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Scherbengericht

Die Reise dauerte beinahe vierzehn Tage. In Baden-Baden angekommen, setzte Talbot sich mit der Division in Verbindung, die sein Vater geführt hatte, und fuhr dann nach Kolmar. Am Bahnhof erwartete ihn der Divisionsadjutant Hauptmann Brehmer und brachte ihn in seinem Kraftwagen nach dem Soldatenfriedhof bei Gebweiler. Das Grab lag unter dunklen Kiefern. Auf dem einfachen grauen Stein stand die Inschrift:

Generalleutnant Friedrich Anton Freiherr Latour
von Saint-Aubin
geb. 3.8.1850, gef. 5.10.1917

Talbot stand lange davor; dann drückte er Hauptmann Brehmer die Hand und fuhr mit ihm ins Divisionsstabsquartier. Seines Vaters Nachfolger, Generalleutnant Krohne, sprach ihm sein Beileid aus, der Adjutant übergab ihm Waffen, Koffer und was sonst seinem Vater gehört hatte, und begleitete ihn wieder zur Bahn. Unterwegs erzählte er ihm, dass der alte Herr immer unvorsichtiger geworden war. Er sei ohne Begleitung schon früh am Morgen mit seinem Knotenstock losgezogen, habe bei irgendeinem K. T. K. im Unterstand Kaffee getrunken und sei dann stundenlang durch die Gräben gewandert. Die Leute hätten ihn genau gekannt und geliebt. In der letzten Zeit hatten sie sich angewöhnt, der Exzellenz ganz ungeniert ihre persönlichen Wünsche mitzuteilen. Auf einem derartigen Spaziergange sei es geschehen; bei einem Horchposten hatte er sich im Graben aufgerichtet, um besser zu sehen, und war auf dreissig Schritt Entfernung von einem Alpenjäger durch die Brust geschossen worden und sofort tot gewesen.

Talbot bedankte sich nochmals und stieg in den Zug, der ihn nach Strassburg brachte; von dort fuhr er nach Baden-Baden zurück. Einige Tage blieb er in dem Hause, das nun ihm gehörte. Aber der Aufenthalt stimmte ihn trüb. Die Stuben waren voll Erinnerungen, die Wäsche strömte den leichten Lavendelgeruch aus, den er seit der Kinderzeit kannte. An der Wand stand der Tod wie ein Kammerhusar, und Talbot verliess das Haus nach drei Tagen wieder. Auch die weinerlichen Reden und Klagen des Fräulein Bastian waren ihm unerträglich geworden; er kaufte sich los, indem er ihr versicherte, dass alles beim Alten bleibe und sie das Hauswesen weiter leiten sollte. Die Abwicklung der Nachlassangelegenheiten übertrug er einem Rechtsanwalt und reiste dann nach Berlin.

Der Novemberregen prasselte an die Scheiben des Zuges. Talbot dachte über die letzten Jahre nach. Die Mutter, Hans Lucchesi, Winterfeldt, andere Namen folgten, nun auch der Vater, waren dahin gegangen. Alle Opfer dieser Jahre. Wofür? Für wen? Für einen grossen Friedrich zu sterben mag guter Sport sein. Sport? – Sport. Die Achse des Wagens ratterte: Sport, Sport, Sport ... Es gefiel ihm nicht. Sie ratterte etwas anderes: Baron Latour de Saint-Aubin, Baron Latour de Saint-Aubin. Ja, dachte Talbot, er liegt unter den Tannen am Hartmannsweilerkopf und kommt nicht wieder. Er liegt unter den Bäumen, die er mehr liebte als die Menschen: »Dene Danne kannscht alles verzähle, die schwätze nit!« hatte der Vater oft gesagt.

Talbot versuchte zu lesen. In einer illustrierten Zeitung, die er am Bahnhof gekauft, sah er Porträts von Leuten, die er kannte, deren Bedeutung ihm zweifelhaft erschien. Und plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn selbst überraschte: »Es ist gut, wenn Generale fallen«, sagte er sich. »Nur sichtbare Opfer können unsere Kaste erhalten, bei den unerhörten Blutopfern der Heloten ... Heloten?« dachte er weiter. »Sind das anständige Gedanken? Krieg ist Sport, und Soldaten sind Heloten? Junge, Junge, wenn das nur richtig ist?!«

In Frankfurt musste er umsteigen. Auf einem Reklamebild in der Bahnhofshalle sah er Bismarcks Kopf; »Der fehlt«, dachte er. »Im Himmel, wenn Allah Geschichtsstunde hält, wird er sagen müssen: Entschuldigen Sie, Herr Allah, als der Weltkrieg durchgenommen wurde, habe ich gerade gefehlt ...«

In Berlin meldete Talbot sich bei dem General von Karthausen, der sein Lehrer auf der Kriegsakademie gewesen war und nun bei einer Kommandobehörde eine entscheidende Stellung hatte. Der General war ganz weiss geworden; aber das Gesicht war geistvoll wie immer, und die braunen Augen des alten Herrn leuchteten so jugendlich wie einst. Talbot hatte eine Bitte an ihn. Er wollte seine alte Abteilung übernehmen; die im Artois lag. Mit dem noch frischen Lungenschuss, sagte er, könne er die Tropen und die »Schweinerei« unten bei den Türken nicht ertragen.

»Das geht auf keinen Fall, lieber Latour«, sagte der General, »begabte Leute, wie Sie, müssen jetzt im Generalstab bleiben. Es sind in letzter Zeit so viele Leute mit ungenügender Vorbildung hineingekommen, dass das Niveau hoffnungslos gedrückt ist.«

»Es sind viele Dinge hoffnungslos, Herr General, aber darüber spricht man lieber nicht.«

»Mit mir können Sie sprechen, Latour.«

»Die Lage in der Türkei zum Beispiel scheint mir auf die Dauer hoffnungslos. Auch unsere Art unten ist nicht die richtige. Auch die in der Heeresgruppe F nicht. Ich spreche ganz unpersönlich. Es ist die Art, die mein alter Herr die neupreussische nannte. Erst wird viel zu forsch aufgetreten und dann bei Widerstand wird zurückgewichen. Die Oesterreicher gehen viel geschickter mit den Türken um als wir. Bei uns sind eben höfische Gewohnheiten und Gesichtspunkte massgebend geworden.«

»Schütten Sie nicht das Kind mit dem Bade aus?«

»Ich fürchte nein, Herr General. Und da ist noch anderes. In Damaskus sass ich eines Abends mit einem k. u. k. Major und einem Obersten von uns im Hotel Victoria. Als der Oesterreicher so weit war, dass er offen sprach, sagte er, die Monarchie werde doch zerfallen, es würde ein Fehler nach dem anderen gemacht; man hätte jetzt Frieden schliessen müssen. Und ist denn bei uns ein wirkliches Vertrauen vorhanden?«

»Lieber Latour, mir ist schwer genug ums Herz, machen Sie mir es nicht noch schwerer!«

»Können Herr General nicht dafür sorgen, dass ich meine Abteilung wieder bekomme?«

»Das will ich nicht. Ich möchte Sie zunächst hier haben. Ich habe eine bestimmte Arbeit für Sie im Sinn. Etwa für zwei bis drei Monate; dann können wir ja sehen:« Er sagte Talbot Genaueres, und dieser musste einwilligen. »Ich mache die Sache noch heute mit dem Kabinett fest«, schloss der General und entliess ihn mit einem freundlichen Händedruck.

Am Nachmittag des gleichen Tages machte Talbot einen Besuch bei seiner Tante, einer Schwester seiner Mutter. Es war ein Besuch, zu dem er sich nicht ohne Zögern entschlossen hatte.

Er klingelte an ihrem Hause, das im Westen in einem Garten stand, das Mädchen in schwarzem Kleid und weissem Häubchen öffnete, und er stand in dem grossen Salon der Tante, in dem die Seidenmöbel nach englischer Art im Zimmer umher, nicht an den Wänden standen. Die Tante, eine grosse, schlanke, vornehme Frau mit blondgefärbtem Haar und matten, ausdrucksvollen Zügen, trat ein. Er küsste ihr die Hand. Sie sprach ihm ihr Beileid zum Tode des Vaters aus, klagte über den Tod ihrer Schwester, weinte ein wenig, und fragte nach allen möglichen gemeinsamen Bekannten.

Talbots neunzehnjährige Kusine erschien in der Türe, gross, schlank, blond, mit blauen Augen und schwarzen Brauen. Als sie Talbot im Zimmer sah, fuhr sie zurück, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und eilte hinaus.

»Was hat die Lily?« fragte ihre Mutter.

Für Talbot war der Auftritt peinlich. »Ja, was hat sie nur?« fragte er.

Nach einer Weile erschien das Mädchen wieder, begrüsste ihn und redete, als ob nichts vorgegangen wäre.

Man sprach von den Friedensverhandlungen. »Unsere Leute sind verrückt«, sagte Talbot, »sie wollen das ganze besetzte Gebiet behalten.«

»Das ist doch das mindeste!« erwiderte die Tante.

»Kennst Du das Land, Tante?«

»Nein, aber mein Mann schreibt ...« Die Gründe ihres Gatten wurden aus ihren Ausführungen nicht ganz klar. Lily ergänzte sie sehr gescheit.

»Ich weiss, Onkel Theo ist ein Genie«, sagte Talbot, »aber ich habe meine eigene Meinung. Reden wir also lieber nicht von Politik.«

Ein kurzes Schweigen trat ein; dann fragte die Tante: »Wie steht denn Deine Sache mit der Prinzess?«

»Reden wir doch lieber von Politik, Tante Daisy«, antwortete Talbot, ärgerlich lachend: »Bleiben wir in Oberost.«

Lily wurde blutrot. Um abzulenken, fragte sie: »Was macht übrigens der nette Graf Lucchesi, der immer mit Dir war?«

»Sieht sich die Kartoffeln von unten an. Von Zeit zu Zeit ist er tot.«

»Wie?«

»Gefallen«, sagte Talbot hart.

»Oh ... ich wusste nicht ... es tut mir sehr leid ...«

»Lilychen«, sagte Talbot, als die Tante sie einen Augenblick allein liess, »ich dachte, die Kindergeschichten wären vergessen. Sei mir nicht böse, dass ich gekommen bin. Ich habe sonst niemanden in Berlin, und nach dem Tode der Mutter wollte ich doch einmal ...«

»Ich wüsste nicht, warum Du nicht hierher kommen solltest«, sagte sie kühl, wurde aber wieder rot dabei.

Ein Schweigen entstand zwischen ihnen, und als die Tante wieder eintrat, verabschiedete Talbot sich und ging unruhig fort. Dass man durch Scherzen mit einem Kinde es so gewinnen und verstören und soviel Unheil anrichten kann, hätte er nicht gedacht. »Nun, bis ein anderer kommen wird«, sagte er sich schliesslich, »dann wird's vorbei sein. Hoffentlich kommt er bald!«

Es waren graue Wochen in dem wintertrüben, vom Krieg, seiner Dauer und Not erschöpften Berlin. Eine stete Spannung und eine kaum unterdrückte Klage war in der ganzen Stadt zu fühlen. Talbot verbrachte die Tage in Akten und Schreibereien, die Gedanken bei der Aufgabe, die im Osten zu lösen war, für die er einen unbedeutenden Beitrag zu leisten hatte, während die Gedanken weiter gingen und ihn in die hoffnungslose Stimmung brachten, mit der er hergekommen war.

Bis er endlich seine Akten einschloss, den Mantel umhing, den Kragen aufstülpte und durch den dunklen Tiergarten nach Hause ging.

Einmal lud er Kameraden in seine Wohnung und trank die ganze Nacht mit ihnen – er hatte Wein aus seinem Keller in Baden-Baden kommen lassen, – aber es freute ihn nicht.

Manchmal machte er der Tante einen kurzen Besuch, da sie es wünschte. Lily blieb abweisend. Einmal traf er sie in Schwesterntracht. »Ich wusste gar nicht, dass Du rote Kreuzotter bist!« sagte er scherzend.

»Jemand, der sich wie Du, nur für hohe Personen interessiert ...« erwiderte sie.

»Lass das doch, Lily!«

»Ach! ach! ach!« sagte sie.

Dann war sie plötzlich wieder einmal sehr freundlich gegen ihn, hörte angeregt zu, lachte zu seinen Witzen und Erzählungen, drückte ihm beim Fortgehen die Hand und sagte: »Komm bald wieder, Tally!«

Das Spiel des Mädchens fing an, ihn zu interessieren. Und sie gefiel ihm gut.

So war es Mitte Dezember geworden, und die Weihnachtsvorbereitungen wurden getroffen. »Du bist doch bei uns?« hatte die Tante gesagt, und er hatte angenommen.

Endlich war der Vorfriede in Brest-Litowsk geschlossen, und die Arbeit geringer geworden. Eines Vormittags sass Talbot in seinem Dienstzimmer, als der Fernsprecher auf seinem Schreibtisch läutete. Es meldete sich General von Karthausen. »Herr von Latour, können Sie sich gleich mal zu mir bemühen?«

»Zu Befehl.«

Talbot hängte den Hörer an, bürstete seine Litewka ab, schloss die Akten, an denen er arbeitete, in dem eisernen Schrank ein, und ging über den Korridor nach dem Zimmer des Generals.

Das Gesicht des alten Herrn schien bekümmert. Mit einer Handbewegung bot er ihm einen Sitz an und begann: »Ich habe eine sehr peinliche Sache mit Ihnen zu besprechen. Es hat Mühe gekostet zu erreichen, dass zunächst ich mit Ihnen darüber sprechen durfte.«

»Was denn?« fragte Talbot bestürzt.

»Hören Sie!« Der General spielte nervös mit einem roten Aktendeckel, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Von Angehörigen der Friedensdelegation in Brest ist eine merkwürdige Meldung eingegangen. Die Form ist vorsichtig, aber der Sinn ist, dass Sie beschuldigt werden, mit einem Mitglied der russischen Friedensdelegation in Verbindung zu stehen.«

»Das ist aufgelegter Unsinn, Herr General. Ich kenne keine Seele dort. Und Herr General wissen ja ganz genau, was ich bearbeite ...«

»Damit kommen wir nicht weiter, Latour. Der Chef wollte Sie vom Dienst suspendieren, bis die Sache geklärt ist. Sie werden vom Kriegsgerichtsrat Dr. Neuberger vernommen werden, ebenso Ihr Bursche.«

»Was wird mir denn vorgeworfen?«

»Vielleicht ist das Ganze nur ein Missverständnis. Kennen Sie eine gewisse Anastasia Sigismundowna?«

»Ja.« Talbot begann etwas zu ahnen.

»Stehen Sie in Verbindung mit ihr?«

»Nein, Herr General. Ich habe die Verbindung vor nahezu einem Jahr abgebrochen.«

»So, so? Woher kannten Sie diese Dame?«

»Aus dem Feldzug in Polen. Sie studierte dann in Berlin.«

»Wollen Sie mir nicht Näheres sagen?«

»Mein Gott, Herr General, die Sache ist furchtbar gewöhnlich, und ganz ungefährlich. Sie war – ich muss das jetzt wohl sagen, obgleich es mir grässlich ist – meine Geliebte. Die Sache nahm ein Ende, weil sie irgendwelche politische Aufgaben zu haben glaubte, in die sie mich nicht eingeweiht hat. Ich habe sie auch nicht danach gefragt. Ich hielt das für eine Art Gesellschaftsspiel, das bei den Intellektuellen im Osten nun einmal Mode ist. Im Herbst 1916 reiste sie nach der Schweiz und verlangte, dass ich über eine Deckadresse in Berlin mit ihr korrespondieren sollte. Das habe ich im Hinblick auf die bestehenden Vorschriften abgelehnt. Ehe ich nach der Türkei fuhr, erhielt ich dann noch eine Karte von ihr, die eigentlich unverschämt war und in der sie mir mitteilte, sie fahre nach Petersburg. Das ist so ziemlich alles.«

»So? Also diese Anastasia hat den Rittmeister von Wilding, den sie hier in Berlin durch Sie kennen gelernt hat, in Brest-Litowsk angesprochen, er sollte Grüsse an Sie bestellen, und ihn gebeten, einen Brief an Sie – der sich übrigens bei den Akten befindet – ohne Zensur an Sie zu besorgen. Sie scheint bei den Bolschewiken ein grosses Tier zu sein.«

»Dafür kann ich doch nichts.«

»Der Brief scheint auch harmlos. Der Blutrichter hat ihn auf geheime Mitteilungen mit chemischer Tinte untersuchen lassen. Uff! So erscheint die Geschichte doch in einem andern Licht.«

»Zu Befehl.«

Der General sah vor sich hin. Dann sah er Talbot an. »Wie aber verhält es sich mit dem Geld?«

»Geld?«

»Das war die grösste Enttäuschung für mich, Herr Hauptmann ...«

»Darf ich nun meinerseits gehorsamst um Aufklärung bitten?« sagte Talbot in schärferem Ton.

»Ja, ich darf eigentlich der gerichtlichen Untersuchung nicht vorgreifen. Es wird sich ja hoffentlich alles aufklären. Es werden noch andere Personen vernommen.«

»Herr General sprachen soeben von Wilding. Der ist ein bekannter Schwätzer. Den Knaben werde ich mir wahrscheinlich vor die Pistole holen.«

»Ruhe!« sagte der General. »Ich weiss, Wilding ist kein grosser Schwalbenfänger. Es sind aber noch andere Zeugen da.«

»Und wer sind sie, wenn ich fragen darf?«

Der General zögerte. »Ich weiss nicht, ob ich sie nennen darf. Es sind keine Offiziere.« Der Fernsprecher läutete. Der General nahm den Hörer zur Hand, meldete sich, und sass eine Weile zuhörend da. Dann sprach er in den Apparat: »Er ist gerade bei mir, Exzellenz, und hat mir genau das gleiche gesagt. Die Sache scheint sehr aufgebauscht zu sein, wie ich Euer Exzellenz gegenüber gleich vermutete ... Ja ...Zu Befehl.« Er hing an. »Also, Latour,« sagte er, zu Talbot gewendet, »der Chef sagt mir eben, die Vernehmung Ihres Burschen habe ergeben, dass Sie die Dame in Polen kennen gelernt und bei einer Verwundung von ihr gepflegt worden sind. In Berlin hätten Sie sie getroffen und seien auch mit ihr ausgegangen. Von intimeren Beziehungen wusste er nichts.«

»Er hat ja auch nicht die Lampe gehalten!«

»Ihre Kodderschnauze haben Sie noch, Latour!«

»Gott sei's gedankt. Aber gestatten mir Herr General nun noch eine Frage: was ist das mit dem Geld?«

»Man will festgestellt haben, dass Sie erhebliche Beträge in russischer Währung für deutsches Geld umgewechselt haben, und zwar durch eben diese Dame ...«

»Ich war nicht dabei, Herr General.«

»Es hat sich bereits aufgeklärt. Ihr Bursche hat bei gefallenen Russen ein paar hundert Rubel gefunden und, ohne Ihr Wissen, die Dame gebeten, das Geld in deutsches umzutauschen, und sie hat es getan.«

»Das war mir unbekannt.«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Wie aber kann jemand das erfahren haben?«

»Ein Kollege jener Anastasia Sigismundowna, ein Genosse Rapport oder so ähnlich, hat ihm ganz nebenher erzählt, Sie hätten grosse Beträge russischen Geldes gehabt und durch die Dame einwechseln lassen.«

»Er wird Rappaport heissen. Das war die Adresse, über die die Briefe nach der Schweiz gehen sollten: O. Rappaport, Berlin NW 40, Calvinstrasse, wenn ich mich recht erinnere.«

»Wie aber kommt der Mann zu seiner Behauptung?«

»Das weiss ich nicht, Herr General. Aber wer weiss denn was die Leute gehört, und was sie daraus gemacht haben. Ich könnte noch einige Schlüsse ziehen, die ich mir aber lieber erspare.«

»Die ganze Sache tut mir furchtbar leid, Latour!«

»Mir auch, Herr General.«

»Sie werden jetzt noch durch den Kriegsgerichtsrat vernommen werden.«

»Als Angeschuldigter?«

Der General sah verlegen vor sich nieder. »Ich kann es nicht ändern«, sagte er.

»Dann reiche ich noch heute meinen Abschied ein.«

»Aber warum denn? Das Verfahren wird ganz sicher eingestellt. Es ist nur mehr eine Formsache. Sehen Sie, der Chef hatte Bedenken, mir überhaupt zu erlauben, dass ich in ein schwebendes Verfahren eingriff ...«

»Ich habe meinerseits Bedenken«, unterbrach ihn Talbot formlos, »mit Leuten, die mir derartiges zutrauen ...«

»Seien Sie still, Latour. Das ist Bockmist, was Sie da reden. Bleiben Sie bis über die Feiertage zu Hause. Den Urlaub erwirke ich Ihnen. – Und ich bin ja auch noch da.«

Talbot schwankte. »Darf ich es mir bis morgen überlegen?« fragte er.

»Ja. Kopf hoch, Latour! Seien Sie vernünftig! Die Sache ist schnell vergessen.«

Er reichte ihm die Hand, Talbot ergriff sie, verbeugte sich und ging in sein Zimmer. Dort rief er die Registratur an und sagte, er gehe früher fort und sei in seiner Wohnung zu erreichen. Dann nahm er seinen Mantel und ging durch den winterlich kahlen Tiergarten in mühsam beherrschter Erregung nach Hause. Viele Gedanken fuhren ihm durch den Kopf.

In der Wohnung erwartete ihn Wöbke mit schuldbewusstem Gesicht. »Komm' mal herein«, sagte Talbot.

Wöbke trat ein und stand bei der Türe stramm. Talbot stand an den Tisch gelehnt.

»Gut dass Du die Wahrheit gesagt hast. Wo hattest Du die Rubel her?«

»Von der Dragonerattacke, Herr Hauptmann.«

»Von Menschenin? – Wieviel waren es?«

»Achthundert, Herr Hauptmann.«

»Und warum hast Du mir's nicht gemeldet?«

»Ich wusste nicht, was Herr Hauptmann davon denkt ...«

»Na, 's ist gut.«

Wöbke ging wieder. Talbot sah sich um. Auf dem Tisch lag ein Brief. Er war von Lily. Sie schrieb:

»Lieber Talbot: Ich bitte Dich nun doch, nicht mehr zu uns zu kommen. Komme vor allem nicht am Weihnachtsabend. Du wirst meinen Wunsch verstehen und einen Vorwand finden, – auch wenn Du nicht weisst, was Du angerichtet hast. Ich wünsche Dir sonst alles Gute und ein frohes Fest! Lily.«

»Dies ater, dies irae«, murmelte Talbot.

Er setzte sich aufs Sofa und sah vor sich hin. Dann zündete er sich eine Zigarre an. Nach einer Weile stand er auf und ging auf und ab. Er musste über den Mann draussen nachdenken. Vor anderthalb Jahren hatte er ihn nach Baden-Baden mitgenommen, weil Wöbke kein Elternhaus mehr hatte; dann war er ihm nach der Türkei gefolgt und nach Berlin; er hatte die Beförderung zum Unteroffizier abgelehnt, um bei ihm Bursche bleiben zu dürfen; Talbot, den diese Treue rührte, hatte ihm den Unterschied der Löhnung, den er dadurch verlor, ersetzt. Und doch hatte ihn der Mann in die grösste Gefahr seines Lebens gebracht, er und das Mädchen, das er mehr als andere geliebt hatte. Das Leben war sonderbar.

Der Weihnachtsabend kam. Wöbke hatte seine Geschenke erhalten, der Tisch war abgeräumt; ein Rotweinpunsch, den Talbot selbst sich gebraut hatte, dampfte in der Bowle. Er sass allein unter der Lampe, trank den Punsch aus einem alten Kristallglas und las Horaz dazu; dann griff er zu einem Band Shakespeare. Zuletzt warf er auch den auf den Tisch und rief Wöbke herein.

»Da, steck Dir eine Zigarre an.« sagte er, »und hilf mir den Punsch aussaufen.«

»Zu Befehl!«, sagte Wöbke und setzte sich auf die äusserste Kante des Stuhls.

»Hast wohl noch ein schlechtes Gewissen wegen der Rubel, was?«

»Zu Befehl.«

»Lass jetzt das 'zu Befehl'. Ihr tut ja doch nicht, was man Euch befiehlt. Und sag' mir mal, wie war das eigentlich, als Du zum Kriegsrichter geholt wurdest?«

»Kurz nachdem Herr Hauptmann am Morgen gegangen waren, klingelte es an der Wohnung, und es kamen zwei Zivilisten. Sie waren gleich frech, und ich wollte sie hinauswerfen; da zeigte der eine ein rotes Papier und sagte, ich sollte sofort mitkommen, sonst würde ich verhaftet. Dann wurde ich zu dem Kriegsgerichtsrat geführt. Der war ganz lächerlich.«

»So? warum denn?«

»Er brüllte mich gleich an: 'wir wissen alles'; ich wusste nicht, was er wollte, und das hat er dann gemerkt. Da hat er mich allerlei gefragt über Herrn Hauptmann und ... Fräulein Doktor. Ich habe nur gesagt, was ich gesehen habe. Er kann mir doch nicht befehlen, dass ich sage, was ich mir denke?«

»Du hast vollkommen recht«, sagte Talbot lächelnd.

»Dann wurde er auf einmal sehr freundlich und fragte, ob wir eine Villa in Baden-Baden hätten, und ob Herr Hauptmann viel Geld ausgibt, und solche Sachen.«

»So? Und was noch?«

»Ob Herr Hauptmann viel Karten spielt, um Geld. Da hab' ich gelacht und gesagt, dass Herr Hauptmann nicht mal einen Jungen von einem König auseinander kennt.«

»So?«

»Ja. Ich dachte, das wird sicher so ein Quatsch sein. Mein Hauptmann tut doch nichts Unrechtes. Und das, was ich gesagt habe, kann nichts schaden.«

Talbot schwieg einen Augenblick, und Wöbke stand auf. Dann schenkte Talbot beide Gläser voll und sagte: »Na, denn Prost, mein Junge! Und schönen Dank dafür, dass Du mir die Treue hältst!«

»Prost, Herr Hauptmann!« sagte Wöbke und trank.

»Wir bleiben nun nicht mehr lange in der Papierkneipe in Berlin.«

»Geht es wieder zu den Türken?«

»Nee, ich will sehen, dass wir unsere alte Abteilung wieder bekommen.«

»Das wäre auch das Beste.«

»Und nun wollen wir schlafen gehen.«

Am 27. Dezember fuhr er zum General von Karthausen zum Vortrag.

»Seine Exzellenz wird noch heute die Einstellung des Verfahrens anordnen. Es ist alles vollständig aufgeklärt.« Talbot verbeugte sich.

»Es tut mir sehr leid, Latour, dass es überhaupt soweit gekommen ist. Es war ein Missverständnis. Mir dürfen Sie nicht grollen.«

»Im Gegenteil, Herr General, ich danke für das bewiesene Wohlwollen. Man kommt zu so einer Sache, wie die Jungfer zum Kind.«

Der General lächelte.

»Ich werde nun nicht mehr hier gebraucht. Ich bitte gehorsamst, dass man mir eine Abteilung im Westen gibt, oder ein Jägerbataillon. Ich halte es hier nicht mehr aus.«

»Ich kann mir ja manches denken, Latour. Ich werde zusehen, ob ich Ihre alte Abteilung für Sie herausschlagen kann.«

»Meinen gehorsamsten Dank, Herr General!«

Drei Tage später kam der Fernspruch, dass Talbot seine alte Abteilung tatsächlich erhalten hatte, und der Befehl: »Hauptmann Freiherr von Latour ist nach Valenciennes in Marsch zu setzen.«

Er reiste sofort ab, ohne sich im Hause der Tante zu verabschieden.


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