, mir meinen wahren Vortheil zu zeigen. Von diesem Augenblick an wurde in meinem Rathe kein freies Wort mehr gehört. Die Wahrheit entfernte sich von mir.

Der Irrthum, der den Fall der Fürsten bereitet, rächte sich an mir; ich wurde dafür gestraft, den Philokles dem grausamen Ehrgeiz aufgeopfert zu haben. Selbst diejenigen, welche dem Staate und meiner Person am eifrigsten ergeben waren, glaubten nach einem so schrecklichen Beispiel keine Verpflichtung mehr auf sich zu haben, mich aus dem Irrthum zu reißen. Es war mir sogar bange, daß die Wahrheit die Wolke, die auf meinen Augen lag, durchbrechen, und trotz der Schmeichler bis zu mir gelangen möchte. Denn, da ich keine Kraft mehr hatte, ihr zu folgen, so konnte ich auch ihr Licht nicht ertragen. Auch fühlte ich, daß sie mir nur die peinlichsten Gewissensbisse verursachen würde, ohne daß ich deßwegen im Stande wäre, mich aus den verderblichen Schlingen loszuwinden, die mich umgeben hatten. Meine Sinnlichkeit und die Gewalt, die Protesilaus unvermerkt über mein Gemüth erlangt hatte, machten, daß ich gewissermaßen daran verzweifelte, mich je wieder in Freiheit setzen zu können. Ich suchte das Schimpfliche meines Zustandes sowohl vor mir selbst, als vor andern zu verbergen.

Du kennest, theurer Mentor, den elenden Stolz und den falschen Ehrgeiz, in welchem die Fürsten aufwachsen. Nie wollen sie Unrecht haben, und hundert Fehler werden begangen, um einen einzigen zu bedecken. Sie lassen sich lieber ihr ganzes Leben hindurch betrügen, als daß sie geständen, sich betrogen zu haben, oder sich entschlössen, von ihrem Irrthum wieder zurückzukommen. In diesem Zustande befinden sich schwache und sorglose Fürsten, und ich war gerade in diesem Falle, als ich zu der Belagerung von Troja abreisen mußte.

Bei meiner Abreise übertrug ich die Besorgung der Geschäfte dem Protesilaus. Er verwaltete sie während meiner Abwesenheit mit Stolz und Unmenschlichkeit. Ganz Kreta seufzte unter seiner Tyrannei, aber niemand unterstand sich, mir zu sagen, daß mein Volk unterdrückt würde. Man wußte, daß ich das Licht der Wahrheit scheute, und daß ich alle diejenigen der Grausamkeit des Protesilaus Preis gab, die es unternehmen, gegen ihn zu sprechen. Aber je weniger man es wagte, seine Klagen laut werden zu lassen, je mehr griff das Uebel um sich.. In der Folge zwang er mich sogar, den tapfern Merion zu verstoßen, der mein rühmlicher Begleiter während der trojanischen Belagerung gewesen war. Er war eifersüchtig auf ihn geworden, wie auf alle diejenigen, welche ich liebte, und welche sich durch Verdienste auszeichneten.

Alle meine Leiden, theurer Mentor, entsprangen aus dieser Quelle. Es war nicht sowohl der Tod meines Sohnes, der die Kreter zur Empörung reizte, als die Rache der Götter, die gegen meine Fehltritte erzürnt waren, und der Haß des Volks, den Protesilaus auf mich geladen hatte. Als ich das Blut meines Sohnes vergoß, waren die Kreter längst meiner gewaltthätigen Regierung müde; ihre Geduld war erschöpft, und der Abscheu vor dieser letztern Handlung brachte nur dasjenige an das Licht, was schon lange in den Herzen verborgen gewesen war.

Timokrates folgte mir zur Belagerung von Troja, und gab dem Protesilaus insgeheim von allem schriftliche Nachricht, was er bemerkte. Ich sah wohl, daß ich ein Gefangener war, aber ich suchte es vor mir selbst zu verhehlen, weil ich die Hoffnung aufgab, dem Uebel abzuhelfen. Als die Kreter bei meiner Rückkehr sich empörten, waren Protesilaus und Timokrates die ersten, welche sich flüchtig machten. Ohne Zweifel würden sie mich verlassen haben, wenn ich nicht genöthigt gewesen wäre, fast zu gleicher Zeit mit ihnen zu entfliehen. Man kann darauf zählen, Mentor, daß Menschen, die sich im Glück übermüthig zeigen, im Unglück schwach und verzagt sind. Sie wissen sich nicht mehr zu helfen, sobald sie ihres Ansehens beraubt sind. Sie werden eben so kriechend, als sie vorher trotzig waren, und in einem Augenblick gehen sie von dem einen Aeußersten auf das andere über.

»Wie kommt es aber,« sagte Mentor, »daß du diese zwei Menschen, deren schlechte Gesinnungen du von Grund aus kennest, noch immer um dich duldest? Es befremdet mich nicht, daß sie dir gefolgt sind, da sie für sich nichts Besseres thun konnten, und ich erkenne es sogar als eine großmüthige Handlung, daß du ihnen in deinem neuen Reich einen Zufluchtsort vergönntest; aber warum lässest du dich noch immer von ihnen beherrschen, nachdem du diese fürchterlichen Erfahrungen gemacht hast?«

»Du weißt nicht,« antwortete Idomeneus, »wie wenig Nutzen weichliche, leichtsinnige und gedankenlose Fürsten aus allen ihren Erfahrungen ziehen. Sie sind mit allem unzufrieden, und doch fehlt es ihnen an Muth, auch nur das geringste Verbrechen zu verbessern. So viele Jahre von Gewohnheit waren für mich eben so viele eiserne Ketten geworden, welche mich an diese zwei Menschen fesselten. Sie ließen sie mich keinen Augenblick aus dem Gesichte. Seitdem ich in diesem Lande bin, haben sie mich zu allen den Verschwendungen verleitet, die du gesehen hast. Sie haben diesen Staat, der erst im Werden ist, erschöpft. Sie haben mir diesen Krieg zugezogen, der ohne dich mein Untergang gewesen wäre, und bald würde ich in Salent dasselbe unglückliche Schicksal erfahren haben, das mich in Kreta betroffen hat. Aber du hast mir endlich die Augen geöffnet; du hast den Muth, der mir fehlte, in meine Seele gehaucht, mich in Freiheit zu setzen. Ich weiß nicht, wie du diese Veränderungen in mir gewirkt hast, aber seitdem du hier bist, ich fühle es, bin ich ein anderer Mensch geworden.«

Mentor fragte hierauf den Idomeneus, wie sich Protesilaus bei dieser Veränderung der Sachen benehme?

»Nichts kann schlauer sein,« antwortete Idomeneus, »als sein Betragen seit deiner Ankunft. Anfangs unterließ er nichts, auf eine verdeckte Weise Mißtrauen gegen dich bei mir zu erwecken. Er sprach nicht gegen dich, aber es kamen Leute zu mir, welche mir sagten, daß man Ursache habe, von diese zwei Fremdlingen alles zu befürchten. ›Der eine,‹ sagten sie, ›ist der Sohn des hinterlistigen Ulysses; der andere ein verschlossener Mann von tiefen Einsichten. Sie schweifen lange schon in der Welt umher; wer weiß, ob sie keine Anschläge auf dieses Reich gemacht haben? Diese Abenteurer erzählen selbst, daß sie in allen Ländern, wohin in sie kamen, große Verwirrung angerichtet haben. Dieser Staat ist erst entstanden, er hat noch keine Festigkeit, die geringste Erschütterung kann ihn umstürzen.‹

Protesilaus selbst sagte nichts, aber er bemühte sich, mir das Gefährliche und Uebertriebene aller dieser Veränderungen zu zeigen, die ich auf dein Anrathen vorgenommen habe. Er mischte meinen eigenen Vortheil ins Spiel.

›Wenn du deinem Volke Ueberfluß verschaffst,‹ sagte er, ›so wird es nicht mehr arbeiten. Es wird trotzig, unlenksam, zur Empörung geneigt werden. Die Kraftlosigkeit allein und das Elend macht die Menschen geschmeidig, und setzt sie in die Unmöglichkeit, der obersten Gewalt zu widerstehen.‹

Oft versuchte er, seinen alten Einfluß wieder zu erlangen, um mich nach seinem Gefallen lenken zu können, und verbarg seine Absichten unter einem Schein von Eifer für meine Dienste.

›Du schwächst die königliche Gewalt,‹ sagte er zu mir, ›wenn du deinem Volke diese Erleichterungen verschaffest, und verursachst ihm selbst dadurch einen unersetzlichen Schaden: denn seine eigene Ruhe erfordert, daß man es in der Niedrigkeit erhalte.‹

Auf alles dieses antwortete ich ihm, daß es mir nicht bange sei, das Volk im Gehorsam zu erhalten, und daß ich dies dadurch zu erreichen hoffte, daß ich mir seine Liebe erwürbe; daß ich bei aller Erleichterung, die ich ihm verschaffte, nichts von meinem Ansehen vergäbe, daß ich die Schuldigen mit unerbittlicher Strenge bestrafte, endlich, daß ich den Kindern eine gute Erziehung geben ließe, und das ganze Volk an eine genaue Zucht bände, um es an ein einfaches, nüchternes und arbeitsames Leben zu gewöhnen.

›Wie?‹ sagte ich, ›sollte es nicht möglich sein, einem Volke Unterwürfigkeit zu lehren, ohne es den Hungertod sterben zu lassen? Welche Unmenschlichkeit! welche barbarische Staatskunst! Wie viele Völker sieht man, die unter einer sanften Regierung leben, und ihren Fürsten doch getreu sind? Was das Volk zur Empörung reizt, ist der Ehrgeiz und der unruhige Geist der Großen eines Staats, denen man zu viel Zügellosigkeit gestattete, und deren Leidenschaften man keine Schranken setzte, die Menge Vornehmer und Niedriger, die in Wollust, Ueppigkeit und Müßiggang leben, die allzugroße Anzahl der Krieger, die die Künste des Friedens vernachlässigt haben, endlich die Verzweiflung des mißhandelten Volks, und die Grausamkeit und der Stolz der Fürsten und ihre sinnlichen Lüste, die sie unfähig machen, über alle Glieder des Staats zu wachen, um unruhigen Bewegungen zuvorzukommen; dies sind die Quellen der Empörungen, und nicht das Brot, das man den Landmann in Ruhe verzehren läßt, und das er im Schweiße seines Angesichts erwarb.‹

Als Protesilaus sah, daß ich meinen Grundsätzen unerschütterlich treu blieb, nahm er ein Betragen an, das seinem vorigen ganz entgegengesetzt war. Er fing an, selbst die Grundsätze zu befolgen, die er nicht hatte ausrotten können. Er stellte sich, von ihnen überzeugt zu sein, sie zu billigen, und es mir Dank zu wissen, daß ich ihn über dieselben aufgeklärt hätte. Er kam allen meinen Wünschen entgegen. Er beförderte die Unterstützung der Armen und ist der Erste, mir ihre Noth vorzustellen, und alle übermäßigen Ausgaben zu tadeln. Du weißt selbst, daß er dir Gerechtigkeit wiederfahren läßt, daß er Zutrauen zu dir äußert und nichts unterläßt, dir zu gefallen. Das gute Vernehmen zwischen Timokrates und Protesilaus hat angefangen abzunehmen. Jener strebt nach Unabhängigkeit; Protesilaus ist eifersüchtig darüber, und ich habe die Entdeckung ihrer Treulosigkeit zum Theil ihren Mißhelligkeiten zu danken.«

Mentor sagte lächelnd zu Idomeneus:

»Aber wie konntest du in dem Grade schwach sein, dich so lange Jahre von zwei Verräthern beherrschen zu lassen, deren Treulosigkeit dir bekannt war?«

»Ach! du weißt nicht,« antwortete Idomeneus, »wie viele Gewalt schlaue Menschen über einen schwachen und sorglosen Fürsten haben, der sich von ihnen in allen seinen Geschäften leiten läßt, und dann habe ich dir schon gesagt, daß Protesilaus jetzt alle deine Entwürfe zum gemeinen Besten billigt.«

Mit ernster Miene fuhr Mentor fort:

»Ich sehe nur,zu gut, welches Uebergewicht die Bösen über die Guten bei den Fürsten haben. Du selbst bist ein schreckliches Beispiel davon. Aber wie kannst du sagen, daß ich dir die Augen über den Protesilaus geöffnet habe, da du verblendet genug bist, die Leitung deiner Geschäfte noch immer einem Menschen zu lassen, der nicht zu leben verdient? Wisse, daß die Lasterhaften allerdings auch fähig sind, Gutes zu thun; sie thun es eben so wie das Böse, wenn es ihre ehrgeizigen Absichten befördert. Böses zu thun, kostet ihnen nichts, denn keine wohlwollenden Gesinnungen, keine Grundsätze der Tugend halten sie zurück; aber es kostet ihnen auch keine Ueberwindung, Gutes zu thun, denn ihre Verdorbenheit treibt sie an, sich durch löbliche Handlungen den Schein der Tugend zu geben, und andere dadurch zu täuschen. Eigentlich sind sie gar keiner Tugend fähig, wenn sie sie auch gleich auszuüben scheinen; wohl aber sind sie fähig, das verabscheuungswürdigste aller Laster, die Heuchelei zu ihren übrigen zu gesellen. So lange du darauf bestehest, recht zu handeln, wird Protesilaus immer bereit sein, auch so zu handeln, um sein Ansehen zu erhalten; aber sollte er nur die geringste Geneigtheit bei dir merken, etwas von der Strenge deiner Grundsätze nachzulassen, so würde er alles aufbieten, dich wieder in deine vorigen Irrthümer zu stürzen, und er würde seinen listigen Ränken und seiner herrschsüchtigen Natur wieder freien Lauf lassen. Kannst du ruhig und als ein Mann von Ehre leben, so lange ein solcher Mensch dich in seinen Banden hält, und du weißt, daß der weise und redliche Philokles arm und entehrt in der Insel Samos schmachtet?

Du siehst wohl ein, Idomeneus, daß hinterlistige und freche Menschen, welche gegenwärtig sind, schwache Fürsten nach ihrem Gefallen lenken; aber du solltest hinzufügen, daß sie noch an einem andern Uebel leiden, das nicht geringer ist, nämlich die Rechtschaffenheit und die Dienste eines entfernten Mannes leicht zu vergessen. Die Menge der Menschen, welche einen Fürsten umgeben, ist Ursache, daß kein Einzelner einen tiefen Eindruck auf sie macht. Nur das Gegenwärtige, nur was ihnen schmeichelt, wirkt auf sie. Alles Uebrige verschwindet bald aus ihrem Gedächtniß. Unter allem rührt sie die Tugend am wenigsten, weil sie, statt ihnen zu schmeicheln, ihnen widerspricht, und ihre Schwachheiten verurtheilt. Darf man sich wundern, daß niemand sie liebt, da sie nichts selbst lieben, als ihre eigene Größe und ihr Vergnügen?«



 << zurück weiter >>