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In der »Colonie Anglaise«

Drei Tage nach dem Dîner sass Talbot in der Laube des sonnigen, mit Geissblatt, Rosen und Levkoyen bewachsenen Gartens der Madame Cachin beim Kaffee, als die Ordonnanz ihm die Post brachte. Es war ein Brief von Lily. Sie gab ihm die überraschende Nachricht, dass sie sich mit dem Leutnant Iwan von Dreetz vom 9. Gardefeldartillerieregiment verlobt habe. Nach der grossen Enttäuschung, die sie erlebt, sei sie nun ziemlich glücklich. Ihr Verlobter, der seit zwei Jahren in der Heimat sei, wünsche nach der Front zu kommen. Er habe das E. K. I. noch nicht. Dem Brief lag ein zweiter von Tante Daisy bei. Dreetz sei ein sehr netter Mensch, schrieb sie, einen Meter zweiundneunzig gross, und besitze die Herrschaft Malseinen in Ostpreussen. Und ob Talbot, da Iwan durchaus ins Feld wolle, ihn nicht anfordern könne? Dann kam eine Stelle, bei der Talbot laut auflachte. Die Tante schrieb wörtlich: »Wir wüssten, dass er unter Aufsicht ist und dass ihm nichts passiert. Du wirst ihn ja nicht dorthin schicken, wo geschossen wird. Er ist ja jetzt auch ein Verwandter von Dir ...«

»Schneegans!« murmelte er. Er dachte nach. »Wir können uns den einen Meter zweiundneunzig grossen Herrn auf Malseinen ja einmal ansehen – Halloh, Holtzem!«

Leutnant Holtzem stand am Gartengitter, die Flinte auf dem Rücken, ihn zum Spaziergang abzuholen.

Am späten Abend ging er über den Flur und klopfte an der Türe Leutnant von Leerodts, der bereits zu Bette ging. »So spät noch, Herr Hauptmann?« fragte er.

»Ja, lieber Gustav, geben Sie mir mal Ihre Bibel.«

»Wollen Herr Hauptmann Busse tun, weil der Falke endgültig mit uns Schuss ist?«

»Nein, ich will was nachlesen. Und zwar einen Vorgang, zu Deutsch: einen Präzedenzfall. Für alle Dinge im Leben gibt es Vorgänge.«

»Herr Hauptmann pflegen sich aber nicht danach zu richten.«

»Das walte Gott!« Er nahm das Buch und ging damit in sein Zimmer zurück. Dort schlug er es auf, suchte eine Weile, dann hatte er die Stelle gefunden. Es war 2. Samuelis, das 11. Kapitel, Vers 18: »Er schrieb aber also in dem Brief: Stellet Uria in den Kampf, wo er am härtesten ist, und wendet Euch hinter ihm ab, dass er erschlagen werde und sterbe.«

Talbot las weiter. Er las bis zum 27. Vers: »Aber die Tat gefiel dem Herrn übel, die David getan hatte.« Dann klappte er das Buch zu und legte sich zu Bett.

Am andern Tage schrieb er an einen Bekannten im Militärkabinett und bat um die Versetzung des Leutnants von Dreetz zu seiner Abteilung.

Anfang Juli nahm die Ruhezeit in Gouy ein Ende, und die Division kam wieder an die Front, diesmal an eine ruhigere Stelle, die Gegend südlich von Lens. In der Mitte des breiten Wüstenstreifens, den der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland geschaffen hatte, lag das schwarze Land der Kohlenbergwerke, überall eingeschnitten, mit steilen Böschungen und zwanzig und mehr Meter hohen Kohlenhalden, die für die Artillerie vorzügliche Beobachtungsstellen boten. Dazwischen lagen die Trümmer und Splitter der Bohrtürme, Bauten und Hütten.

Nur bei den Kohlenzechen von Billy-Montigny waren die Halden, Bohrtürme und Maschinenhäuser unverletzt erhalten und dort standen auch die freundlichen Villen der »Colonie Anglaise«, eine Oase in der allgemeinen Zerstörung. Lens war ein Trümmerhaufen, in das vier Kilometer entfernte Hénin Liétard feuerte die englische Artillerie den ganzen Tag, kein Ort in der Gegend war, den die englischen Kanonen nicht zusammenschossen; nur nach den Zechen und in die Villenstadt von Billy-Montigny verirrte sich kein Geschoss; kein Flieger warf eine Bombe auf das geheiligte Gebiet ab; denn die Zechen waren britischer Besitz, die Villen gehörten englischen Angestellten.

Hier richteten die deutschen Gefechtsstände sich mit Vorliebe ein. Hier brauchte man keine bombensicheren Unterstände oder gar Stollen zu bauen; man wohnte in einer behaglichen Villa. Die Fenster brauchten bei Nacht nicht abgeblendet werden; die Drahtleitungen hingen friedlich und offen an den Bäumen, niemand dachte daran, sie ordnungsgemäss in die Erde zu graben. Mittags spielte im Juli 1918, zwei Kilometer hinter dem vordersten Schützengraben, eine Regimentskapelle vor dem Gefechtsstand der Infanterie!

Selbst die Tiere machten sich die englischen Grundsätze zunutze. Scharen von Rebhühnern, denen das Schiessen an den andern Teilen der Front gleichfalls unbehaglich geworden, waren in die Kolonie gezogen und bewohnten ihre Gärten. Vom Fenster seiner in einer kleinen Villa aus Eisenbeton gelegenen Wohnung konnte Talbot Rebhühner für sein Frühstück schiessen.

In einer etwas grösseren Villa auf der andern Seite der Strasse war der Stab untergebracht. Im Erdgeschoss befanden sich die drei Geschäftszimmer der Gruppe und das Kasino, oben wohnten die Offiziere.

»Herr Hauptmann werden von der Bahnhofskommandantur Douai verlangt«, meldete die Ordonnanz. Talbot brummte etwas aus Götz von Berlichingen und ging an den Apparat.

»Hier ist Leutnant von Dreetz«, meldete sich eine Stimme.

»Schön. Kommen Sie nur her.«

»Wohin bitte?« Talbot nannte den Ort. »Und wie komme ich dahin?«

»Fahren Sie mit dem nächsten Zug nach Evin-Malmaison, von da gehen Sie nach Courcelles, da liegen die Protzen der Abteilung. Von dort wird man Sie schon herjonglieren.«

»Gehorsamsten Dank.«

»Ein umständlicher Knabe«, sagte Talbot zu Leutnant Leerodt, »mich wundert nur, dass er nicht von mir wissen wollte, wie er sein Gepäck befördern soll.«

Am Nachmittag stand Talbot vor der Türe der Villa, in der der Gefechtsstand lag. Er trug einen Sommerrock, der aus einer portugiesischen Zeltbahn genäht war, mit alten verschossenen Achselstücken, eine verdrückte alte Mütze, schmierige Breeches und Wickelgamaschen. Die Zigarre im Munde, sah er gelangweilt in die Gegend.

Ein langer, junger Offizier in tadellos neuer Uniform kam die Strasse herab, einen glänzenden Gardehelm ohne Ueberzug auf dem Kopf. Vor dem übel aussehenden Mann am Tor blieb er stehen, grüsste herablassend und fragte, ohne sich vorzustellen: »Ist Herr Hauptmann Freiherr von Latour zu sprechen?«

Talbot sah ihn an. »Ein Meter zweiundneunzig«, sagte er zu sich selbst, und laut: »Das weiss ich nicht. Gehen Sie nur hinein!«

Der andere ging ins Haus, wo er von Leerodt und Koch empfangen wurde. »Wann kann ich mich beim Kommandeur melden?« fragte er aufgeregt.

»Sind Sie ihm denn nicht begegnet? Er wollte nur vor die Türe gehen, eine Zigarre rauchen. Er wird jedenfalls gleich wieder kommen.«

»Vor der Türe stand jemand, der kaum wie ein Offizier aussah, so miserabel war er angezogen«, sagte Dreetz.

Koch und Leerodt tauschten einen Blick. »Sooo?« fragte Koch, »Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ich habe ihn nach Latour gefragt.«

»Und was hat er darauf gesagt?«

»Er hat mich hierher gewiesen.«

»Unglücklicher!« rief Leerodt düster.

»Unglückseliger! Das war er!«

Dreetz liess den Unterkiefer hängen und sah Leerodt bestürzt an.

Die Türe ging auf; ein brauner Jagdhund drängte sich herein, hinter ihm erschien der so unfein aussehende Herr, den Iwan draussen gesprochen hatte.

»Leutnant von Dreetz, von der Ersatzabteilung neunten Gardefeldartillerieregiments zur Abteilung versetzt«, stellte er sich vor.

Talbot gab ihm lächelnd die Hand: »Willkommen im Rheinland. Aber was wollen Sie hier mit dem Zylinder?«

»Ich dachte ...«, stammelte Iwan.

»Das müssen Sie nicht tun; vom Denken bekommt man Runzeln. Schaffen Sie sich schleunigst einen Stahlhelm an und schicken Sie das Möbel heim.«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann.«

Zwei Stunden später führte er Dreetz ins Kasino. Im Eintreten blieb Talbot einen Augenblick vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich vergnügt. »Das vollkommene Frontschwein«, dachte er.

»Sie können vorläufig beim Stab arbeiten«, sagte er zu dem jungen Mann.

Aber zwei Tage später fragte Leerodt bereits, ob man den Leutnant von Dreetz nicht zur dritten Batterie versetzen könnte, wo gerade zwei Offiziere fehlten.

»Nee, das tue ich Bickel nicht an«, sagte Talbot. »Beim Stab sind auch Fehlstellen. Er stört sie wohl bei der Arbeit?« Der Adjutant nickte. »Wissen Sie was? Machen Sie ihn zum Munitionsoffizier, das wird er schliesslich können.«

Leerodt erklärte dem jungen Mann seine Aufgabe: »Sie tragen die Munitionsmeldungen der unterstellten Batterien in diese Liste ein. Die Zugänge addieren Sie, die verschossene Munition ziehen Sie ab. Dann rechnen Sie noch eine gewisse Reserve Munition ab. Verstanden?« Iwan sah ihn fragend an. »Man hat immer zu wenig Munition«, fuhr der Adjutant fort, »und jede Stelle, jede Batterie, jede Gruppe, der Artilleriekommandeur, bis hinauf zur Armee behält sich eine gewisse schwarze Reserve zurück. Das ist doch klar?! Ihre Meldung ist immer nur relativ richtig, und wenn die höheren Stellen rückfragen, dann antworten Sie mit eiserner Stirn, dass eben soviel Munition verschossen ist. Verstanden? Das nennt man Kriegsmathematik.«

»Zu Befehl«, sagte Dreetz.

Aber nach wenigen Tagen waren die Munitionsmeldungen der Gruppe in so hoffnungsloser Verwirrung, dass die Tätigkeit dem Leutnant von Dreetz schleunigst wieder entzogen und dem Unteroffizier übergeben wurde, der sie früher besorgt hatte.

Talbot nahm ihn als seinen Begleiter auf den Inspektionsgängen zu den Batterien und Beobachtungsstellen mit. Iwan tat sein Möglichstes; aber vor jedem Geschoss, das hoch über seinem Kopf ins Hinterland flog, verbeugte der lange Mensch sich tief. Wenn gar, wie es bei den Morgenspaziergängen vorkam, obwohl die Feuertätigkeit zur Zeit keine lebhafte war, eine Granate in der Nähe einschlug, dann half nichts: er legte sich der Länge nach auf den Boden oder duckte sich hinter der nächsten Traverse.

Die Mannschaften sahen es mit grosser Heiterkeit.

Eines Abends trank Talbot in seinen Zimmern eine Flasche Burgunder mit Leerodt. »Hören Sie mal«, sagte er, »da schreibt mir meine Kusine, mit der das Unglückswurm verlobt ist, ich soll mich nicht so exponieren. Der Bengel muss Wunderdinge berichtet haben, wo hier doch gar nichts los ist.«

»Wir sollten i h n möglichst bald los zu werden trachten!« sagte der Adjutant.

»Wäre mir auch das liebste, aber es geht nicht. Halten Sie die Klappe über das, was ich jetzt sage. Ich habe ihn übernommen und ich will, dass dem Idioten unter keinen Umständen was passiert. Es wäre unmoralisch, und ... le jeu ne vaut pas la chandelle. Ich habe vielleicht auch etwas gut zu machen. – Und ich kann ihn nicht fortloben. Die Leute, zu denen er käme, würden mich für verrückt halten. Es bleibt nichts übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Er bleibt, sagen wir, zur besonderen Verwendung des Kommandeurs.«

»Eine Art Hofnarr?«

»Dazu ist er zu dämlich.« Talbot war aufgestanden und ging rauchend auf und ab. »Es muss eben sein«, sagte er. »Also gehen Sie mir fein säuberlich um mit dem Knaben Absalon!«

Am folgenden Tag, Talbot und der Adjutant sassen bei der Arbeit, als eine fremde Stimme vor der Türe »Verdammt nochmal!« rief, und »Das ist ja eine merkwürdige Begrüssung!«

Beide eilten hinaus und fanden einen erschütterten Infanteriemajor, der sich den Helm zurechtdrückte; zu seinen Füssen lagen die zerfallenen Teile eines Blumenkohls. »Major Gorseck«, stellte er sich vor.

Talbot wusste, dass er den neuen Kommandeur des Regimentes Ludwig Franz vor sich hatte. »Latour« sagte er.

»Werfen Sie allen Besuchern zunächst Gemüse an den Kopf?«

»Haben Herr Major den Blumenkohl an den Kopf bekommen? – Wer macht denn diese heillose Schweinerei?!« wetterte Talbot, sich umsehend.

»Lassen Sie nur, lieber Hauptmann. Meine Leutnants machen auch ihren Unfug. Es ist ja nichts geschehen. Ich wollte Ihnen meinen freundnachbarlichen Besuch machen und gleich auch etwas mit Ihnen besprechen.«

»Leerodt«, sagte Talbot, »lassen Sie aus meiner Wohnung von meinen Pullen holen, auch zwei Gläser und was zum Rauchen. Ich muss mich doch dem Herrn Major gegenüber wieder ehrlich machen. Dann stellen Sie mal fest, wer es war.«

»Bitte, machen Sie keine Staatsaktion daraus!« rief der Major lachend.

Als die beiden Kommandeure allein waren, sagte der Major: »Das Armeekommando in Lille will wissen, welche englische Divisionen der Division Schroeder gegenüberstehen. Wir müssen daher Gefangene machen. Es handelt sich um ein kleines Patrouillenunternehmen.«

»Und Sie brauchen die Unterstützung der Artillerie. Es ist mir ein Vergnügen.« Sie besprachen sogleich die Einzelheiten. »Ich bitte nur um Stillschweigen, Herr Major«, fügte Talbot hinzu. »Wenn ich mit meiner Schwarzmunition nicht auskomme, dann muss ein Mehrverbrauch als 'Sperrfeuer auf Anforderung der Infanterie' gerechtfertigt werden. Ich bitte also, dass das zweite Bataillon Ludwig Franz, sobald es den englischen Graben erreicht hat und die Stosstrupps zurückkommen, rote Leuchtkugeln schiesst.«

»Endlich mal ein vernünftiger Artillerist!« sagte Major Gorseck und schlug sich auf den Schenkel.

»Wir tun das sehr gern, Herr Major, nur möchte ich, dass wir die Sache unter uns katholischen Pfarrerstöchtern abmachen. Wenn erst die vornehme Welt in Flers mitwirkt, wenn die Division und der Arko vorher erfahren, dann will es der selber leiten, dann kommen die Rückfragen, Ratschläge, Befehle, dann müssen wir ein halbes Dutzend Zeichner hinsetzen und Skizzen in fünffacher Ausfertigung vorher einreichen, dann sollen wir uns unauffällig einschiessen, Stäbe kommen nach vorn und beobachten, und die Engländer merken drei Tage vorher, dass wir etwas vorhaben!«

Der Major war ganz seiner Ansicht und mit allem einverstanden.

»Und das Unternehmen heisst Blumenkohl. Wie?« sagte Talbot noch, und der andere lachte herzlich. Gleichzeitig ging die Tür auf, und herein trat, mit offenem Munde verlegen lächelnd, der lange Iwan, hinter ihm Leerodt und eine Ordonnanz mit Flasche und Gläsern.

»Hier ist der Attentäter, Herr Major!« meldete der Adjutant.

Iwan verbeugte sich. »Ich bitte gehorsamst um Entschuldigung«, stotterte er. »Ich hatte Herrn Major verkannt.«

»Schon gut«, lachte der Major.

Talbot unwirsch.

»Ach, Herr Hauptmann, Leutnant Holtzem hatte mich so geärgert!«

»Also verschwinde Geist, den ich nicht rief!«

Dreetz verschwand. Aber wie auf Kommando fanden sich, ohne jeden ersichtlichen Grund, Leutnant Koch, dann Holtzem, der Unterarzt Braun und schliesslich Doktor Pfeilschmidt ein. Sechs Flaschen standen plötzlich auf dem Tisch, und im Nebenzimmer rief Leerodt bei der Infanterie an, die Herren vom Stab sollten sich sofort in der Gruppe Latour bei ihrem Kommandeur melden. Eine Viertelstunde später waren die Infanteristen zur Stelle. Der Ordonnanzoffizier, ein baumlanger Schwedter Dragoner, erwies sich als alter Bekannter Talbots. Man begrüsste sich, ein improvisiertes Abendbrot wurde aufgetragen, und das Unternehmen begann mit einer wirklichen Verbrüderung der sonst gegeneinander so misstrauischen Bruderwaffen.

Immer höher stieg die Stimmung. Iwan wurde zur Strafe verurteilt, in seinem breiten Ostpreussisch Verse aufzusagen; der Unterarzt bediente wieder das Grammophon, und als der Apparat quäkte:

»Sur le pont
D'Avignon
Tout le monde danse!«

da fasste Talbot den Major um die Taille, und unter jubelndem Beifall ihrer Stäbe tanzten sie den »Tanz der Kommandeure«.

»Fandango!« rief der Dragoner.

»Nein, es ist Twostep, oder vielleicht Boston«, sagte Leerodt unschlüssig.

Iwan sass betrunken und traurig in einer Ecke. »Woran denkste, Iwan?« fragte Talbot im Vorübergehen.

»An Lily!« erwiderte Dreetz weinerlich.

»Leerodt!« rief Talbot, »nimm vor dem Iwan Dich in Acht! He thinks too much, such men are dangerous!«

»Zu Befehl«, sagte Leerodt und stand stramm.

Als der Major sich spät in der Nacht mit den Worten »Kinder, war es nett bei Euch!« verabschiedete, suchte auch Talbot seine Wohnung auf. Aber von jenseits der Strasse tönte noch lange Musik und Gesang herüber.

Am andern Morgen ging Talbot nicht in die Stellungen, und erschien erst gegen acht Uhr im Kasino zum Kaffee. Selbst sein Jagdhund, der mit ihm kam, kniff die Rute ein. Am Frühstückstisch sassen der Arzt, Leutnant Koch und Iwan. Er hatte Schrammen im Gesicht, die linke Hand verbunden und sah niedergeschlagen aus.

»Iwan, haben Sie sich mit dem Gurkenhobel rasiert?« fragte Talbot über den Tisch.

»Nein, Herr Hauptmann«, antwortete Iwan mit Grabesstimme.

»Wie sehen Sie denn aus?«

»Ich bin die Treppe heruntergefallen.«

»Und die Pfote?«

»Ich bin ihm unglücklicherweise beim Nachhausegehen auf die Hand getreten«, sagte Leutnant Koch lachend.

»Ja«, sagte Iwan kläglich, »und nachher haben sie mir englisches Röhrenpulver ins Zimmer geworfen und angezündet. Das saust herum wie Schwärmer.«

»Schrecklich!« Talbot trank seinen Kaffee. »Das Zeug haben sie heute durch den falschen Strumpf gegossen«, brummte er.

Doktor Pfeilschmidt schlug ihm einen kleinen Spaziergang vor.

»Insch'Allah, Hakim«, erwiderte er, »lüften wir uns!«

»Ich muss den Braun doch stauchen«, sagte der Arzt unterwegs. »Das Aas hat dem Iwan heut Nacht die Schrammen mit Pebeco eingeschmiert, und auf einen gewissen Teil haben sie ihm mit Jod ein Gesicht gemalt.«

»Warum lässt der Trottel sich das gefallen?« sagte Talbot lachend.

Kurz vor dem Mittagessen erschien Leerodt in Talbots Villa mit Unterschriften. »Also heut Abend steigt Blumenkohl!« sagte er.

»All right. Batterien verständigt?«

»Zu Befehl. Chefs um vier Uhr zur Besprechung gebeten.«

»Sonst noch was?«

»Herr Hauptmann dürfen nicht böse sein. Wir haben bei Tisch einen Unsinn mit Iwan vor.«

»Aber macht es nicht zu doll!«

»Herr Hauptmann dürfen nicht erschrecken. Es geschieht nichts.«

Sie gingen ins Kasino hinüber.

Als man sich zu Tische setzte, sagte Koch mit ernster Miene: »Ist Herrn Hauptmann nicht auch die erhöhte Feuertätigkeit der Beefs aufgefallen?«

»Natürlich«, antwortete Talbot. »Ich habe doch nichts sonst zu tun, als darauf zu lauern. Wir werden Iwan mal zum RTR schicken.«

Iwan erbleichte. Im nächsten Augenblick erfolgte eine Detonation. Die Fensterscheibe zerbrach klirrend, und Iwan schrie laut auf. »Ich bin getroffen!« rief er.

»Na, na, na! Immer mit die Ruhe!« sagte Talbot, der auch nicht genau wusste, was vorgegangen war, aber jemanden den Finger auf den Mund legen sah. Iwan war aufgesprungen und griff schmerzlich nach seiner Rückseite.

Leutnant Koch hob etwas vom Boden auf. »Ein Granatsplitter«, sagte er, »er ist noch ganz heiss!«

»Ein ganz schwerer Einschlag!« schrie Leerodt, »mindestens ein Zweiundfünfziger!«

»Kinder, regt Euch nicht auf!« sagte Talbot gelassen, »die Engländer müssen auch mal schiessen, sie wollen den Krieg ja auch gewinnen.«

Iwan aber stand noch immer da und zitterte am ganzen Leibe.

»Herr von Dreetz!« sagte Talbot sehr vornehm, »Sie sind verlobt. Sie müssen sich Ihrer Braut erhalten. Tauschen wir die Plätze; ich setze mich ans Fenster. Auf diesem Platz sind Sie gegen Splitter jedenfalls mehr gesichert.«

Er stand auf, und Iwan setzte sich wortlos auf den angebotenen Stuhl. Er nahm an dem Gespräch, das rasch und laut geführt wurde – alle erzählten Witze und lachten heftig – kaum Teil und ging bald auf sein Zimmer.

»Wie habt Ihr's denn gemacht?« fragte Talbot.

»Ganz einfach«, sagte Leerodt, »Wöbke hat Handgranaten hinterm Haus vergraben und mit einer Schnur abgezogen, und Braun hat eine Scheibe eingeschlagen und den heissgemachten Splitter Iwan ans Kreuz geworfen. – Der Kerl soll nicht petzen!«

In dieser Nacht donnerten die Batterien in den Kohlenzechen um die »Colonie Anglaise«. Talbot legte eine Feuerglocke um das englische Grabenstück, gegen das die Kompanien von Ludwig Franz vorgingen. Als die roten Leuchtkugeln aufstiegen, verlegte er das Feuer allmählich zurück.

Die Stosstrupps waren in den Graben gedrungen und wieder zurückgekehrt, ehe das englische Sperrfeuer richtig eingesetzt hatte. Mit ganz geringen eigenen Verlusten brachten sie etwa hundertvierzig Gefangene von »The Kings Liverpool Regiment« zurück, darunter drei Offiziere.

Die Gruppe Latour meldete am andern Morgen lediglich, dass sie auf durch rote Leuchtkugeln erfolgte Anforderungen der Infanterie im Abschnitt Méricourt Sperrfeuer abgegeben hatte.

Major Gorseck erhielt den langersehnten »Pour le mérite«, und Talbot freute sich. Das Unternehmen »Blumenkohl« hatte jeden gewünschten Erfolgt gehabt.


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