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Jildirim

Drei Monate lag Talbot im Lazarett in Mitau, das in einer alten russischen Kaserne eingerichtet war. Mitte April erhielt er eine Postkarte von Stascha. Darauf war eine gekritzelte Zeichnung, die eine Guillotine vorstellen sollte; ein Männchen, das eine Krone trug, offenbar der Zar, schien auf das Brett geschnallt. Darunter war geschrieben:

»Hélas, hélas, hélas!
Il perdit la tête
Par coup du coutelas.

Wir fahren nach Pitter. Gruss. Stascha.«

Die Karte trug den Poststempel Gottmadingen, eine Adresse war nicht angegeben. Dass von diesem Grenzort zwischen Baden und der Schweiz am neunten des Monats der plombierte Zug abgefahren war, der Lenin und seine Freunde nach Russland trug, ahnte Talbot nicht.

Es war die letzte schriftliche Nachricht, die er von Dr. med. Anastasia Tugendmann erhielt.

Bald darauf kam ein Telegramm, das Talbot, der soweit genesen war, nach Berlin berief. Im roten Haus am Königsplatz erfuhr er, dass er als Stabschef einer türkischen Division an die Palästinafront versetzt war. Er verbrachte nur wenige Tage in den öden Zimmern in der Uhlandstrasse; sobald er die nötigen Besorgungen gemacht hatte, fuhr er, von Wöbke begleitet, nach Konstantinopel.

Am Abend, an dem er in Stambul einfuhr, lohten die Kuppeln der Moscheen und Paläste am Ufer im Schein der Fackeln, die sich in den trägen Wassern des Goldenen Horns spiegelten, als wäre es ein Feuersee aus Tausend und einer Nacht. Die erleuchteten Galerien der Minaretts glühten am Himmel. Von ferne donnerten die Batterien. Ein Sieg wurde gefeiert. »Lah-Ilah – Il-Lah ... Lah – Mohammed – Rasul... Allah« heulten die Mollahs von den Türmen.

Am andern Tag meldete er sich bei den deutschen und türkischen Behörden, die in sehr modernen Häusern in Pera saßen, und sah Enver Pascha, der, klein und elegant, den Schnurrbart wie der deutsche Kaiser trug, sonst einen bescheidenen und sympathischen Eindruck machte.

Noch am gleichen Abend fuhr er von Haidar Pascha aus mit dem Zuge weiter. Als er am andern Morgen erwachte, sah er in der Ferne die weissen Kuppeln von Eski Schehir. Ueber Afiun Karahissar, der Opiumstadt, die auf einem riesigen schwarzen Trachytfels inmitten der braunen Steppe liegt, kam er nach Konia. Hier hatte er einen dienstlichen Auftrag zu erledigen und ging dann, da ihm Zeit blieb, zwischen den flachen Lehmhäusern dahin, wo der grüne Turm des Mewlana Klosters in der Sonne funkelte und sah in dem halbdunkeln Innenraum, dessen mit rotem Lack überzogene Wände im Licht der Lampen ihre goldenen Inschriften und Arabesken zeigten, den in schwarze goldgestickte Seide gehüllten Sarg des Dichters Dschellaleddin Rumi, den er besonders liebte.

In Banarbaschi, zwei Stunden vor Konia, da der Zug durch die kahle Hochebene fuhr, war Talbot aus Langeweile auf die Lokomotive geklettert und hatte dem bayrischen Lokomotivführer zugehört, der auf den »Saubetrieb« auf den türkischen Bahnen schimpfte. Soviel hatte er selbst schon davon zu fühlen bekommen, dass der Zug mitunter vier und fünf Stunden in einer Station stillstand, weil kein Brennholz oder kein Wasser zu haben, oder die Strecke aus irgend einem nicht einzusehenden Grunde gesperrt war. Jetzt in Konia fuhr der Zug nicht ab, weil die Lokomotive einen Kesseldefekt hatte. Talbot, der nach vorne gegangen war, überliess die Sorge dem fluchenden Bayern und kehrte in sein Abteil zurück.

Dort sass jetzt mit seinem Handgepäck ein graubärtiger Herr in türkischer Uniform, dem Talbot sich vorstellte. Es war ein Generaloberarzt, ein gebürtiger Hesse, der den Ausgang der Sache mit ausserordentlicher Geduld abzuwarten schien.

»Es ist keine Lokomotive da«, sagte Talbot.

»Der Takaut wird sie vermietet haben.«

»An wen vermietet?«

»An irgend einen levantinischen Kaufmann, der seine Waren transportieren will. Der Takaut«, erklärte er, »ist ein alttürkischer, meist aus dem Unteroffiziersstand hervorgegangener Offizier, und die Bahnhofskommandanten sind Takauts. So etwas kommt alle Tage vor.«

»Und das wird geduldet?«

»Allah ist barmherzig. Sehen Sie«, sagte der alte Herr, der den Orient seit langem kannte, »die Gebote der Scheriat sind so viele und so schwer, dass der Mensch sie nicht alle erfüllen kann. Allahs grösste Eigenschaft ist seine Barmherzigkeit. Die Menschen aber sollen Allah, dem Allerbarmer, nacheifern und verzeihen. Wenn Sie sich einmal wundern, dass schwere Verfehlungen hier ungestraft bleiben, so denken Sie an meine Worte. Dem Mann ist verziehen worden, weil Allah das so gewollt hat.«

»Der Türke sollte so viel verzeihen?«

»Ja. Freilich, wenn der Uebeltäter ein politischer Gegner oder ein Giaur ist, dem verzeiht man nicht so leicht!«

Der alte Arzt erzählte ihm noch manches, bis gegen Sonnenuntergang ihr Zug sich wieder in Bewegung setzte. Am nächsten Morgen fuhren sie durch die mächtigen Bergketten und die gewaltigen dunklen Wälder des Taurus, an Schluchten, Abgründen und uralten Bergfestungen vorbei, und hielten gegen Mittag in Adana, wo der Arzt den Zug verliess.

Am Nachmittag setzte Talbot die Reise allein fort, bis am andern Tag das mächtige, gelbe, auf kahlen Fels gesetzte Kastell von Aleppo, ein mittelalterlicher Bau aus der Zeit der Kreuzzüge, in der Morgensonne sichtbar wurde.

Als der Zug in die Halle rollte, rief jemand »Halloh, Latour!« In der bunten Menge auf dem Bahnhof, zwischen türkischen Soldaten, Syrern, Anatoliern, Arabern und Juden stand ein untersetzter semmelblonder Mann in türkischer Offiziersuniform, den runden Kalpak aus schwarzem Lammfell auf dem Kopf. Es war ein alter Freund, der Major Zangmeister Bey, der ihn durch die Stände mit Fleisch und Süssigkeiten vor dem Bahnhof zu seinem Dienstauto brachte und mit ihm nach dem Deutschen Kasino, einem langgestreckten einstöckigen Gebäude, fuhr, in dem sie frühstückten.

Der Major war eine Art Bahnbeauftragter und hatte sich mit den türkischen Bahnhofskommandanten herumzuschlagen. Seit zwei Jahren hatte er, ohne Urlaub, die gleiche aufreibende Arbeit gehabt. Die Takauts waren verlogen und bestechlich und machten ihm die grössten Schwierigkeiten. Selbst Dschemal Paschas Strenge vermochte nicht viel auszurichten. Die höheren türkischen Führer, sagte Zangmeister, hatten den besten Willen, aber die nötigen Kenntnisse fehlten zumeist. Bei der Auswahl entschied weniger die Fähigkeit als die Zugehörigkeit zum jungtürkischen Komitee für Einheit und Fortschritt. Auf Dschemals Anordnungen antworteten die Subalternoffiziere: »Pek eji, Effendim!« – Zu Befehl, Herr –; für das weitere hatte Allah zu sorgen.

Nach dem Frühstück meldete sich Talbot bei Faruk Bey, dem Generalstabschef Dschemal Paschas, der sich lange mit ihm unterhielt.

»Nun, was hat er Dir gesagt?« fragte Zangmeister.

»Er liess alle falsche Bescheidenheit beiseite und nannte sich den türkischen Ludendorff. Dann sagte er zu mir: Vous êtes venu dans un moment historique ...«

»Un moment vraiment critique«, setzte Zangmeister fort, »das sagt er immer. Faruk ist eine vollkommene Renonce.«

»Ist irgend was besonderes los?

»Ja. Jildirim.«

»Und das ist?«

»Das heisst: der Blitz!«

»Und bedeutet?«

»Allah hat diesen Blitz vor etwa acht Tagen losgelassen. Aber es kann Oktober werden, ehe er einschlägt.«

»Deckwort?«

»Natürlich, oder Reklame. Jildirim bedeutet das Unternehmen gegen Bagdad, das zur Zeit in Vorbereitung ist. Aber jetzt wird alles umbefohlen, geändert, und wahrscheinlich zuletzt liegen gelassen, weil Falkenhayn, der vor ein paar Tagen eingetroffen ist, den General Allenby in Palästina angreifen will.«

»So etwas sagte man mir schon in Cospoli.«

»Jildirim ist also insofern eine ganz richtige Bezeichnung, als dieser Blitz sehr im Zickzack herumfährt. Das Tempo aber ist durchaus orientalisch.«

»Allah wird sich erbarmen«, sagte Talbot und dachte an den alten Generaloberarzt im Zuge.

Zur Weiterfahrt nach Damaskus stellte Major Zangmeister ihm einen gedeckten Güterwagen zur Verfügung, der mit einem Tisch, einem Sofa und einem Gasolinkocher ausgestattet war. Die Polsterwagen, meinte er, seien wegen des Tierlebens, das man in ihnen beobachten könne, weniger zu empfehlen. Vor zwei Jahren, erzählte der Major ihm auf dem Bahnhof, habe der damalige Erzherzog Karl Franz Josef, der nunmehrige Kaiser Karl von Oesterreich, mit seiner Gemahlin den Sultan besucht. Sie hätten im hölzernen Palast Jildiz Kiosk gewohnt und in der Nacht sei die Erzherzogin Zita auf das Dach geflüchtet, weil die Tierchen den Aufenthalt in den Zimmern unerträglich machten.

»Ich bin Kummer gewöhnt«, sagte Talbot.

Der Zug fuhr durch die düsteren Berge des Dschebel el Anserich, und dann durch die Felsentäler und Oliven- und Zypressenhaine Cölesyriens und kam nach manchem längeren Aufenthalt, bei dem Talbot sich im Verzeihen üben konnte, in Damaskus an. Auch hier wurde er auf dem Bahnhof von Freunden erwartet und im Triumph nach dem in seinem ganz unpassenden schlechten modernen Stil, gelbrot mit vielen Stuckornamenten, erbauten Hotel Viktoria gebracht.

Talbot erledigte die nötigsten dienstlichen Angelegenheiten und fuhr im Kraftwagen durch die belebten Strassen der in Blumenfarben prangenden Stadt und hinaus nach dem Flugplatz, um den Kommandeur Hauptmann Schmitt zu besuchen, der ein früherer Regimentskamerad, jetzt türkischer Offizier und Selbstherrscher des Militärflugwesens an der Palästinafront war. Er war schon fast drei Jahre hier und kannte wie kein anderer die Gefahren und Tücken des Wüstenflugs mit seinen Sonnenböen und Luftlöchern.

Er wurde mit Cocktails empfangen. Es war schon tüchtig heiss. »Natürlich gibt es auch Sekt, Ihnen zu Ehren, mein tapferer Talbot«, sagte Schmitt. »Es muss nur noch die wilde Marie angespannt werden.«

»Welche Dame, wenn ich fragen darf?« fragte Talbot lachend.

»So heisst eine alte Fliegekiste ohne Tragflächen.«

»Und wozu ist die gut?«

»Sie werden es gleich sehen.«

Sie traten vor das Zelt, das den Fliegern als Kasino diente, und sahen zu, wie ein paar Monteure eine alte Albatrosmaschine ohne Flügel aus dem Hangar schoben. Dann bestieg ein Leutnant den Führersitz. Am Führerstand hinter dem Propeller wurden zwei weisse Pakete festgebunden; da Talbot nähertrat, sah er, dass es zwei in nasse Tücher gewickelte Champagnerflaschen waren.

»Sehen Sie«, sagte Schmitt, »die wilde Marie wird jetzt ein paar Mal über den Platz gejagt; durch die Hitze und den Propellerwind verdunstet das Wasser, und die Pullen sind gekühlt.«

Im nächsten Augenblick raste der Apparat, wie ein Insekt ohne Flügel, im Kreis um den Flugplatz, und Talbot konnte sich von der Wirksamkeit des Verfahrens überzeugen.

Es war spät, als Schmitt ihn mit dem Kraftwagen in die Stadt zurückbrachte. Er fuhr ziemlich rücksichtslos durch den Menschenstrom, meist Levantiner, die in der Abendkühle durch die Strassen schlenderten. Er zeigte Talbot die Omajadenmoschee, die sich dunkel vom glühenden Himmel abhob, und wollte ihm noch anderes zeigen; aber Talbot dankte. Er war müde von der langen Reise und sollte schon am nächsten Tage weiter.

»Bleiben Sie noch ein paar Tage hier, Talbot. Im Orient muss man alles mit Ruhe machen. Jawash, jawash!«

»Nee, mein lieber Fliegeschmitt; ich gehe jetzt pennen, und fahre morgen früh.«

»Und wenn ich Sie hinfliege?«

»Darüber liesse sich reden.«

»Dann aber zeig' ich Ihnen heute noch das Nachtleben von El Scham!«

Das tat er und gründlich. Talbot sah in einsamen und in überfüllten Kaffees Nautschgirls, Flötenspielerinnen und Bauchtänzerinnen; aber sie interessierten ihn nur mässig.

Am andern Morgen wurde er wieder im Auto nach dem Flugplatz geholt. Er stieg hinter Schmitt, der den Führersitz einnahm, auf den Platz des Beobachters; der Apparat mit den grossen schwarzen Kreuzen auf den unteren Flügeln wurde aus dem Hangar gezogen, fuhr an und erhob sich wie ein riesiger Schmetterling in die Lüfte.

Der Flug ging die Bahnlinie entlang pfeilgerade nach Süden bis Deraâ. Dort bog Schmitt nach Südwesten ab, überflog das kahle Gebirge und das Silberband des Jordan im grünen Tal; über Jerusalem ging er tief herab, so dass Talbot die Kuppeln, die flachen Dächer und Strassen sah; hier und da schrieb er einen kleinen Zettel und reichte ihn herüber, um Talbot auf den Oelberg, auf die Erlöserkirche, auf Davids Grab aufmerksam zu machen. Dann flogen sie, immer gelbe und braune Sandsteinfelsen und Hochfläche unter sich, während links von ihrer Bahn sich silbergrau die Fläche des Toten Meeres hinzog, über Hebron weg und landeten zuletzt glatt in Birseba, wo Talbot sich beim Divisionskommandeur, Oberst Dschevded Bey, zu melden hatte.

Schmitt blieb einige Tage mit ihm in Birseba. Jawash! Jawash! Talbot war froh, einen Bekannten hier zu haben, denn Wöbke, der mit der Bahn nachkommen sollte, konnte nicht sobald da sein.

Dschevded Bey war noch jung, etwas über dreissig Jahre; er sprach nur türkisch und ein fürchterliches Französisch. Wie an der europäischen Westfront, war der Krieg auch hier, seit der zweiten Gazaschlacht, ein reiner Stellungskrieg geworden. Die Stellungen der Division vor Birseba sollten nach Süden und Westen ausgebaut und die Befestigungen mussten zum Teil in den Fels gesprengt werden. Alles musste Talbot entscheiden, denn Dschevded Bey, obwohl ein Mann von zweifelloser Tapferkeit, zeigte sich in militärischen Dingen sehr wenig erfahren. Auch er hatte seinen Posten nur als verlässlicher Jungtürke erhalten.

Talbot erschien überall persönlich, griff ein, befahl, verzieh mustergültig, wusste aber schliesslich seinen Befehlen Gehorsam zu verschaffen.

Besonders schwierig erwies sich die Wasserversorgung. Da Allah nicht half, mussten Brunnen gebohrt werden.

Türken und Engländer beschränkten sich auf Erkundungsvorstösse zwischen Birseba und dem Wadi Schelale, nächtliche Patrouillenritte und Störungsfeuer – Artilleristischen Krawall, wie die Oesterreicher es nannten. Dabei waren die Engländer, die enormen Munitionsvorrat hatten, überlegen. Im Juli – Talbot kam eben von einem Besichtigungsgang zurück – meldeten sich österreichische Offiziere bei ihm. Am Bahnhof stand eine Zehn-Zentimeter-Batterie, mit der sie gekommen waren. Die Offiziere brachten einen fröhlichen Ton mit, und die Batterie leistete Vortreffliches. Bei allen Unternehmungen im Vorfeld, die Talbot betrieb, war sie dabei, und um so unentbehrlicher, als die Bespannungen der deutschen schweren Batterien noch irgendwo auf den türkischen Bahnen reisten oder ruhten.

In den Lüften waren Schmitts Flieger Meister. Seine Abteilung verlor nicht ein einziges Flugzeug und schoss achtzehn Engländer ab. Aber nach und nach wurden die englischen Geschwader stärker und gefährlicher.

Immer unglaubwürdiger wurden die Nachrichten der arabischen Spione. Bedrohliche Gerüchte kamen von der Hedschasbahn. Der grosse Scheich Lurens Bey – Oberst Lawrence – hatte die Beduinenstämme zum Aufstand erregt; der Sovereign rollte; durch den Hedschas, das Sinai-Gebiet bis nach Syrien hinein drang die Unruhe.

Da beschloss Talbot mit einigen türkischen Schwadronen und zwei Geschützen einen gewaltsamen Erkundungsvorstoss nach Süden zu versuchen.

Dschevded Bey wollte mitreiten.

»Nein, mein verehrter Herr Oberst«, sagte Talbot, »einer von uns beiden muss in Birseba bleiben, und das sind diesmal ... Sie!«

An einem schönen klaren Septembermorgen wurde der Marsch in die gelbbraune Wüste angetreten. Nur Disteln und harte Gräser wuchsen hier und da; dunkle Steine ragten aus dem Sand, und in der Ferne hoben sich die Felsen des Dschebel Machsa. Talbot ritt mit Wöbke und mit seinem Burschen Kasim, einem olivbraunen Jungen mit kleinem schwarzen Schnurrbart, voraus. In einiger Entfernung folgte der lange Zug der Lanzenreiter in brauner Uniform, die weiss umwickelten Tropenhelme auf den Köpfen.

In der weissleuchtenden Ferne über den Horizont schwirrten Flieger. Talbot schickte Kasim zurück mit dem Befehl an den älteren der beiden Schwadronchefs, die Schwadronen auseinanderzuziehen und Schritt reiten zu lassen, damit der aufwirbelnde Sandstaub den Zug nicht verriete. Die Türken hatten von Marschsicherung noch nie etwas gehört, und der Schwadronchef kümmerte sich um die Warnung nicht.

Man war eben zur Mittagsrast abgesessen; die Türken hatten den Pferden die Futterbeutel vorgebunden, ihre Kochgeschirre aus den Packtaschen genommen und assen Reis, Dörrfleisch und getrocknete Datteln, als ein singender Ton vernehmbar wurde: zwei De Havilands kreisten über dem Lagerplatz. Einen Augenblick später platzten die abgeworfenen Bomben. Von einer kleinen Anhöhe, die er bestiegen hatte, um Ausschau zu halten, sah Talbot über hundert Pferde sich auf dem Boden wälzen oder blutüberströmt mit heraushängenden Gedärmen in die Wüste hinausrasen. Unverwundete Pferde liefen in toller Angst ihnen nach und davon.

Talbot sah auch, wie der österreichische Leutnant, der auf kleinen Pferdewagen ein paar Maschinengewehre mitführte, zwei davon in Stellung brachte, nach oben richtete und fortwährend feuerte. Die Geschosse hinterliessen eine leuchtende Spur in den Lüften, und zwei Minuten später sauste der eine Flieger, der sich zu weit herabgewagt hatte, aus der Luft nieder. In einer Entfernung von etwa sechs oder sieben Kilometern fiel der Apparat wie ein Sack zur Erde. Eine Staubwolke bezeichnete die Stelle.

Talbot half den türkischen Offizieren die Trümmer der beiden Schwadronen notdürftig ordnen. Das Unternehmen musste aufgegeben werden.

Dann ritt er mit dem österreichischen Leutnant und ein paar von seinen Leuten nach der Stelle, wo das abgestürzte Flugzeug lag. Zwei Stunden mochten vergangen sein, seitdem es abgeschossen worden. Er fand verkohlte und vollkommen ausgeraubte Leichen. Die Beduinen waren vor ihm dagewesen und hatten alles mitgenommen, was an dem Flugzeug nicht niet- und nagelfest war.

»Bande!« sagte der Oesterreicher.

Talbot liess die Leichen zum Lagerplatz bringen. Sie waren schon steif, und für die Reiter war es keine leichte Aufgabe, die peinliche Last vorn im Sattel mitzunehmen. Aber die türkischen Offiziere wollten von einer Bestattung der feindlichen Giaurs nichts wissen; was Talbot auch sagen mochte, scheiterte an ihrem starren Widerstand. Sie zuckten die Achseln und schwiegen. So liess Talbot die Leichen in seinen eigenen Umhang wickeln und im Sande begraben.

Er stand schweigend daneben, bis seine Leute fertig waren. Es war Abend geworden; dunkles Gewölk war über der Wüste, als er den Rückmarsch befahl. Trotz Nacht und Finsternis fanden Reiter und Pferde mit unfehlbarem Ortssinn ihren Weg.

Wenige Tage später hatte er ein neues Expeditionskorps zusammengestellt. Diesmal nahm er nicht soviele Leute, die die Befehle dann doch nicht ausführten, sondern brach mit nur vierzig Kamelreitern auf. Die »Hedschin Suaris« waren zumeist altgediente arabische Soldaten. Der einzige Türke, der mitkam, war der Leutnant Mehmed Effendi. Die Hedschins waren edle, gelbe oder grauweisse Dromedare, die im Passgang schritten, an Kopf und Hals und Rücken mit grünen oder violetten Quasten behängt.

Als der Abend dunkelte, wurde aufgebrochen. Die arabischen Kamelreiter im braunen Burnus, bärtige, sonnverbrannte Gesichter unter den weissen Kefijehs, den Karabiner über dem Knie, sahen kriegerisch aus. Talbot beeilte sich, aus dem Gebiet herauszukommen, in dem man noch Truppen des rechten englischen Flügels begegnen konnte. Die Reitkamele schritten tüchtig aus. Ihre sonderbaren hochmütigen Köpfe mit den grossen traurigen Augen schaukelten beständig vor und zurück.

Wöbke schnitt ein Gesicht.

»Du hockst auf Deinem Reitkamel wie die Zange auf der wilden Sau«, sagte Talbot lachend. Aber die Bewegung war auch ihm nicht angenehm, und die Glieder schmerzten im ungewohnten Sitz.

Um Mitternacht lagerte man an einem ummauerten Brunnen, Bir el Tukijeh genannt. Hier wurden Feuer angezündet, und im Rauch brieten die Araber ihr Hammelfleisch und kochten Reis, während Talbot Kaffee trank und Schokolade ass. Dann wurde der Marsch in der Richtung auf Asludsch fortgesetzt. Diesmal wurde durch Patrouillen ausreichend gesichert und nur bei Nacht marschiert. Bei Tage hielt sich der Zug in einer Schlucht im zerklüfteten Gebirge verborgen oder in den schwarzen Zelten eines »befreundeten« Kabylenstammes. Die Tage waren glühend heiss, die Nächte kalt.

Von El Asludsch ging es im Sternenschein weiter zum Wadi el Kalasch. Wie dunkle Schatten hoben sich die Kamele und ihre Reiter vom nächtlichen Himmel ab. Am Morgen der dritten Nacht meldeten vorausgeschickte arabische Späher, dass El Hafir von mehr als fünfhundert australischen Reitern besetzt sei.

Talbot verbot Feuer anzuzünden. Der Zug war in der Schlucht verborgen; auf einem Hügel an ihrem Eingang, von dem die Wüste zu überblicken war, stand ein Araber Posten. Gegen Mittag ertönte vom Hügel ein Pfiff, und der Mann machte heftige Gebärden mit der Hand. Talbot lief eilends die Anhöhe hinauf zu ihm. Der Araber wies nach Westen: kaum vier Kilometer entfernt hielt eine grosse Reiterschar mit Panzerautomobilen; es konnte wohl ein Regiment sein.

Durch einen Pistolenschuss alarmierte Talbot das Lager. In der Schlucht liefen die Leute durcheinander. Die in ihrer Mittagsruhe gestörten Kamele brüllten ärgerlich. Wöbke kam mit einem Karabiner auf den Hügel gelaufen.

Talbot sah durch sein Glas.

Eines der Panzerautos hatte sich in Bewegung gesetzt und kam auf den Hügel zu. Die weisse Parlamentärflagge war deutlich zu sehen.

Inzwischen hatten sich die Araber mit schussbereiten Gewehren um ihn geschart. Talbot bedeutete ihnen, dass sie nicht schiessen durften; sie sollten vielmehr alles zum Abmarsch fertig machen.

Fünfzehn Minuten später war das Panzerauto bis auf hundert Meter herangekommen. Talbot schritt den Hügel hinab ihm entgegen. Wöbke lauerte oben, den Karabiner im Anschlag.

Aus dem Wagen stieg ein schlanker englischer Offizier. Er war in Kaki-Uniform, trug einen graugrünen Tropenhelm und in der Hand eine Reitgerte. Er war unbewaffnet.

»Major Colville«, stellte er sich vor.

»Hauptmann Freiherr von Latour.«

»Oh, ich weiss«, sagte der Engländer in seiner eigenen Sprache. »Sie sprechen doch englisch?«

»Wenn es sein muss.«

»Wir wussten ganz genau, dass Sie hier sind, und auch Ihre Stärke. Doch darum komme ich nicht.«

»So?«

»Ich komme vor allem, um mich zu bedanken.«

»Ich verstehe nicht ...«

»Oh, Sie werden gleich verstehen.«

»Wenn es sich um eine längere Unterredung handelt, so sehe ich nicht ein, warum wir hier in der prallen Sonne bleiben. Wollen Sie in mein Zelt kommen Major?«

»Mit Vergnügen.«

Sie gingen um den Hügel herum nach dem Lager, wo die Araber sie anstarrten.

Im Zelt bot Talbot dem Engländer einen Kamelsattel als Sitz an und setzte sich selber auf seine Schlafdecken.

»Also«, sagte der Major, »unsere Flieger haben neulich das Unglück gehabt, in Ihre Kavallerie Bomben zu werfen. Dabei ist einer von ihnen abgeschossen worden.«

»Das stimmt.«

»Sie haben die beiden Toten – der eine ist der Sohn des Lord Axminster – in christlicher Weise beerdigen lassen und sogar Ihren Mantel geopfert, um ihre Blösse zu bedecken.«

»Das habe ich nur getan, um diesen verdammten Niggern, ich meine, unsern lieben Bundesgenossen, zu zeigen, wie weisse Gentlemen verfahren. Es war nicht wegen dem lieben ollen Lordsohn ...«

»Der Grund ist nicht so interessant.«

»Was verschafft mir also die Ehre? Und, zum Donnerwetter, woher wissen Sie das alles?«

Der Engländer lachte. »Mein lieber Hauptmann, Sie sind von lauter bestochenen Schuften umgeben. Wir erfahren alles, was wir wissen wollen, und mitunter noch mehr.«

»Und deshalb kommen Sie?«

»Nein, nicht nur deshalb. Trotz unsern guten Beziehungen zu den Arabern haben wir das Grab nicht gefunden. Lord Axminster möchte die Leiche seines Sohnes haben. Es bedeutet sehr viel für ihn.«

»Die Stelle ist keine zwanzig Meilen südwestlich von Birseba.«

Glauben Sie, dass wir sie finden, wenn man sie in die Karte einzeichnet.«

»Ich fürchte, nein, weil der verdammte Sand alles zuweht.«

»Was kann man tun?«

»Warten Sie mal ... Ich will Ihnen was sagen. Ich reite mit meinen Leuten heute Nacht nach Birseba zurück. Uebermorgen können wir dort sein. Sie können mir natürlich den Dampf abdrehen ...«

»Ich beabsichtige das nicht. Fahren Sie, bitte, fort.«

»Uebermorgen schicken Sie einen Parlamentär. Ich werde die Sache dem Divisionskommandeur vortragen; er wird meine Bitte genehmigen, und ich werde einige Kavalleristen und meinen Burschen, der dabei war, mitschicken. Dann können Sie den Lordsohn wieder ausgraben.

»Ganz gut«, sagte der Engländer nach kurzem Zögern.

Talbot rief nun Wöbke ins Zelt und fragte ihn, ob er sich getraue, das Grab der beiden englischen Flieger zu finden.

»Jawoll, Herr Hauptmann«, sagte dieser, »das ist ganz leicht. In der Nähe ist ein Stein, auf dem wir Feuer gemacht haben, der muss noch schwarz sein.«

Talbot übersetzte, was Wöbke gesagt hatte, und der Major nickte.

»Und jetzt, Wöbke, bring aus der Getränkelast eine Pulle Rotwein und zwei Gläser.«

»Meinen Sie nicht, Hauptmann, dass bei dieser Hitze ein Whisky mit Soda besser wäre?« fragte der Engländer, als Wöbke mit dem Rotwein erschien.

»Natürlich. Aber ich habe keinen.«

»Aber ich. Gestatten Sie, dass ich alles aus dem Wagen hole?«

»Bitte mit Vergnügen.«

Der Engländer ging und war nach zehn Minuten wieder da. Er hatte die Kavallerie nach El Hafir zurückgeschickt; das Panzerautomobil sollte in einer Stunde wiederkommen und ihn abholen.

Sie tranken Whisky und Soda miteinander, rauchten köstliche Zigaretten von H. O. und W. D. Wills in London und unterhielten sich über alle möglichen Dinge. Natürlich versuchten sie auch einander auszuhorchen, und wenn der eine merkte, dass der andere es versuchte, so lächelte er und trank ihm zu. Talbot war froh, auf diese Weise aus einer keineswegs angenehmen Lage befreit zu sein. Darüber war er sich nicht im Zweifel, dass der andere ihn und seine Araber hätte aufheben können.

Diese Betrachtung und der Whisky brachten ihn in gute Laune, er trank auf die Gesundheit des alten Lord Axminster.

Auch der Engländer war vergnügt geworden, und sie sangen zusammen das alte Lied von John Brown, Zeile für Zeile, dreimal wiederholt, mit einem noch schlimmeren Rezitativ und dem Refrain:

»So we are marching along,
Glory, glory, glory, gloria!
Fine are the girls of Batavia!
Glory, glory, glory, gloria!
As we are marching along!«

Der einzige Unterschied war, dass der Engländer falsch sang. Nach dem Refrain wurde jedesmal ein Glas Whisky leer getrunken, und das tat er völlig richtig. So kamen sie zu der Zeile »John Brown's body is now mouldering in the grave«. »Und ausgerechnet in meinen Umhang!« murmelte Talbot.

Draussen aber standen die Araber und lauschten auf den Gesang und sagten unter sich: »Diese Giaurs, Allah möge sie alle verderben, nun sitzen sie zusammen und beten zu ihrem verfluchten Christengott!«

Erst nach zwei Stunden brach Major Colville auf. Talbot begleitete ihn zu seinem Panzerauto, dort nahmen sie händeschüttelnd Abschied. »Was so glad to meet you«, sagte der Major.

»Auf übermorgen!« rief Talbot und winkte. Dann kehrte er in sein Lager zurück. Ein paar Kommandos, der Zug ordnete sich, die Kamelreiter setzen sich in Bewegung, und am übernächsten Tag erreichten sie ohne Zwischenfall Birseba.

Talbot erstattete Dschevded Bey Bericht; er war mit dem Ergebnis zufrieden. Der Oberst hatte gegen die Exhumierung der beiden Engländer nichts einzuwenden. Aber er drohte Talbot mit dem Finger: »Bald wären Sie nicht wiedergekommen!«

Die nächsten Tage brachten viel Arbeit. Jildirim, das den ganzen Sommer wie ein Verhängnis gedroht hatte, da die Verschiebung grosser Truppenmengen nach Mesopotamien den Nachschub an der Sinaifront notwendig lahmlegen musste, wurde endlich aufgegeben. Am 28. Sep-tember traten die Truppen der bisherigen Sinaifront als Heeresgruppe F unter den Befehl des Generals von Falkenhayn.

Talbot war sehr zufrieden. Er hoffte, dass nun Ordnung in die Sache kommen würde. Da traf ein Telegramm für ihn ein. Erschüttert las er die Worte: »Generalleutnant von Latour heute beim Begehen der Stellungen gefallen. 308. Landwehrdivision.«

Er meldete sich bei Dschevded Bey, erbat mit dessen Zustimmung durch den Hughesfernschreiber bei der Heeresgruppe F Urlaub zur Reise nach Deutschland, und reiste noch am selben Abend mit Wöbke ab.


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