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Talbot wird Herzog von Tokaryszki

Es war Herbst geworden. Ende September 1915 war der Vormarsch überall zum Stehen gekommen. Ermüdete deutsche Truppen lagen stumpfen, teilnahmslosen Russen gegenüber.

Hauptmann Kuntze war Major geworden und nach dem Westen versetzt. Talbot hatte die Abteilung, Leutnant Bickel die dritte Batterie erhalten. Die Division lag in breiter dünner Front in den Sumpfwäldern an der kleinen Beresina.

Talbots Abteilungsstab lag in Tokaryszki, einem Dorf mitten im Wald, das nur aus wenigen Gehöften bestand. Ganz in seiner Nähe lag ein kleiner See.

Die Batterien waren zum Teil zugweise eingesetzt und lagen weit auseinander; auch ein paar schwere Landsturm-Batterien aus den Festungen waren der Gruppe Latour unterstellt.

Talbot musste viel umherreiten. Die geringe Kampftätigkeit beanspruchte ihn nur wenig. Seine Sorge galt den durch den Vormarsch arg mitgenommenen Pferden, der Verpflegung, der Wahrung der Manneszucht, die durch die lange Winterruhe bedroht war. Immerhin blieb Zeit genug zur Jagd, zum Fischen im See, solange der nicht zugefroren war, und zu vergnügten Abenden im Kasino; so wurde die Hütte genannt, in der sich die dienstfreien Offiziere versammelten. Die Likörfabrikanten verdienten Unsummen an der Ostfront.

Talbot baute eine Entlausungsanstalt und ein Bad; eine Sägemühle wurde in Betrieb gesetzt und Bretter geschnitten. Der Wald gab das Holz, und gegen Bretter konnte man alles Mögliche bekommen: Fensterglas, Draht und Dachpappe bei den Pionieren und Schweine bei den Juden in Traby. Plätze im Urlauberzug wurden in hölzerner Valuta gehandelt, und das Proviantamt liess mit sich reden. Für eine Ladung Bretter gab es etwa zehn Sack Hafer oder zehn Büchsenschinken, oder ein Fass Burgunder. Leib Guldenberg in Traby tauschte hundert Buchenbretter gegen ein grosses Schleppnetz ein.

Nun hörte das unrationelle Fischen mit Handgranaten auf. Aus Brettern wurden zwei Kähne gebaut: der Panzerkreuzer »Hartwig Kantorowicz« und der kleine Kreuzer »Mampe«, der am Vordersteven den Elefanten der Firma als Gallionsfigur zeigte. Jetzt wurde mit dem Schleppnetz gefischt, solange der Frost es erlaubte, und Karpfen und Hechte wurden an der Tokaryszkier Börse ebenso gehandelt wie Bretter.

Angesichts seiner bedeutenden See- und Landmacht, um die man ihn nicht wenig beneidete, wurde Talbot in den Fürstenstand erhoben und erhielt den Spitznamen »der Herzog von Tokaryszki«.

Eines Tages wurden den Truppen junge Schweine zugeteilt und abgeliefert, die mit den Abfällen, deren es eine Menge gab, gefüttert und grossgezogen werden sollten. Trotzdem gab es immer wieder grosses Wurstessen beim Stab und bei allen Batterien. Zwar durften die Tiere nur auf Befehl des Divisionsintendanten geschlachtet werden, denn das Fleisch wurde der Truppe auf ihre Ration angerechnet. Aber Talbot wusste sich zu helfen. Leib Guldenberg in Traby hatte rechtzeitig einen geheimen Börsenauftrag bekommen. Nach jedem Schlachtfest fuhr nächtlicher Weile ein Wagen der leichten Munitionskolonne über die einsamen Waldwege und lieferte bei jeder Batterie soviele kleine Ferkel ab, als fette Schweine geschlachtet worden waren. Ein geheimer Ukas Talbots lag bei, in dem erklärt war, dass, nachdem das Gericht der Abteilung die Schweine Adolf, August, Alice, Alarich und Amalaswintha zum Tode verurteilt habe und das Urteil vollstreckt worden sei, nunmehr die mitfolgenden Schweine Balthasar, Bertha, Belisar, Buchanan und Bratwurst zu etatsmässigen Divisionsschweinen ernannt seien. So war man für jede Revision gerüstet. Ausserdem erhielt aus Zweckmässigkeitsgründen der Divisionsstab sowie der weisse Falke jedesmal eine Platte, und aus besonderer Freundschaft der General Rudolf auch eine.

Der weisse Falke hatte sich beruhigt. Er schlief fünfzehn Kilometer entfernt, in Arucewczisna, oder wie Talbot es aussprach: Allesbeczisna, den Winterschlaf. Gelegentliche Sendungen aus Tokaryszki erhielten die Freundschaft. Zwar hatte der weisse Falke das letzte Mal die Rebhühner etwas zäh gefunden, aber, meinte er, das könnte am Koch gelegen haben. »Der hätte schliesslich merken können, dass es Saatkrähen waren«, sagte Talbot zu Dr. Pilukeit. Der Doktor hatte vorgeschlagen, die sorgsam gerupften Vögel als Haselhühner zu deklarieren, aber Talbot war dagegen gewesen: »Er kommt womöglich noch auf den Geschmack!«

Doch immer findet sich ein Vorgesetzter, der den Seelenfrieden der Unterführer stört. Als nach dem Fall der russischen Festungen zahlreiche Artilleriestäbe beschäftigungslos waren, wurde ein Oberst Thürmer zum beratenden Stabsoffizier der Artillerie bei dem Korps ernannt, zu dem die Division gehörte. Der beratende Stabsoffizier hatte keine eigentliche Befehlsgewalt, er sollte den Artilleriekommandeuren Vorschläge machen und für die einheitliche Verwendung der Artillerie im Korps sorgen. Zwischen Talbot und dem Oberst Thürmer herrschte sehr bald Kriegszustand. Er sagte von dem Obersten, der Sachse war, dass ihm drei D fehlten: Don, Dämbo und Daggt.

Eines Tages ging durch die Gruppe Tokaryszki folgender Fernspruch: »Agentennachrichten zufolge geht der kommandierende General morgen auf Jagd. Auch der Blinddarm begibt sich auf den Anstand, ein Gebiet, das ihm völlig fremd ist. Der Herzog.«

»Der Blinddarm?« fragte Leutnant Bickel, der bei der Aufgabe des Fernspruchs anwesend war, überrascht.

»Nun ja«, sagte Talbot, »er ist immer gereizt, und kein Mensch weiss, wozu er da ist!«

»Ach!« rief Bickel und lachte hell auf.

Die für Laien unverständliche Mitteilung sagte den Eingeweihten, dass der Feind für den nächsten Tag nicht zu erwarten war und man sich ruhig im Kasino treffen konnte.

Der Feind kam jedoch am übernächsten Tag. Gereizt knurrte er in der Batterie: »Sie sehen so bleich aus, Herr Hauptmann?«

»Zu Befehl«, erwiderte Talbot.

»Sie haben vermutlich gestern gefeiert?«

»Zu Befehl.«

»War auch Herr General Rudolf da?«

»Zu Befehl. Das ist ein Vorgesetzter, den wir alle verehren.«

»Sie sollen so nette Feste veranstalten.«

Talbot kam ein teuflischer Gedanken. »Würden Herr Oberst uns auch mal die Ehre geben?« fragte er.

»Hm, ja. Warum nicht?« Und er zog besänftigt ab.

Acht Tage später war er im Kasino eingeladen. Talbot hatte eine Feuerzangenbowle aus Rotwein und Rum gebraut, seinen Myrmidonen aber Vorsicht empfohlen und sie genau instruiert: »Vorher wird ordentlich gegessen. Wenn der Blinddarm da ist, werden nur Brötchen serviert; er muss voll werden wie ein Zweiundvierziger. Benehmen tadellos korrekt!«

Als es Abend wurde, erschienen die Gäste, die aus entfernteren Quartieren kamen, im Schlitten. Ein mächtiges Feuer brannte in dem gemauerten Backsteinofen in der Ecke der Stube; grosse Holzkolben lagen davor geschichtet. Die mit – aus Zeitungen geschnittenen – Bildern von Heerführern und mit Zeichnungen aus dem Simplizissimus geschmückten Wände waren oben mit grünen Zweigen verkleidet. Rings herum liefen Bänke; sonst sass man auf Hockern aus Baumstrünken. Auf jedem der roh gezimmerten Tische standen zwei Flaschen mit brennenden Kerzen. An Haken hingen Offiziersgürtel und Feldstecher; Reitgerten und Karten lagen umher.

Thürmer trat sehr vergnügt ein. Er war klein und dick; die boshaften wasserblauen Augen in dem roten Gesicht strahlten. Es wurden harmlose Anekdoten erzählt und sogar artilleristische Probleme besprochen, und noch mehr eingeschenkt. Man lachte viel. Der Oberst wurde Immer röter und schnaufte, aber er war in bester Laune. Nach Mitternacht bat er um seinen Schlitten. Talbot verliess das Kasino. Als er zurückkam, sagte er in streng dienstlicher Haltung: »Es tut mir leid, Herr Oberst, aber der Fahrer von Herrn Oberst ist nicht wohl; einer meiner Leute wird fahren.«

»Der Gerl ist wohl besoffen?«

»Zu Befehl, Herr Oberst; er ist auch blau.« Dieses »auch« war die einzige vielleicht nicht ganz korrekte Wendung an diesem Abend.

Es war Wöbke, der die Zügel des Rappen in Händen hielt, als der Oberst ein wenig schwankend aus der erleuchteten Türe trat und in Talbots Schlitten kletterte. Die Herren, die ihm respektvoll das Geleite gaben, grüssten. Wöbke schnalzte und fuhr los. Der Rappe griff aus, und der Schein der Laternen glitt zwischen den schneebedeckten Tannen hin und schwand.

Zwei Stunden später kam Wöbke zurück. Er meldete: »Ich habe den Herrn Obersten leider zweimal umgeworfen. Es ist nichts geschehen. Er hat furchtbar geflucht. Aber ich konnte nichts dafür«, sagte er treuherzig.

»Schon gut, Wöbke. Trink erst mal'n Glas Punsch auf den Schreck, und hier sind Zigarren für Dich. Nu schieb' ab!«

Am andern Morgen klingelte das Telefon. Der Fernsprecher an der Vermittlung meldete: »Herr Hauptmann von Latour für Herrn Oberst Thürmer!«

»Latour!«

»Ach, mein lieber Latour, ich habe gesdern bei Ihrem Hause in der Dungelheit ein wichdiges Schriftstück zu einem ganz andern Zweck benutzt. Dun Sie mir, bitte, die Liebe, es suchen zu lassen, und mir zuzuschicken.

»Gerne Herr Oberst.«

Wöbke wurde mit dem heiklen Auftrag betraut, und das gefundene Papier mit der gebotenen Vorsicht in eine Konservenbüchse getan. Die Büchse wurde in Papier gewickelt, zugebunden und an vier Stellen mit dem Siegel der Abteilung versiegelt. Wöbke überbrachte das Päckchen, die Aufschrift lautete:

Herrn Oberst Thürmer,
Hochwohlgeboren.
Ganz geheim! Nr. 418
Nur durch Offiziere zu bearbeiten!«

Thürmer konnte es nicht ertragen, wenn die Truppen in den ausgebauten Stellungen Ruhe hatten. Sie mussten beschäftigt und die Stellungen umgekarrt werden. Da der weisse Falke

zu den »Radfahrern« gehörte, die sich nach oben bücken, nach unten treten, so war er ihm meistens zu willen. Als Tauwetter eintrat, musste die dritte Batterie eine neue Stellung dreihundert Meter weiter rechts beziehen, die genau so im Sumpf lag wie die frühere.

Am Tag nach dem Umzug erschien der Oberst in der Stellung. »Schönes Wetter, Herr Hauptmann,« sagte er zu Talbot, der als Abteilungskommandeur zur Besichtigung befohlen war.

»Sehr schönes Wetter«, antwortete Talbot.

»Gestern war auch schönes Wetter.«

»Zu Befehl.«

»Vorgestern auch.«

»Wunderschön, Herr Oberst.«

»Ja, dann verstehe ich nicht, warum Ihre Garren so dreckig sind ...«

Talbot versuchte zu erklären, dass Geschütze, die eben von fünfzig Mann an Tauen dreihundert Meter weit durch aufgeweichte Erde und tiefe Schmutzlachen geschleppt worden sind, davon Spuren tragen. Aber der Oberst unterbrach ihn: »Schon gut. Ich danke Ihnen. Ich will Sie Ihrer Schweinezucht nicht länger entziehen.«

Sowie Thürmer gegangen war, setzte Talbot den Helm auf und ritt zum Oberst von Freyer. Er bat ihn, den Vermittler zu machen, da er sich über den Oberst Thürmer beschweren wolle. Der weisse Falke wand sich und bat Talbot zuletzt, von einer Beschwerde abzusehen. Talbot ritt zur Division, liess sich beim Major Meister melden und stellte die gleiche Bitte. Der Major aber sagte: »Ach lassen Sie die Beschwerde. Der Kerl redet sich raus und hackt dann noch mehr auf Ihnen rum. Sie werden es ihm schon besorgen. Da bin ich ganz beruhigt.«

An den langen Kasinoabenden, an denen Talbot notdürftig Skat spielen und Mauscheln lernte, wurden finstere Rachepläne geschmiedet. Eines Tages war Oberst Thürmer wieder zur Besichtigung der dritten Batterie gemeldet. Als er Tokaryszki passierte, meldete Leutnant Liebgen dies auftragsgemäss nach der Batterie.

Dort stand Talbot mit dem Leutnant Bickel und trat von einem Fuss auf den andern. Als die telefonische Meldung aus Tokaryszki kam, sagte er zu Bickel: »In zwanzig Minuten ist der Blinddarm hier. Die Russen sind vollkommen zuverlässig?«

»Ehrensäbel, Herr Hauptmann!«

»Also los!«

Bickel liess einige Lagen auf die russische Batterie bei Nowosiolki feuern. Nach zehn Minuten erwiderten die Russen das Feuer. Sie schossen schwere Granaten auf eine Wegegabelung, etwa vierhundert Meter hinter der Batterie. Gerade als der Oberst mit seiner Begleitung an der Wegkreuzung angelangt und abgesessen war, schlug die erste russische Granate etwa fünfzig Meter vor ihm ein. Alle sechs Pferde stiegen hoch, rissen sich los und rasten davon. Mühselig im tiefen Kot liefen die Reiter hinterher. »Der Blinddarm ging als letzter mit«, pflegte Talbot später zu erzählen. Soviel hatte er beim Spielen gelernt.

Als die Pferde endlich wieder eingefangen waren, kam der Oberst mit beträchtlicher Verspätung zur Batterie. Pferde, Zaumzeug und Uniformen starrten von Schmutz. Die ganze Gegend war ein einziger Morast.

Er blieb nicht lange. »Mit Ihrer verfluchten Schiesserei reizen Sie nur die Russen«, sagte er.

»Zu Befehl«, erwiderte Talbot.

Als er abritt, erklang ein Grammophon in der Batterie. Giampietros Stimme sang laut und freundlich:

»Warum nimmste denn den Hut?
Warum bleibste denn nicht hier?
Hast's doch nirgendwo so gut
Wie bei mir!«

Oberst Thürmer ist nie wieder zur dritten Batterie gekommen.


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