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Der weisse Falke

Immer weiter schoben sich die deutschen Heeressäulen nach Osten vor. Am 26. August war Bialystok gefallen. Die Batterie Latour, ein winziges Teilchen in den Massen, die sich auf russischer Erde ausbreiteten, befand sich auf dem Vormarsch nach Grodno. In endlosen Kolonnen zog die Division auf den Sandwegen durch die Kiefernwälder hin.

Talbot ritt rauchend neben dem Hauptmann Kuntze; er schien gedrückter Stimmung und sprach nicht viel. Auf seine Frage erfuhr Kuntze, dass er schlechte Nachrichten von zu Hause hatte; der Vater hatte ihm geschrieben, dass es seiner Mutter nicht gut ginge. Von ihr selbst hatte er ein Päckchen Zigarren und Fliegenklappen für die Ohren seiner Stute bekommen, die er erbeten hatte, aber ohne eine Zeile von ihrer Hand.

»Ihre Frau Mutter ist Irin?« fragte Kuntze.

»Ja, eine geborene O'Flanagan, nicht etwa eine gewisse O'Flanagan.«

Kuntze, der eine Schwäche für den Adel hatte und den Gotha in- und auswendig kannte, wollte etwas über die Familie wissen.

»Ein berühmtes Geschlecht«, sagte Talbot, »selbst mit Robert Bruce, dem Sieger von Bannockburn, sind wir versippt.«

»So, so?«

»Es gibt ein irisches Kirchenlied:

Das schönste Hemd im Land hat an
Die Margaret O'Flanagan.«

»Jetzt schnurren Sie wieder, Latour. Das ist doch kein Kirchenlied!«

»Doch! die Iren sind so komische Leute.«

»Komisch ist, dass Sie noch dazu vom Vater her Franzose sind!«

»Warum komisch? Meine Familie ist nach der Aufhebung des Edikts von Nantes nach der Pfalz ausgewandert. Dann dienten wir teils Oesterreich, teils Pfalz-Neuburg. Mein Urgrossvater war Brigadegeneral unter Murat. Mein Grossvater diente seinem badischen Landesherrn, ebenso wie mein Vater, der dann mit der Militärkonvention von 1871 'Preiss' geworden ist.«

»Ja, ja ... ich begreife vollständig«, sagte Kuntze interessiert.

»Ich hab übrigens mal gelesen, dass ein Kuntze zur Zeit Ulrichs des Heizbaren Bischof von Rixdorf in partibus infidelium gewesen ist ...«

»Jetzt wollen Sie mich wieder veräppeln, und vergessen, dass ich sozusagen Ihr Abteilungsführer bin. Menschenskind, haben Sie denn gar keine Achtung vor etwas Höherem?«

»Wirklich nicht viel. Aber im Ernst, werfen Sie mal einen Blick in den Hofkalender. In meiner badischen Heimat ist der präsumtive Thronerbe Prinz Max, der Sohn des Prinzen Wilhelm von Baden und der Prinzess Marie Maximilianowna Romanowsky, Herzogin von Leuchtenberg, also einer russifizierten Beauharnais. Verheiratet ist er mit der Herzogin Marie Luise von Braunschweig-Lüneburg, königlicher Prinzessin von Grossbritannien und Irland.«

»Hm, ja«, brummte Kuntze.

»Sehen Sie sich die anderen Fürstenhäuser an, die Koburg-Gotha, die Mecklenburger, die Braganza: alles international. Die Bezeichnung 'deutsche' Fürsten ist beinahe ein Witz. S. M. ist halber Engländer, wie ich. Allerdings teile ich seine aus Hass und Liebe gemischten Gefühle für England nicht. Mir ist es weitgehend wurscht.«

»Hm, ja, vielleicht«, brummte Kuntze wieder. Er wischte sich den Schweiss von der Stirn; es war heiss und kalter Mosel unerreichbar. –

Es war etwa am fünften Marschtage, die Division näherte sich dem Njemen, südlich von Grodno. Talbot ritt wieder einmal in der Vorhut mit dem General Rudolf. Zu beiden Seiten der Strasse war dichter Wald. Plötzlich trat, das Gewehr in der Hand, ein russischer Soldat aus dem Gebüsch.

Unwillkürlich griffen alle nach den Pistolen. Aber der Russe warf sein Gewehr klirrend auf die Strasse, grüsste stramm, die Hand an der Mütze, und sprach.

»Chutten Morrgenn, de Cherrn Schitzen! Ich wollt mer nemmich ergäben!« und einen Sack, den er in der linken Hand trug, hochhebend, fuhr er fort: »Wollen de Cherrn verleicht Pilze kaifen?«

General Rudolf lachte hell auf. »Fragen Sie den Kerl mal aus«, sagte er zu seinem Adjutanten, »und schicken Sie ihn dann nach hinten.«

Es ergab sich, dass es ein junger Jude aus Bialystok war, der beim 103. Infanterie-Regiment Petrosawodski in Grodno diente und nun für seine Person Frieden machen wollte. Talbot kaufte ihm die Pilze ab, hielt sein Pferd zurück, bis der Beobachtungswagen vorüberkam, reichte den Sack einem Fahrer und sprengte wieder nach vorn, dem General nach.

Am Nachmittag wurde der Njemen erreicht, von dem man aber zunächst nichts sah, da er tief zwischen steilen erdigen Ufern floss, an denen sich Waldstreifen entlangzogen. Etwa einen Kilometer vom Strom entfernt lag das Gut Gorny. In einem kleinen Park, der im Krieg vernachlässigt und ein wenig verwildert war, stand zwischen dunklen Zypressen und Bosquets ein entzückendes Rokokoschlösschen, in dem der General mit seinem Stab und mit Talbot Quartier nahm. Ueber schöne teppichbelegte Steintreppen kamen sie in herrlich eingerichtete Zimmer mit seidenen Tapeten, von italienischen Künstlern geschnitzten Türen, wundervollen alten Möbeln, breiten Betten mit seidenen Kissen und Decken.

»Der Besitzer dieses furchtbar netten Hauses«, sagte Talbot, als sie nach dem Abendessen im Bibliothekzimmer am Kamin sassen, »ist ein Graf Keller. Der Kommandeur des Gluchowskischen Dragoner-Regiments, der bei Menschenin fiel, war auch ein Graf Keller. Ob es wohl derselbe ist, Herr General?«

»Sicher eine ehedem deutsche Familie«, meinte der General, während er das Weinglas gegen das Licht hielt. »Dabei hasst uns niemand in Russland so, wie diese Renegaten.«

»Bitte um Verzeihung, wenn ich anderer Meinung bin. Seitdem Peter der Grosse die Deutschen ins Land zog und das Land mit asiatischen Mitteln europäisierte, hasst man hier die Deutschen. Diese Familien aber sind längst vollkommen russisch geworden. Der Ausdruck Renegaten trifft da nicht zu.«

»Hm«, machte der General.

»Mit demselben Recht könnten Herr General die Latours Renegaten nennen.«

»Das ist doch ganz was anderes!«

»Kaum. Wir sind vielleicht zwanzig Jahre früher nach Deutschland gekommen, als die deutschen Vorfahren dieser Leute nach Russland.«

»Jedenfalls, lieber Latour«, sagte der General und zog an seiner Zigarre, »sind diese Russen ein völlig unverständliches Korps.«

»Wissen Herr General, was Friedrich der Grosse auf die Russen gedichtet hat:

O, könnten sie ins Schwarze Meer
Mit einem Sprunge sich versenken,
Köpflings, den Hintern hinterher,
Sich selber und ihr Angedenken!«

»Das ist vom ollen Fritzen?«

»Jawohl.«

»Sie sind ein schrecklich gelehrter Herr.«

Nach einer Weile stand Talbot auf und ging nach dem Verwalterhause. Er hatte bald festgestellt, dass sein Gegner vom Bagno Wisna tatsächlich der Besitzer des Schlosses gewesen war.

Der Verwalter hörte stumm die Todesnachricht an, dann schlug er ein Kreuz und betete.

»Der Graf war ein tapferer Mann, Herr«, sagte er und wies Talbot ein Bild an seiner Wand, einen schlechten Druck, der den Angriff der Brigade Cardigan bei Balaklava darstellte, wo der Vater des Grafen gefochten hatte.

In die Bibliothek zurückgekehrt, berichtete Talbot dem General, was er in Erfahrung gebracht.

»Ja, das Leben dreht alles im Kreis herum«, sagte der alte Herr nachdenklich. Dann stand er auf. Die anderen waren schon gegangen.

Talbot blieb noch einen Augenblick und sah sich die schön geschweiften Bücherschränke aus glänzend poliertem, hellbraunem Holz an, die eine wirklich auserlesene Bibliothek enthielten, vor allem Werke der älteren französischen Literatur in prachtvollen Einbänden. Talbot fand auch einen Band von Eckermanns »Gesprächen mit Goethe«, den er an sich nahm. »Den wirst Du mir leihen, lieber oller Keller«, murmelte er, »Du brauchst ihn ja nicht mehr so dringend!«

Die Pioniere hatten noch in der Nacht mit dem Brückenschlag begonnen, und am frühen Morgen kam die Meldung, dass sie durch russisches Feuer gestört wurden.

Der General ging mit Talbot zum Gut Pieski hinab, wo die Brücke gebaut wurde. Auf dem andern Ufer schlugen Flammen empor. Das Dorf Komatowo wurde, wie Talbot sagte, »warm abgebrochen«, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Russen sich zurückzogen.

»Das ist nur die übliche Nachhutschiesserei«, meinte Talbot.

Der General war gleicher Meinung. Für alle Fälle sollte die Batterie bei Pieski in Stellung gehen, und ein Geschütz ganz nach vorne gebracht werden, um die Scharfschützen, deren Kugeln die Pontons durchlöcherten und einige Pioniere verwundet hatten, zu vertreiben.

Einige wenige Schüsse genügten; das Feuern von drüben hörte auf. Vor Abend konnte der Brückenschlag nicht beendet sein, und Talbot schlenderte mit dem General nach Gorny zurück.

»Wöbke hat ein Spanferkel gemeuchelt, Herr General«, sagte er, »das wollen wir heute Mittag verzehren.«

»Das ist schön«, sagte der alte Herr.

Im Schlosshof trafen sie den weissen Falken mit seinem Stab. Der General lud ihn nach Feldbrauch zum Essen ein.

»Ja, ist es hier nicht zu gefährlich, knapp einen Kilometer vom Feind?« fragte der Oberst.

»Die Russen sind schon lange durch die Hintertür davon«, sagte Talbot.

»Ich habe vor zehn Minuten ganz nahe Einschläge gehört.«

»Das war ich.«

»So?«

Talbot berichtete.

Man ging zu Tisch. Das Spanferkel wurde aufgetragen, aber es war noch kaum vorgelegt, als die Batterie wieder zu feuern begann. Dumpf krachten draussen die Schüsse.

»Die Russen!« rief der Oberst.

»Es sind meine Kartaunen, Herr Oberst«, beruhigte ihn Talbot.

»Wer schiesst denn?«

»Vermutlich Leutnant Bickel. Er wird etwas gesehen haben.«

»Warum sind Sie dann nicht vorn?«

Talbot bekam einen roten Kopf. »Weil es nicht nötig ist, und weil der Herr General mit mir sprach«, erwiderte er.

Der General griff ein: »Lassen Sie doch den Latour in Frieden essen«, sagte er, »er ist genug auf den Beinen.«

»Und wenn die Russen gleichfalls schiessen? Und wenn sie hierher schiessen?«

Hauptmann von Bonin lächelte Talbot mit seinen weissen Zähnen über den Tisch zu. Aber dieser antwortete: »Nein, Herr Oberst!« mit so eisiger Schroffheit, dass das Lächeln aus den Zügen des Adjutanten schwand und die ganze Tischgesellschaft verstummte und aufhorchte.

»Die Russen wissen ganz genau, dass wir hier sind«, fuhr Talbot fort, »die sagen sich: in Gorny sitzt der Artilleriekommandeur, da schiessen wir nicht hin ...«

»Aber Latour ...«, fiel Bonin ein, um ein Unglück zu verhüten.

»...sie sagen sich: den Stab müssen wir erhalten, sonst können wir den Krieg nicht gewinnen.«

»Prosit, Herr Oberst!« sagte der General und lächelte, als wäre alles ein Scherz gewesen.

»Zum Wohle, Herr General«, erwiderte der Oberst, als hätte er nichts gehört.

Aber die Stimmung wurde keine angenehme, obwohl lebhaft gesprochen und erzählt wurde. Bald nach Tische ritt der weisse Falke davon.

»Sie haben sich einen Feind gemacht, Latour«, sagte der General.

»Ich werde es zu tragen wissen«, erwiderte Talbot.

Nachts kam der Befehl, dass am nächsten Tag die zweite Brigade die Vorhut zu stellen habe. Talbot marschierte mit seiner Batterie im Gros; hinter ihm kam eine Batterie von Zehn-Zentimeter-Kanonen.

Am Nachmittag kam die Division ins Gefecht. »Das kann nicht lange dauern«, sagte Talbot zum Chef der anderen Batterie, als sie ein Stück nebeneinanderritten, »die Russen kokeln schon wieder den armen Polacken die Häuser nieder.«

Den ganzen Tag begegneten sie langen Zügen von Flüchtlingen. Bauern im Pelz mit stumpfen, hoffungslosen Gesichtern; auf Wagen, die von kleinen struppigen schlechtgenährten Pferden im Holzjoch gezogen wurden, führten sie ihre Habe mit und oft noch ein Wägelchen, auf dem Frauen und Kinder hockten.

In der Ferne vernahm man Infanteriefeuer. Schrapnellwölkchen waren am Horizont sichtbar.

Der weisse Falke kam mit fünf oder sechs Begleitern über die Wiese geritten und rief: »Sie sehen den Wald vor uns, Herr von Latour?«

»Zu Befehl.« Der Wald lag etwa fünfhundert Meter entfernt und war nach der Karte etwa drei Kilometer tief.

»Es ist der Wald hart südlich von Budomlija.«

»Zu Befehl.«

»Am nördlichen Waldrand liegt unsere Infanterie den Russen gegenüber.«

»Das glaube ich nicht, Herr Oberst. Das Gefecht klingt viel entfernter. Das muss an der Strasse Skidel-Grodno sein, mindestens vier bis fünf Kilometer vor uns.«

»Ich habe die Nachricht soeben von der Division bekommen. Ihr Abteilungsführer ist von mir verständigt. Die Batterie geht hier in Stellung und nimmt sofort Gut Budomlija und Dorf Obuchowo unter Feuer. Vielleicht können Sie hier von der Höhe 133 etwas sehen. Zum Leitunglegen ist keine Zeit.«

»Ich schiesse ganz sicher in unsere Infanterie.«

»Sie haben den Befehl, und ich wünsche, dass Sie ihn sofort ausführen«, sagte der Oberst, die Stimme erhebend.

»Darf ich um schriftliche Ausfertigung des Befehls bitten?«

»Hauptmann von Bonin, schreiben Sie den Befehl aus.«

Bonin zog den Oberst zur Seite und sprach mit ihm, anscheinend ohne Erfolg; denn er hatte Block und Bleistift aus der Kartentasche genommen, die er umhängen hatte, und schrieb jetzt. Der Oberst klemmte sein Monokel ein und sagte scharf: »Darf ich nun bitten?«

Talbot legte die Hand an den Helm und galoppierte an die Spitze seiner Batterie.

»Links schwenkt! Marsch!« kommandierte er.

Als die Batterie etwa zweihundert Schritt über das Ackerfeld marschiert war, liess er halten und abprotzen. Er nahm die Karte und Bussole und gab den Geschützführern die Zahlen, nach denen sie die Kanonen richteten.

Dann ging er auf die kleine Anhöhe hinter der Batterie. Es war nichts zu sehen; der Wald verdeckte das angegebene Ziel.

Immer entfernter klang das Infanteriefeuer.

Talbot verliess die Höhe, ging von Geschütz zu Geschütz und gab den Führern eine Anweisung, die auf den Gesichtern verstohlenes Grinsen hervorrief. Ehe er das Feuer eröffnete, hiess er Bickel zum Hauptmann Kuntze reiten und ihn bitten, möglichst rasch zur dritten Batterie zu kommen. »Wenn Sie den General Rudolf erwischen können,« fügte er hinzu, »so melden Sie ihm das Theater und bitten ihn, zu kommen, wenn es geht!«

Bickel galoppierte davon.

Die Zehn-Zentimeter-Batterie schien den gleichen Auftrag bekommen zu haben; sie feuerte bereits, etwa vierhundert Meter rechts von Talbots Stellung; die hellen scharfen Schläge der Abschüsse erschütterten die Luft.

Oberst von Freyer kam zurück. »Herr Hauptmann!« rief er, im Anreiten, rot im Gesicht, »es scheint, die Ausbildung Ihrer Batterie lässt zu wünschen übrig. Die schwere Batterie hat den Befehl erst nach Ihnen erhalten und feuert schon seit zehn Minuten..«

»Der Fehler liegt an mir, Herr Oberst. Ich habe erst noch zu erkunden versucht. Von hier aus ist nichts zu sehen.«

»Das ist auch nicht nötig. Die Division verlangt die sofortige Unterstützung der Infanterie!«

»Darf ich eine Meldung machen?«

»Bitte.«

»Die Batterien der Vorhut, die schon jenseits des Waldes sein müssen, feuern nicht. Also kann die Sache nicht brenzlich sein.«

»Sie eröffnen sofort das Feuer! Ich könnte Sie vor ein Kriegsgericht stellen.«

Talbot gab die Feuerbefehle; eine halbe Minute später flogen die ersten Geschosse aus den Rohren.

Die Batterie mochte eine Viertelstunde gefeuert haben, als ein Automobil ankam, in dem der Divisionskommandeur Generalleutnant Schröder mit dem Generalstabsoffizier Major Meister sass. Gleichzeitig kam General Rudolf geritten, den Bickel verständigt hatte.

»Worauf schiessen Sie?« rief der Divisionär.

»Auf Befehl, Exzellenz!«

»Ich meine das Ziel.«

»Gut Budomlija.«

»Hören Sie sofort auf!«

»Feuerpause!!« rief Talbot.

»Glauben Sie, dass Sie etwas getroffen haben?« fragte General Rudolf.

»Ausser den Vorbereitungen nichts, Herr General!«

»Was ist das für eine Wirtschaft hier? Und was sind das für Antworten?« rief der Divisionär entrüstet, »Sie werden in unsere Truppen geschossen haben!«

»Das fürchte ich auch, Euer Exzellenz.«

»Herr!!« brauste der Generalleutnant auf.

»Darf ich melden,« sagte Talbot kalt, »dass ich auf ausdrücklichen Befehl des Herrn Artilleriekommandeurs geschossen habe. Ich habe wiederholt meine ernsten Bedenken vorgebracht und bin durch direkten Befehl, ja durch Drohung mit dem Kriegsgericht zum Feuern gezwungen worden.«

»Wie ist es damit, Herr Oberst?« fragte der Divisionär.

Der weisse Falke ritt an das Automobil heran und legte die Hand an den Helm: »Euer Exzellenz«, sagte er betreten, »Major Meister hat mir vor einer halben Stunde selbst gemeldet, dass die Infanterie am Waldrand südlich von Budomlija im Gefecht stehe.«

»Das habe ich dem Herrn Obersten allerdings gemeldet«, sagte der Major, »und hinzugefügt, dies sei die letzte Meldung, die wir hätten; wie die Sache jetzt stünde, wüsste ich nicht. Dem Gefechtslärm kann jeder entnehmen, dass es vier bis fünf Kilometer weit ab ist.«

Der Generalleutnant schwieg einen Augenblick, dann rief er dem Chauffeur ein Wort zu und fuhr davon, ohne etwas zu sagen.

General Rudolf war abgesessen und hatte Talbot freundlich begrüsst. »Sie werden da eine nette Sauerei angerichtet haben«, sagte er, »Wahrscheinlich hat unsere Infanterie was abgekriegt.«

»Das wird wohl nicht das erste Mal gewesen sein«, meinte der Oberst, sich ins Gespräch mischend.

»Leider, Herr Oberst,« sagte Talbot sich zu ihm wendend, »gibt es wohl keinen Batteriechef in diesem Krieg, dem das nicht schon passiert ist. Aber nicht unter Umständen wie heute.«

»Was kann ich dafür, wenn die Division mir falsche Angaben macht ...«

Der General unterbrach ihn: »Sie hätten Latour, der die Erfahrung hat, ruhig glauben können. Ich muss sagen, Herr Oberst, dass ich mich sehr, sehr wundere.«

Der Oberst schwieg, wurde rot, grüsste und ritt davon.

Bald darauf wurde biwakiert.

Als am anderen Morgen bei Tagesanbruch der Vormarsch wieder begann, wurde unterwegs der Vorfall besprochen. Der Chef der schweren Batterie erzählte Talbot, dass er auf Entfernungen geschossen habe, auf denen er eigene Truppen unmöglich gefährden konnte. Talbot gestand, dass er mit Vorsteckern – einer Sicherungsvorrichtung am Zünder, die sonst vor dem Laden entfernt wird – hatte feuern lassen, so dass die Granaten nicht explodieren und keinem Menschen schaden konnten, dem sie nicht gerade auf den Kopf fielen. Beide lachten.

»Im Grunde ist es nicht lächerlich«, sagte Talbot, »denn erstens ist es unglaublich, was so ein verantwortungsloser Nonvaleur anrichten kann, und zweitens sind solche Sachen sehr ungünstig für die Disziplin. Meine Kerls haben sicher gemerkt, was vorgeht.«

Mittlerweile war man in Budomlija angekommen. Das Gut war voll von Flüchtlingen, alle noch in grossem Schrecken über die Beschiessung, obwohl nur eine einzige Granate geplatzt war und eine magere Kuh getroffen hatte.

Talbot liess die Kuh kaufen und schlachten. Die Schlächter waren eben an der Arbeit, als der weisse Falke vorüberkam.

»Ist das Fleisch gut?« fragte er.

»Jawoll, Herr Oberst.«

»Kann man etwas davon bekommen, lieber Latour?« Er schien sich an nichts mehr zu erinnern, auch die zu Dutzenden umherliegenden Blindgänger nicht zu bemerken.

»Zu Befehl, Herr Oberst,« erwiderte Talbot und zu dem Küchenunteroffizier gewendet, befahl er: »Das Gehirn für den Artilleriekommandeur!«

»Schön, ich werde meinen Anteil holen lassen,« sagte der Oberst und ritt grüssend weiter.

Talbot blieb nicht lange vergnügt. Beim Dorf Massanowo traf er den Major Meister, der ungewöhnlich ernst aussah.

»Ist vorn etwas nicht in Ordnung, Herr Major?«

»Das schon ...«

Talbot berichtete von seiner Vorsicht von gestern.

»Schon gut, lieber Latour«, sagte der andere, »ich habe eine traurige Nachricht für Sie.«

»Nanu? ist der weisse Falke versetzt?«

»Nein, es betrifft Sie persönlich. Wir haben einen Fernspruch von Seiner Exzellenz, Ihrem Herrn Vater ... Ihre Frau Mutter ist vor acht Tagen verschieden und auch schon bestattet. Mein herzliches Beileid. Der Fernspruch kam erst heute durch. Wollen Sie reisen?«

Talbot dachte nach. Er war ganz bleich geworden. »Danke«, sagte er dann. »Wozu? Ich sehe sie doch nie wieder.«

»Ja, Sie bleiben besser hier«, sagte der Generalstäbler. »Tragen Sie es, lieber Freund. Hier ist Arbeit genug.«


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