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35. Ein Erwachen

Wieder fegte der Sturm der Weltgeschichte heulend über das Land und wirbelte die kleinen Menschenschicksale durcheinander, die einen mit lautem Jauchzen empor fast bis zum Himmel, die andern hinunter in eine Hölle des Elends, wie dürres Laub in Novembernächten. Leicht ist es nicht, dem einzelnen Blättchen in seinem tollen Kreisen zu folgen, mag man es auch bald da, bald dort auf Augenblicke erhaschen. Aufgepaßt! Vier, fünfmal jagte es an uns vorüber, das helle, gelbe, das sich so munter um sich selbst dreht. Jetzt sollte es wieder kommen; doch wir suchen, wir warten umsonst. Es ist fort, auf Nimmerwiedersehen. –

Auch die Württemberger hatten endlich die russische Grenze erreicht und standen schon seit drei Tagen auf dem Höhenzug am Niemen, Kowno gegenüber, wo über drei Pontonbrücken die Große Armee, welche Europa dem Kaiser gestellt hatte, den Boden Rußlands betrat. Der kleine Sergeant Berblinger hatte zu schweigen, aber es kam ihn bitter an, daß sein Regiment unter Feldmarschall Ney marschieren mußte, den er seit den Tagen von Elchingen so wenig vergessen hatte als die gedrungene Gestalt des Kaisers auf dem Felsen am Kienlesberg. Was half's? Als sie vor dem Ausmarsch die große Revue bei Öhringen abhielten, mußte auch Berblinger ihm zujubeln. Wie sie schrien, die sechzehntausend Mann, viele mit schweren Herzen und knirschenden Zähnen. Aber Berblinger war den Tag zuvor Sergeant geworden und hatte selbst darauf zu achten, daß seine Leute im richtigen Augenblick mit ihrem schwäbischen ›Wif lamperöhr!‹ losbrachen. Es ging leidlich, so daß ihn sogar der General von Scheler im Vorbeireiten mit einem Kopfnicken belohnte. Übrigens konnte man vor ihrem Ney Respekt haben: ein Soldat, wie es nicht viele gab, ein Feldmarschall, der seinen Stab nicht auf einem Parkettboden gefunden hatte. Berblinger steckte schon lange genug in seines Königs Rock, um dies auch bei einem Feind – dies war und blieb ihm jeder Franzose – zu bewundern.

Der längste Mann in seinem Zug machte dem kleinsten Sergeanten im Regiment viel Mühe und Sorge. Der Kerl wollte nicht schreien und schrie nicht; und war dazu ein alter guter Freund seines unmittelbaren Vorgesetzten: Keßler aus Esslingen. Eigentlich gegen die gesetzliche Bestimmung hatten sie ihn ein paar Monate nach seiner Verheiratung vom Schmiedefeuer weggeholt. Einem dienstbeflissenen Schreiber in Stuttgart war die Entdeckung gelungen, daß er seiner Militärpflicht nicht rechtzeitig genügt habe und statt dessen, wer weiß wo, Feuermaschinen und andere Dummheiten nachgelaufen sei. Er konnte das nicht leugnen und sollte nun sechs Jahre dafür büßen. Dazu kam er gerade noch recht, an dem glorreichsten Feldzug des Jahrhunderts teilzunehmen, und wenn er bei der Rückkehr von einem strammen kleinen Jungen begrüßt würde, werde es ihm auch nicht leid sein, sagte man ihm zu Trost.

Wenn Berblinger auf dem Exerzierplatz an ihm hinaufgeschrien hatte, bis er heiser war, saßen sie in irgendeinem Versteck der Kaserne beisammen und sprachen davon, was ihnen seit Kattowitz begegnet war. Keßler hatten den Kopf voll von seinen Feuermaschinen, die man jetzt Dampfmaschinen hieß, war aber ein ruhiger, praktischer Mann geworden, der keine Lust verspürte, sich die Finger zu verbrennen. Eine gutgehende Schmiede, bei der Weib und Kind gedeihen konnten, das war sein Ziel. Die Feuermaschine möge dann in etlichen fünfzig Jahren der Junge bauen, den er erwartete, oder der Bub seines Jungen. Wenn er das als Großvater erleben sollte, wollte er zufrieden sein. Nun mußte freilich die verfluchte Kriegsfurie dazwischenfahren – hol' sie der Teufel, samt Kaiser und König! –, und er konnte darauf rechnen, fünf, sechs Jahre zu verlieren, selbst wenn alles aufs beste abliefe. Bei solchen Gesprächen regten sich auch in Berblinger die alten Lieblingsgedanken wieder, daß er förmlich erschrak. Nein! er wollte jetzt nichts mehr damit zu tun haben. Er hatte zu schwer büßen müssen und lag seit einem Jahr mit gebrochenen Flügeln am Boden. Er durfte froh sein, als Feldsoldat noch eine Zeitlang umherzukriechen wie andre Leute. Ikare, Ikare! summte es ihm wieder gelegentlich in den Ohren. Es wäre doch schön gewesen, und kommen mußte es ja einmal.

Auf dem langen, mühseligen Marsch quer durch das alte deutsche Reich, von dem jetzt niemand mehr etwas wissen wollte, gab es Stunden genug, diesen Dingen nachzuhängen, und die Freundschaft zwischen dem kleinsten Sergeanten und dem längsten Gemeinen des Regiments wurde derart, daß beide, wenn irgend möglich, in dasselbe Quartier zu kommen suchten. Dies war auch am Niemen gelungen, wo sie sich in einer kleinen, in die Erde eingegrabenen Hütte außerhalb des überfüllten Dorfes leidlich eingerichtet hatten. Schon seit drei Tagen warteten sie, bis es für die Nachhut Zeit war, die Brücken zu betreten, über die ein ununterbrochener Strom von Truppen aller Gattungen hinzog, um mit fliegenden Fahnen und lautem Siegesjubel das jenseitige Ufer zu betreten.

Das war das schlimmste für die Württemberger, daß sie mit zwei Divisionen Franzosen, meist Elsässern und Lothringern, die Nachhut der Großen Armee bilden mußten. Überall fanden sie halbverwüstete Quartiere, ausgehungerte, verzweifelnde Bewohner, die mit stumpfer Gleichgültigkeit zusahen, wie ihnen das Letzte genommen wurde, wenn es ein Letztes zu nehmen gab.

Die Not fing schon in Ostpreußen und Polen an, und trotz der feinen Sommertage war bereits ein Drittel der Leute erschöpft zurückgeblieben. Selbst ihr Kronprinz, von dem die Württemberger viel erwarteten, hatte ernstlich erkrankt das Kommando dem General von Scheler übergeben und seine Truppen verlassen. Ein böser Anfang des glorreichen Feldzugs.

Es war ein herrlicher Juniabend. Berblinger und Keßler saßen auf einem vor ihrer Hütte liegenden Baumstamm und sahen aus der Ferne der Bewegung auf den Brücken zu, die noch nicht zum Stillstand gekommen war, als mit klingendem Spiel am andern Ende des Dorfs ein französisches Infanterieregiment einrückte und sich wenige Minuten später auflöste, um Quartiere zu suchen, so gut es gehen wollte.

Ein großer hagerer Mann mit einem grauen Knebelbart und einem echt französischen Soldatengesicht näherte sich der Hütte. Es war ein Sergeant, dem zwei Gemeine den Tornister und ein Kiste nachtrugen. Der Mann sah die beiden Württemberger verächtlich an, sagte in ausgeprägtem Elsässer Französisch: »Parbleu! Das Haus ist mein Haus! Eintreten!« und stieß mit dem Fuß die Türe auf, die krachend nach innen fiel.

Berblinger schnellte in die Höhe, Keßler erhob sich langsam.

»Das Haus ist mein Haus«, sagte der kleine Schwabe mit unterdrückter Wut. »Wenn Ihr es haben wollt, müßt Ihr uns zuvor hinauswerfen.«

Dreißig Schritte weiter rückwärts standen ein Russe und sein Weib, er mit einem, sie mit zwei Kindern im Arm, und sahen mit scheinbar völlig gleichgültiger Miene der Entscheidung entgegen, wem ihr Haus zufallen würde. Unter den stumpfen Zügen regte sich ein heimliches Lachen: die Hoffnung, daß sich die Herren in die Haare geraten möchten.

Es kam aber anders. Der Franzose hatte Berblinger mit einer blitzartigen Bewegung den Tschako vom Kopf geschlagen, Keßler dem Franzosen mit ruhiger Energie den gleichen Dienst erwiesen, als dieser plötzlich laut aufschrie:

»Berblinger! Sacré nom de dieu, Prätle von Ulm!«

»François!« lachte Berblinger, kaum weniger erfreut. »Donnerwetter, wo kommst du her?«

»Geradewegs von Straßburg. Soll mich der Teufel holen, wenn mich das nicht freut!«

Damit war die alte Bekanntschaft erneuert und eine Art von Freundschaft schoß auf dem ungastlichen Boden in die Halme, die auf der heimatlichen Scholle nie hätte gedeihen können. Keßler stülpte zunächst eigenhändig dem Elsässer den Tschako wieder auf den Kopf, während dieser Berblinger umarmte und küßte, daß der kleine Schwabe den Grund unter den Füßen verlor. Dann wurde rasch die Einrichtung der Hütte umgeändert, vor derselben ein Feuer angezündet, des Russen Kessel darüber gehängt und ein großes Stück Hammelfleisch abgekocht, das François mitgebracht hatte. »Wir wissen uns besser zu verproviantieren als ihr dummen Schwaben«, erklärte er lachend, während er seinem alten und neuen Freund mit gerechtem Stolz große Stücke Fleisch vorlegte. Er war in der besten Laune. Selbst dem Russen und seinem Weib, die noch immer wortlos aus der Ferne zusahen – ihr heimliches Lachen war längst geschwunden –, warf er einen Knochen zu, der noch nicht völlig abgenagt war. Dann entließ er mit einer gnädigen Handbewegung die zwei Mann, die seine Kiste getragen hatten, und lud gleichzeitig seine schwäbischen Freunde ein, auf ihrem Baumstamm wieder Platz zu nehmen und das Treiben auf den Brücken des weiteren zu beobachten, wo jetzt zahllose Feuer und Pechfackeln den Siegeszug der Großen Armee beleuchteten.

Der Franzose brachte Leben in die einsilbige Unterhaltung der beiden Schwaben. Nachdem sie sich ihre seitherigen Erlebnisse in aller Kürze erzählt hatten, begannen sie nach ihrer Art zu philosophieren. Es war keine üble Anregung hierfür: der Menschenstrom in der Ferne, dessen dumpfes, einförmiges Murmeln zu ihnen herüberdrang, nur manchmal unterbrochen vom Wirbeln der Trommeln oder dem triumphierenden Aufschrei einer Trompete. François zeigte nach dem jenseitigen Ende der mittleren Brücke, wo das größte Feuer brannte und man das unruhige Blitzen der Waffen vorüberziehender Truppen zu sehen glaubte.

»Dort steht der Kaiser seit zwei Tagen und sieht seine Kinder vorüberziehen!« rief er mit flammenden Augen. »Welch ein Mann, der kleine Korporal, zu dessen Füßen die Welt liegt. Was sagst du dazu, Berblinger? Die Größe hättest du und das Fliegen hast auch du versucht. Welch ein Stolz, seinen Adlern zu folgen! Gestern hat er den Polen die Freiheit gebracht –«

»Wie er sie den Deutschen brachte«, unterbrach ihn Keßler.

»Was verstehst du davon!« lachte der Elsässer, ohne ärgerlich zu werden. »Siehst du nicht, daß tausend Freudenfeuer seine Straße beleuchten. Voilà la liberté scheinen sie mir in die russische Nacht hineinzurufen; voilá la gloire rufen sie uns zu. Hört ihr nichts?«

»Mir wäre ein Feuer genug«, sagte Keßler trocken. »Mein Schmiedefeuer. Und wenn heute meine Lore unsre Suppe daran kochte, gäbe ich alles gloire der Welt drum.«

»Schneckenhäusler und Schlafhauben!« brauste der Elsässer auf. »Du solltest daheim geblieben sein in deinem alten verlotterten Reichsstädtchen! Parbleu, hast du keinen Sinn dafür, wenn dir der Kaiser Russenfleisch zu fressen gibt? Da lob' ich mir den Berblinger. Der hat es wenigstens versucht, etwas höher hinaufzuflattern, ist freilich nicht weit gekommen. Dafür ist er jetzt Sergeant in der größten Armee der Welt, hat den Marschallstab im Tornister und folgt einem Führer, der mir, à moi, schon bei Elchingen die Hand gedrückt hat. Voilà la gloire, Messieurs!«

»Sonderlich weit bist du dabei auch nicht gekommen«, meinte Keßler mit unzerstörbarer Ruhe.

»Das kommt noch«, versetzte François leichthin. »Morgen marschiert mein Regiment über die Brücke, und ihr hinterher. Früher, hab' ich mir sagen lassen, habt ihr Schwaben die Reichssturmfahne vorangetragen. Nun könnt ihr hintendrein laufen. Das habt ihr von euren Suppen und Schmiedefeuern. Etliche unter euch sind anders; zugegeben! Als ich in Heidelberg in Arbeit stand, hab' ich ein Lied gehört, mit dem man weit kommen kann: ›Ich hab' mein Sach auf nichts gestellt!‹ Vive la liberté! Hier oben, etwas abseits vom Weg, kann ich schreien, was ich will; es hört uns niemand, und morgen geht es mit einem Vive l'Empereur! über die Brücke! He Berblinger! Der Mann dort unten zeigt der Welt, was Fliegen heißt!«

Er hakte eine große Schnapsflasche los, die an seinem Tornister hing, und schwenkte sie gegen die Brücken hinüber, auf denen ein Licht nach dem andern erlosch. Auch die glorreichste Armee konnte nicht ewig marschieren.

 

Voilà la gloire! Borodino! Die zweite blutige Schlacht war geschlagen, der zweite große Sieg des Riesenfeldzugs gewonnen, die Russen in vollem Rückzug; nichts mehr zwischen der Großen Armee und Moskau, dem Ziel ihrer Adler, dem Ende ihrer Not. Ja, ihrer Not. Von den 15 800 Württembergern, die vor einem halben Jahr die Grenzen des Ländchens überschritten hatten, waren nach Smolensk noch 1400, nach Borodino noch 800 Mann kampffähig. Das waren grauenhafte Zahlen; nur gut, daß wenige davon wußten, niemand davon sprach.

Ein Glück war es für den Leutnant Berblinger – seit der Schlacht von Smolensk war er Leutnant –, daß er seine Wunde neben einem zusammengeschossenen Furagewagen empfing. Keßler fand ein paar Pferdedecken, aus denen sich ein leidliches Lager herstellen ließ, und der Wagen selbst gab Brennholz für sechs Wachtfeuer. Um das ihre lagerte sich ein Dutzend Leute, meist Württemberger, die einschliefen, fast ehe sie den Kopf auf den Tornister gelegt hatten; darunter auch etliche Franzosen. Es war noch alles in Verwirrung, und erst gegen Morgen fanden sich die Leute wieder bei ihren Regimentern zusammen. Derartige Siege waren auch dem Kaiser neu.

Kein Wunder; ein furchtbarer Tag lag hinter allen. Der Donner der Geschütze und das Geknatter des Gewehrfeuers summte betäubend noch jedem stundenlang in Kopf und Ohren, nachdem es verstummt war. Was nicht summte und nicht verstummen wollte, war das Stöhnen, die Schmerzensrufe der Verwundeten, die zu Tausenden auf der Walstatt umherlagen und denen in dieser Nacht nur der Tod Erlösung bringen konnte. Dreitausend Mann hatte den Kaiser der Sieg gekostet; wie teuer die Russen ihre Niederlage bezahlten, weiß man heute noch nicht.

Schonungslos wurden die deutschen Truppen den russischen Feuerschlünden entgegengeworfen. Sie gingen ohne Schwanken. Marschall Ney, der Held des Tags, wußte seinen Soldatengeist auch in den Widerstrebendsten zu wecken, eine Massenhypnose, die noch kein Psychiater erklärt hat. Die Kampfeslust, die in jedem Manne wie in jedem reißenden Tier schlummert, erwachte selbst in denen, die sich auf dem langen mühseligen Marsch hundertmal mit Bitterkeit gefragt hatten, weshalb und wozu sie dem fremden Eroberer Blut und Leben opfern sollten. Von sieben Uhr früh bis drei Uhr nachmittags dauerte das Morden. Der eiserne Marschall Davoust, die Generale Desaix und Compans, auf russischer Seite der Fürst Bagration fielen schwerverwundet. Wieder und wieder wurden die Bagration-Schanzen bei Semenowskoi, die Rajewski-Schanze beim Dorf Borodino erobert und verloren. Wie vom Wahnsinn ergriffen, stürmte schließlich Mann gegen Mann, schweißbedeckte, pulvergeschwärzte, blutbefleckte, zerfetzte Gestalten, die nicht mehr wußten, was sie taten, nichts mehr hofften, nichts mehr fürchteten. Endlich, gegen drei Uhr, wurde der tosende Lärm schwächer. Die Adler der französischen Armee, die zerfetzten Fahnen der Deutschen winkten von den zerschossenen Schanzen. Die Leute sanken erschöpft zu Boden, wo sie waren. Erst nach Stunden begannen sie sich wieder zu sammeln, zu ordnen, und sahen von den erstürmten Höhen todmüde den Russen nach, die in leidlicher Ordnung gegen Moskau hin abzogen, während die kaiserliche Garde mit klingendem Spiel über das Schlachtfeld hinzog. Das war die noch ungeschwächte Reserve der Großen Armee, die der Kaiser für künftige Schlachten schonte.

Dann breitete die Nacht ihren Schleier über die blutige Walstatt. Das Röcheln und Stöhnen der Sterbenden wurde seltener. Viele Tausende hatte der Tod schon erlöst. Die leichter Verwundeten versuchten sich nach Verbandsplätzen zu schleppen, die nirgends zu finden waren, nach Wasser zu rufen. Man mußte, man wollte leben. Und wirklich, das Leben erwachte wieder. Da und dort sammelten sich die zersprengten Leute um ihre Fahnen, da und dort erhoben sich Zelte in unordentlichen Reihen. Kleine Gruppen bildeten sich um Feuer, über denen bereits Kessel hingen. Einem Bach entlang entfaltete sich ein buntes Lagerleben, noch ehe die Nacht völlig hereingebrochen war. Aber es gehörten gute Nerven dazu, in dem grausigen Jammer des wimmernden Schlachtfeldes die Alltagsarbeit wieder aufzunehmen.

Berblingers Verwundung war nur ein häßlicher Lanzenstich im linken Oberarm, nichts Gefährliches, und Keßler verstand es, wie die meisten Schmiede, leichte Wunden zu verbinden. Auch fand er in dem zertrümmerten Furagewagen einen Korb voll Brot und einen zweiten, der mit Speck gefüllt war. Das war ein Fund! Am dritten Wachtfeuer hinter dem südlichen Vorsprung der Rajewski-Schanze ging es hoch her. Gelegentlich mußten freundschaftliche Angriffe auf die kostbare Beute und die Trümmer des Wagens abgeschlagen werden, was meist unter lautem Lachen glückte. Wenn nur die vierundsechzigtausend ›Blessierten‹ so ruhig gewesen wären wie die sechzehntausend, die schon still und steif zwischen zerschossenen Kanonen und toten Pferden umherlagen.

Keßler hatte alles besorgt, was für die Nacht geschehen konnte und legte sich neben seinen Leutnant, der sich unruhig hin und her wälzte. Beide waren zu müd und zu aufgeregt, um einzuschlafen. Sie sprachen halblaut miteinander und lauschten in langen Pausen auf die unheimlichen Geräusche, die der schon herbstliche Nachtwind über das Schlachtfeld trug.

»Ich wollte, der Kerl dort hinter den Kanonen hörte auf zu schreien. Was hilft's?« sagte Keßler ungeduldig. »Tut dein Arm noch weh, Berblinger?«

»Hört der auf, fängt ein andrer an«, versetzte der Leutnant. »Mir ist wohl genug, wenn ich mich nicht bewege. Wäre nur der Durst nicht.«

»Dort drüben sitzt François, einen ganzen Schnapskrug zwischen den Beinen. Der Lump findet immer das Beste. Soll ich ihn holen?«

»Laß sein. Ich wollt', ich wäre tot. Da liegen viele Tausende und haben Ruh.«

»Tot? Weshalb?« fragte Keßler.

»Seit ich ein achtjähriger Knirps war, zu Haus auf unsrer Alb«, murmelte Berblinger, als ob er mit sich selbst spräche, »und ein Franzose meinen Vater erschoß, hab' ich sie gehaßt wie nichts in der Welt. Seit mich mein Vater an der Hand nahm – ich konnte kaum gehen – und mir von unsern Bergen herab das Land zeigte: die Teck, den Neuffen, den Staufen und die grünen Hügel und Täler zu unsern Füßen, hab' ich nichts lieber gehabt als die Berge und Wälder der Heimat und nun muß ich für diese Franzosen all den Jammer um uns her durchmachen und mit anstiften. Ist's nicht zum Herzbrechen?«

»Das kommt davon, wenn man den Menschen zuviel Blut nimmt«, brummte Keßler vor sich hin; dann sagte er lauter: »Herzbrechen? Nein, so weit sind wir noch lange nicht, und geärgert haben uns die Russen heute auch. Ich freue mich auf Moskau – weit kann es ja nicht mehr sein – und auf mein Schmiedefeuer in Esslingen und auf mein Lorle. ›Von allen Mädchen so flink und so blank‹ – Donnerwetter, wenn nur der Kerl hinter der Kanone still wäre. Wenn er ein Russe ist, könnt' ich ihm den Kragen vollends umdrehen. Es wäre eine Wohltat für ihn und uns. Den Morgen erlebt er ja doch nicht.«

»Du kannst dir wenigstens die Ohren zuhalten«, sagte Berblinger, selbst leise stöhnend. »Ich bringe den Arm nicht hoch. Und der Durst, der Durst!«

»Donnerwetter, der François muß uns seinen Krug leihen. Der Kerl ist ja schon halb besoffen. Ich geh' und hol' ihn.«

»Horch!« rief Berblinger, sich aufrichtend und Keßler am Mantel packend. Ein wunderliches Rauschen entstand in nicht zu großer Ferne und kam näher: viele Stimmen, lautes Rufen, Klirren von Waffen. Jetzt konnte man deutlich einzelne Worte verstehen: »Vive l'Empereur! Vive l'Empereur!«

Am nächsten Wachtfeuer war auch François aufgesprungen – eine schwarze hagere Gestalt, von der roten Glut grell beleuchtet –, schwang den großen Krug über dem Kopf und brüllte lauter als alle andern: »À Moscou, à Moscou! Vive l'Empereur!« Selbst Keßler sprang auf und schrie mit – das ist die Gewalt der Gewaltigen –, so gut es eine schwäbische Zunge fertigbrachte. Denn fünfzig Schritte von ihnen, in der tiefen Dämmerung kaum erkennbar, sah er den Schein eines weißen Pferdes, darauf eine kleine dunkle Gestalt, vornübergebeugt, wie die eines Schlafenden –: der Kaiser, der noch in später Stunde sein Tagewerk besichtigte.

Alle, die noch konnten, jubelten ihm zu. Nur Berblinger warf sich zurück, drückte sein Gesicht in die Haare des Tornisters, auf dem sein Kopf lag, und sah seine Heimat im Abendsonnenlicht, den Neuffen, die Teck, den Staufen. Vive l'Empereur? Nein, das nicht!

Auch Keßler war gelaufen, um den Kaiser in der Nähe zu sehen. Als er zurückkam, fand er, daß Berblinger eingeschlafen war.

»Um so besser!« sagte er befriedigt, warf sich neben ihn auf den Boden, wickelte seinen Mantel um beide und schlief nach einer halben Minute mit den Toten um die Wette, der Russe hinter den nächsten Kanonen mochte stöhnen, soviel er wollte.

 

Etliche Wochen später standen der kleine Leutnant und sein langer Sergeant wieder beisammen und betrachteten mit verwirrten Blicken ein Bild, dessen sich die Weltgeschichte noch in tausend Jahren erinnern wird. Keßler war am Tag nach Borodino Sergeant geworden, und Berblinger hatte den linken Arm noch in der Schlinge. Das reglementwidrige Verhältnis der beiden hatte zu Anfang des Feldzugs höherenorts einigen Anstoß erregt. Neuerdings aber war auch höheren Orts soviel Reglementwidriges eingerissen, daß man es nicht mehr für der Mühe wert fand, dem Leutnant Berblinger einen Verweis zu erteilen, weil ihn der Sergeant Keßler duzte.

Es schien den Württembergern nach der letzten großen Schlacht, in der sie 600 von ihren 1400 Mann verloren hatten, etwas besserzugehen. Sie sollten nicht ganz zugrunde gehen, und Zersprengte, geheilte Verwundete und Kranke sammelten sich wieder um ihre zerschossenen Fahnen, so daß sie bis auf 2400 anschwollen. Nun aber, am dritten Tag des Brandes von Moskau, brach auch in ihrer Vorstadt da und dort Feuer aus, und nachdem man ein paar Brandstifter – Halbmenschen und wilde Tiere dem Aussehen nach – erschossen hatte, gaben sie auch hier wie drüben um den Kreml weiteren Widerstand gegen das Verhängnis auf. Das war kein Krieg mehr; hier waren die Gewalten der Hölle an der Arbeit, meinten Tausende; oder Gottes, sagte Berblinger, als sie von ihrer Anhöhe herab das furchtbare Bild der brennenden Riesenstadt betrachteten, die sich unter einem blutroten Schleier aus Rauch und Dampf begrub, aus dem an hundert Stellen Feuerzungen zum Himmel schossen. Noch stand der Kreml mit seinen Palästen und Kirchen unberührt im Flammenmeer. Aus einem seiner Fenster, hieß es, sehe der Kaiser schweigend seine hochfliegenden Träume zugrunde gehen. ›Der hatte immerhin einen andern Flug gewagt als der kleine Berblinger‹, dachte Keßler, ›und war im Begriff, einen andern Fall zu tun‹; aber er sagte nichts. Sie sprachen nur in wenigen einsilbigen Worten, nach Schwabenart, obgleich sie klar genug empfanden, was um sie her vorging: ein Gottesgericht, vor dessen Größe ihr eignes Schicksal in Nichts versank.

»Ob wir das überstehen werden?« fragte Keßler mit einem schweren Seufzer. Sie hatten lange schweigend dem fernen, aber deutlich hörbaren Prasseln der Flammen, dem Sausen heißer, erstickender Luftwellen gelauscht, die von da und dort her den Knall eines Gewehrs, das dumpfe Wirbeln von Trommeln, das Schmettern einer Trompete herübertrugen.

»Ich glaube kaum«, versetzte Berblinger, »und danke Gott!«

»Dafür dankst du Gott!« rief der andre zornig. »Was soll das heißen? Ich will heim zu meinem Schmiedefeuer, zu meinem Weib!«

»Um uns her brennen Schmiedefeuer genug«, sagte Berblinger, den die Aufregung der letzten Tage zum Poeten machte. »Ohne Feuer brechen die Ketten nicht, die wir bis hierher geschleppt haben; und im gleichen Feuer schmiedet Gott die Klingen für die Befreiung derer, die es überleben.«

»Überleben! Darauf kommt's an!« versetzte der Schmied trocken, »und die Aussichten sind nicht erfreulich, wenn wir die Hände in den Schoß legen und Sprüche machen. Siehst du, dort kommt einer, der's versteht.«

Es war François, der bis jetzt unverwundet und sichtlich wohlgenährt durch den Feldzug gekommen war. Sein Regiment lag am andern Ende derselben Vorstadt im Quartier, so daß sich die alten Bekannten gelegentlich sahen. Er trug einen hochbepackten Tornister und führte ein Pferd am Zügel, das ihm hinkend und widerwillig folgte, aber ebenfalls mit Beutestücken aller Art schwer beladen war.

»Hallo, Schwaben!« rief er schon von weitem, laut lachend. »Wozu steht ihr da und gafft das Feuer an, anstatt zu retten, was zu retten ist? Dem Mutigen gehört die Welt. Ich komme aus der Hölle dort unten, aber nicht mit leeren Händen. Man muß verstehen, dem Teufel die goldenen Zähne zu ziehen, ehe er beißt. Es sieht schief aus, keine Frage; und sie sprechen davon, daß der Kaiser an den Rückzug denke. Vive l'Empereur! Mir soll's recht sein, ich habe die Talgfresser satt bis an den Hals. Aber ein paar Andenken an den verfluchten Feldzug will ich heimbringen – oder –«

Er verschwand in einer Rauchwolke, die sich aus der nächsten Querstraße heraufwälzte, wo einige Strohdächer, naß wie sie waren, zu brennen anfingen.

»Was denkst du, Berblinger?« sagte Keßler langsam, »wollen wir uns auch nach einem Andenken umsehen? Sie tun's alle.«

»Glaubst du, wir werden vergessen, wenn wir hundert Jahr alt würden, wie Gott heute mit den Franzosen ins Gericht geht?« fragte Berblinger. »Menschenwerk ist das nicht; so straft nur der Allmächtige.«

»Uns mit«, murrte Keßler, indem er sich gegen ihr Häuschen wandte, um seine Sachen herauszuholen. Große fliegende Feuerbüschel fielen schon auf die Strohdächer in nächster Nähe, und an Löschen war längst nicht mehr zu denken.

»Uns mit, wie wir's verdienen!« sagte Berblinger und folgte ihm.

 

Seit zwei Tagen lag die Beresina hinter ihnen. Achtundsechzig Württemberger seien noch über den Fluß gekommen, geschoben, getragen, über brechendes Gebälke, von Eisscholle zu Scholle springend, an dem Schweif halbertrunkener Pferde hängend, mit erstarrten Leichen ans Ufer treibend. Sie sprachen davon, als erzählten sie einen wirren Traum. Die meisten hatten kein Gedächtnis mehr für den entsetzlichen Tag. Viele kamen überhaupt nicht mehr an die Brücke, ergaben sich den nachdrängenden Kosaken und verschwanden in Schnee und Eis des grenzenlosen Reichs.

Jetzt breitete sich unter dem bleigrauen Himmel ein endloses Schneefeld vor ihnen aus, über das der eisige Nordwest spitze Flocken jagte, die ihnen wie Hagelkörner ins Gesicht schnitten. Am Horizont, in weiter, weiter Ferne, sah man ein schmales schwarzes Band, das immer weiter zurückzuweichen schien. Das war Wald. Den Weg konnten sie nicht verfehlen, obgleich der frischfallende Schnee jede Spur rasch verwischte. Hier lag ein Tschako, dort stak eine Muskete aufrecht im Schnee, hier erblickte man, von Wölfen oder Soldaten frisch ausgegraben, die Reste eines Pferdes, dort erhob sich ein mit dem Leichentuch der Natur bedecktes Häufchen, das noch gestern sechs lebende Menschen gewesen war; all das in einer leicht übersehbaren Strecke von hundert Schritten. Und so ging es fort, meilen- und meilen-, tage- und tagelang.

Die Württemberger gehörten auch jetzt wieder zur Nachhut der Großen Armee, die Ney kommandierte. Welche Nachhut! Von einem Kommando hatte man seit zwei Tagen nichts mehr gehört. Jeder sah, wie er selbst weiterkam, soweit er noch sehen konnte.

Am jenseitigen, westlichen Ufer der Beresina waren die drei wieder zusammengetroffen. François hatte schon wenige Tage nach dem Auszug aus Moskau sein Packpferd und alle die hübschen Andenken an den glorreichen, aber – wie er zugab – scheinbar nicht glücklichen Feldzug verloren und besaß nichts mehr als die zerlumpten Kleider, in denen er stand, seinen halbleeren Tornister und seine Waffen, wie alle andern, die sich noch weiterschleppen konnten. Da er sein Regiment verloren hatte, schloß er sich den Württembergern an und zog abwechslungsweise jammernd und schimpfend neben den einsilbigen Schwaben her. Sein leichteres Blut und der Galgenhumor, den er sich im Lauf seines buntscheckigen Lebens erworben hatte, verkürzte ihnen manche Stunde, und selbst das ungeheuerliche Pathos seines Jammerns wurde ihnen in den schlimmsten Stunden ein Trost, den sie staunend gelten ließen. Nützlicher aber war die Findigkeit, mit der er in den ausgestohlensten Baracken, in den zehnmal durchsuchten Uniformstücken noch etwas zu entdecken wußte, das für Speise, Trank oder Kleidung verwertbar war. Wenn schließlich nichts, auch gar nichts zur Befriedigung der dringendsten Lebensbedürfnisse in Sicht kommen wollte, so wußte er von den Fischen zu Straßburg, den Spätzle zu Ulm, den Würsten in Frankfurt und den Mehlspeisen in Wien zu erzählen, daß man den Hunger fast vergaß, der in den schmerzhaft zusammenschrumpfenden Mägen wütete.

Doch gab es auch für ihn besonders trübe Tage. Wortlos waren sie heute stundenlang weitergehinkt. Am Morgen hatte François einen Kürassiermantel gefunden, konnte ihn aber bald nicht mehr schleppen, so daß er ihn um einen halben Laib gefrorenen Brotes an Keßler verkaufte, den dieser im letzten Biwak von einem sterbenden Offizier erhalten hatte. Die Hoffnung, noch vor Abend eine größere Ortschaft zu erreichen, die am fernen Waldsaum liegen sollte, schwand. Da und dort sanken ganze Trüpplein von Soldaten wie auf Verabredung zu Boden, um sich, dicht zusammengedrängt, für die Nacht einzurichten. Noch eine halbe Stunde lang konnten sich die drei weiterschleppen, dann mußten auch sie daran denken, sich irgendwo im Schnee einzugraben; der Waldsaum war nicht mehr erreichbar.

Da plötzlich schwenkte François nach links ab. Er hatte eine kleine Erhöhung bemerkt, die ihn anzog. Berblinger und Keßler, völlig abgestumpft vor Hunger und Kälte, fragten nicht und setzten ihren Weg fort. Dann hörten sie ihn rufen und sahen, daß er winkte.

»Er hat wieder etwas gefunden«, sagte Keßler müde; »es gibt keine Lumpen auf Gottes Erdboden, die nicht schließlich zu etwas gut sind. Wir dürfen froh sein, daß er uns den Teufelskerl geschickt hat.« Damit zogen sie François nach.

Er hatte in der Tat etwas gefunden: ein totes, vom Schnee schon völlig bedecktes Pferd, das fast noch warm zu sein schien. Dies war wohl eine Täuschung, aber auch eine Täuschung dieser Art war eine Wohltat. Rasch war neben dem Pferd ein Loch in den Schnee gegraben und ein Damm um das Loch aufgeworfen, der den schneidenden Wind abhielt. Dann gingen sie alle an die Arbeit, Stücke aus den fleischigen Teilen des Tieres zu säbeln. Niemand, außer einer Schar Krähen, die über ihren Köpfen kreiste und heftig zu protestieren schien, beachtete sie. Der lange, zerrissene Zug des Heeres bewegte sich in der Dämmerung noch immer langsam an ihnen vorüber. Er erschien von Horizont zu Horizont wie eine endlose, dünn punktierte Linie auf weißem Grund: Krüppel und Lahme, Sterbende und Halbtote; da und dort eine Standarte, eine Fahnenstange mit einem bunten Fetzen des alten Tuches, eine Gruppe Pferde mit hängenden Köpfen, jeden Augenblick bereit, in die Knie zu stürzen, hier und da ein schwerbeladener Schlitten; keine Kanone mehr!

Sie aßen nicht zum erstenmal rohes Pferdefleisch. Es war erträglich mit einem Stück gefrorenen Brotes, wenn es noch frisch und fast warm war und wenn man trockenes Pulver darauf streute. Es erinnerte François an gepfefferte Nieren, die man, wie er behauptete, im Luxemburgischen besonders gut zuzubereiten verstehe. Zum Schluß zog er eine kleine Flasche aus der Tasche, die ihm an der Beresina ein sterbender General geschenkt habe, und goß jedem ein paar Tropfen Branntwein auf die letzte Brotkruste, die sie besaßen; so weit reichte der Inhalt. Dann breitete er Keßlers Kürassiermantel auf dem Boden der Grube aus, legte sich mitten darauf und lud seine beiden Freunde ein, rechts und links von ihm Platz zu nehmen. Sie gehorchten. Die eignen, böse zerrissenen Mäntel dienten als Decken, und die Tornister – auch der Leutnant trug wieder einen solchen – waren keine schlechten Kopfkissen. Aber es war bitter kalt und der Wind fegte den Schnee über die Grube weg, daß der Nachthimmel ganz weiß aussah. So weit half der kleine Schneedamm; nicht weiter.

»Wenn uns mit Gottes Hilfe heute Nacht der Teufel holt, soll mich's freuen«, brummte François, schon halb im Schlaf. »Drei Seelen für einen guten warmen Ofen, der Handel läßt sich hören!«

»Du, Elsässer«, sagte Keßler nach einer Pause, mit den Zähnen klappernd, »gibt der Berblinger warm?«

»Wie ein Eiszapfen von dreißig Zentimeter Länge«, antwortete François. »Er ist zu nichts zu brauchen; das war schon in Ulm so.«

»So wär' es am besten, wir nähmen ihn in die Mitte«, meinte der Schmied in gleichgültigem Ton; »dann hat wenigstens einer etwas von dem Dreigespann, mit dem du zur Hölle fahren willst.« Damit erhob er sich und legte sich auf der andern Seite von Berblinger nieder. Dieser drückte seinem Freund unter dem Mantel stumm die Hand. Er war fast nicht mehr imstande ein lautes Wort zu sprechen, aber er empfand die neue Anordnung ihrer Schlafstelle als eine große Wohltat.

»Berblinger«, sagte der Sergeant nach einiger Zeit, »schläfst du?«

»Nein. Was gibt's?«

»Betest du manchmal?«

»Das hab' ich schon als kleines Kind gelernt.«

»Ich auch; aber man vergißt's auf der Wanderschaft. Mein Lorle hat mir's wieder beigebracht, seit wir verheiratet sind, aber es geht noch schlecht. – Herr Gott, wären wir jetzt an meinem Schmiedefeuer in Esslingen; der Wind geht einem durch Mark und Bein. Bet etwas.«

»Das Vaterunser?«

»Ist mir alles gleich. Du kannst etwas von unsern Sünden sagen, wenn du willst. Wir müssen sie gehörig büßen, denk' ich. Aber das schickt sich, wenn wir von unserm Herrgott etwas wollen. Ich möchte heute nicht einschlafen, eh' du etwas gebetet hast; du hast's studiert.«

»Es braucht kein Studieren. Mir ist's auch zumut, als ob's nötig wäre. Herr Gott im Himmel! Wir sind allzumal faule Knechte gewesen.«

»Du«, unterbrach ihn Keßler, »das scheint mir kein guter Anfang zu sein. Es muß ihn gegen uns einnehmen.«

»Aber es ist wahr genug«, sagte Berblinger; »wir lägen sonst nicht hier im Schnee, um zu sterben... Wir sind allzumal faule Knechte gewesen und ermangeln des Ruhms, den wir vor dir haben sollten. Du bist unser Vater. Tu mit unserm Leib nach deinem Willen und sei unsrer Seele gnädig.«

»Aber ich möchte heim! Heim zu meinem Schmiedefeuer, zu meinem Lorle!« Der große Mann hub an, leise zu schluchzen, das erstemal seit seiner Lehrzeit. Auch seine eisernen Nerven gaben endlich nach.

»Wir sind auf dem Weg«, tröstete Berblinger. »Er wird uns heimbringen, Keßler – alle!«

»Meinst du? Bete noch etwas.«

»Und erlöse uns vom Übel, denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Amen.«

»Das gefällt mir besser. Erlös uns vom Übel!« flüsterte der Schmied. »Das geht gegen den Napoleon, den gottverfluchten Halunken!«

»Vive la liberté! Vive la gloire! Vive l'Empereur!« murmelte François, schon im Schlaf. Dann schwiegen sie alle drei, und der Schnee fegte über sie weg, ein wollendes weißgraues Leinentuch, wie über tausend andre, die sich entlang der großen Heerstraße gebettet hatten.

Als Berblinger im Morgengrauen die Augen aufschlug, glaubte er den Kopf eines Wolfes über sich zu sehen, der die Zähne fletschte. Es war aber das Gesicht eines Kosaken, der sehen wollte, ob der Leutnant auch tot war. Er lag nämlich zwischen zwei Leichen und war gefangen.

 

Tausende erlebten ähnliches in jenen Tagen und fanden's nicht der Mühe wert, viel Wesens daraus zu machen. So braucht auch nicht erzählt zu werden, wie alles kam: Wie Berblinger vierzehn Tage lang von den Kosaken hin und her geschleppt wurde und ihnen schließlich mehr verlorenging als entwischte, wie er sich von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt durchschneiderte und mit seiner Nadel weiter kam als der Kaiser Napoleon mit sechshunderttausend Bajonetten und Säbeln, wie er sich dabei erholte und seinen Weg mit kunstgerecht geflickten Pelzröcken und Beinkleidern nach westeuropäischem Schnitt sozusagen pflasterte, so daß er nicht einmal als ganzer Bettler die schlesische Grenze überschritt und mit jubelndem Herzen wieder deutsche Laute hörte. Und was für Laute!

Es war nämlich mittlerweile Frühling geworden im deutschen Lande; noch ein unsicherer stürmischer Frühling, aber doch Sonnenschein da und dort und eine innere Wärme, wie man sie seit Jahrhunderten nicht mehr gekannt hatte; das Erwachen nicht allein der toten Natur, sondern eines lebendigen Volks, welches – wie man fürchtete – verlernt hatte zu glauben und zu hoffen, und nun wieder glaubte, hoffte und liebte. Trüpplein junger Leute zogen den Feldwegen und Heerstraßen entlang, ältere, gereifte Männer mit ihnen. Sie sangen Frühlingslieder mit ernsten Gesichtern und fröhliche Schlachtlieder; sie bissen die Zähne zusammen und trockneten verstohlene Tränen. Denn eine dunkle Zukunft lag vor ihnen, und das Scheiden tut weh, wenn man dem Tod entgegengeht. Alle Welt wußte nämlich von den vierhunderttausend, die unter russischem Schnee begraben lagen, was napoleonische Kriege waren. Trotzdem sangen sie, und ein innerer Jubel trieb sie vorwärts. Sie fühlten in allen Gliedern, daß ein Völkerfrühling angebrochen war. Endlich hatte auch ihr König gerufen. Das Volk stand auf.

Dem ersten dieser Trüpplein, dem Berblinger begegnete, schloß er sich an und hörte, von was sie sangen. Wie es ihn packte! Endlich, endlich! Es war ihm, als ob was kommen mußte, aus seinen frühesten Kindererinnerungen herauswüchse. Die Franzosen vertreiben, die in seiner Mutter Garten eingebrochen waren, die Franzosen erschlagen, die ihm den Vater erschossen hatten. Endlich, endlich!

Vergessen war, was er hinter sich hatte: die Hunderte von Meilen mühseligen Wanderns durch verschneite Wälder und Sümpfe, Hunger und Durst, die halb erfrorenen Zehen und der kaum geheilte Lanzenstich im Arm; auch die Leutnantsuniform, die längst an einem russischen Nagel hing. Er wurde wieder Gemeiner: freiwilliger preußischer Gemeiner im ersten Regiment, auf das sein Trüpplein stieß. Man machte nicht viele Umstände im Taumel jener Tage, und Berblinger war jetzt ein Mann, der seinen Wert hatte. Denn er konnte schießen und hatte mehr Pulver gerochen, als alle andern in seiner Kompagnie zusammen. Nach acht Tagen war er wieder Unteroffizier, und nie war ihm so zumut gewesen, als ob ihm Flügel wüchsen, als in jenen Frühlingstagen. Alles lebte in ihm auf; auch an sein altes Ulm dachte er wieder ohne Grauen. Wie ihn die Gewißheit hob, daß auch für die ferne Heimat die Stunde der Befreiung kommen mußte! Ja, auch er glaubte wieder. Wenn er nur Flügel hätte – vier Flügel!

Vorläufig wollte er daran nicht denken. Es galt ernste blutige Arbeit, und der Völkerfrühling hatte noch manchen Wintersturm vor sich, der ihm Hagel und Regen ins Gesicht schleudern sollte; Kugelregen und bleiernen Hagel. Bei Lützen hörte er zum erstenmal wieder die Kanonen donnern und das Geknatter des Gewehrfeuers und konnte seinen jungen Kameraden zeigen, was sich ein Veteran von Smolensk und Borodino daraus macht. Dabei wäre er um ein Haar samt seinem ganzen Zug gefangengenommen worden. Es lief noch gnädig ab, und er erhielt für seine hervorragende Tapferkeit einen scharfen Verweis. Er machte sich so wenig daraus als alle andern aus der unangenehmen Tatsache, daß die erste Schlacht im neuen Krieg verloren wurde. Man wußte jetzt, daß die jungen Truppen standhalten würden, wenn es menschenmöglich war. Drei Wochen später, nach Bautzen, wurde er wieder Leutnant, obgleich er nach der Schlacht nur noch die Hälfte seines Zuges vorführen konnte. Sie waren in sinnloser Verwirrung ihrem kleinen Feldwebel nachgelaufen, mitten hinein in das Kartätschenfeuer einer sächsischen Batterie, und hatten vier Kanonen erobert. Man sprach vom Eisernen Kreuz. Hierfür aber war der Schwabe doch noch nicht preußisch genug und überdies hatte man die Kanonen zurücklassen müssen. Denn auch die zweite Schlacht gewannen – unbegreiflicherweise! – die Franzosen. War denn kein Gott im Himmel, fragten die zu Haus Gebliebenen.

Doch keiner von denen, die dabei waren, fragte so. Nun hatten sie auch gründlich gelernt, fürs Vaterland zu sterben. Außer seinen Flügeln, die ihm jetzt immer wieder durch den Kopf gingen, sonderlich auf den langen Rückzugsmärschen, welche der Schlacht folgten, hatte er kaum mehr einen andern Gedanken. Er wurde dabei heiterer, als er seit Jahren gewesen war, und bei Kameraden und Untergebenen beliebter als viele andre. Sein unverfälschtes Schwäbisch mochte damit zusammenhängen, und daß er dem einen oder andern anvertraut hatte, welche Vorteile er sich in naher Zukunft von einer geflügelten Freischar verspreche. Beides gab zu lachen, trotz der grimmigen Zeiten, und das Flugproblem gewann begeisterte Anhänger, je mehr man über die Bewegungen des Feindes im Zweifel war, je erschöpfter die Leute abends zu Boden sanken.

Einen geheimen, aber tiefen Schmerz wußte er sorgfältig zu verstecken. Es trieb ihm die Schamröte ins Gesicht, sooft jemand zufällig davon sprach, daß seine Landsleute, wie noch immer die Hälfte der Deutschen, auf der Seite des Feindes standen. Als sich gar die Runde vom Überfall der tapferen Lützower bei Lützen verbreitete, und die entstellten und verdrehten Nachrichten württembergische Truppen dafür verantwortlich machten, hätte er die unselige Tat am liebsten mit der ersten französischen Kugel selbst gebüßt. O Deutschland, Deutschland! Was konnte aber der arme schwäbische Spatz machen, der sich hilflos in den Krallen des französischen Adlers wand!

Dann kamen die bangen Wochen eines Waffenstillstandes, den das Volk nicht verstand. Worte des Hasses und der Verzweiflung, Lieder des Muts und der Hoffnung flogen von Mund zu Mund. Körner sang noch und Arndt rief: »Krieg schallt es von den Karpathen bis zur Ostsee, vom Niemen bis zur Elbe; Krieg ruft der Edelmann und der verarmte Bauer, der sein letztes Pferd unter Vorspannen tottreibt, Krieg der Bürger, den die Einquartierungen erschöpft haben, Krieg der arbeitslose Taglöhner, Krieg die Witwe, die ihren einzigen Sohn ins Feld schickt, Krieg die Braut, die unter Tränen des Stolzes und des Schmerzes den Bräutigam ziehen läßt!« Was lag in solchen Zeiten an einem verunglückten Schneiderlein?

Er hatte ein Herz wie alle andern und war bereit zu sterben. Er hatte es ja unter dem Hohngelächter von Tausenden schon einmal bewiesen, und diesmal lachte niemand. Der Waffenstillstand war zu Ende; die Kriegsfurie brach wieder los, und das Volk jubelte. Die alte Kampfesfreudigkeit der Germanen feierte in diesen Tagen ihre Wiedergeburt.

Noch war die Gefahr furchtbar, noch immer Napoleon zweimal schneller als die vielköpfigen Gegner, die unter dem halbverräterischen Bernadotte sich nicht rühren wollten. Des Kaisers Nordarmee, zur Hälfte Deutsche, stand nur noch wenige Stunden von Berlin. Die Preußen schienen zu zaudern, doch rückten sie endlich unter Bülow dem Feind entgegen. Es mußte vor Berlin zu einem Entscheidungsschlag kommen. So viel war selbst dem kleinen Leutnant in dem schlesischen Regiment klar, in das er höchst ordnungswidrig geraten war.

Am Abend des 23. August, als das Regiment zwischen Lichtenwalde und Kleinbeeren sein Biwak bezogen hatte, forderte der Oberst Freiwillige für einen gefährlichen Streifzug. Man mußte wissen, wer in oder hinter dem Walde lag, der sich jenseits von Großbeeren ausdehnte. Zwölf Mann mit einem Leutnant sollten, sich östlich haltend, durch das Gehölz vordringen und nach Möglichkeit feststellen, was von dieser Seite her zu befürchten war. Berblinger war sofort bereit, und keiner seiner Leute wollte zurückbleiben. »Gut«, meinte der Oberst, »dann können sie alle gehen. Aber Vorsicht, Herr Leutnant! Es ist unnötig, den Feind zu alarmieren und sich vor der Zeit niederknallen zu lassen.«

Berblinger nickte. Er wollte vorsichtig sein.

Dann schliefen sie ein paar Stunden, die Waffen im Arm. Er träumte von Gretle, von einem Christtag in dem längst abgebrannten Hühnerstall zu Ulm, an den er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Unter dem Weihnachtsbäumchen begrüßte er mit Erstaunen seinen alten Freund Gotthilf, dem es vortrefflich zu gehen schien. Über dem strahlenden Baum hing ein geflügeltes Engelein, lachte wunderlieblich und segelte, die Flügel langsam bewegend, im Kreis um den Gipfel. Er schämte sich fast, daß er es nicht lassen konnte, die ruhige Bewegung der Flügel scharf zu beobachten, während ihn Gotthilf ans Herz drückte. Über allem aber leuchtete ein großer weißer Stern, so groß, daß Berblinger endlich verwundert die Augen aufschlug. Nun erst bemerkte er, daß dies der Morgenstern war, der fast senkrecht über ihm am Himmel stand, während sich am östlichen Horizont die erste schwache Helle eines trüben Morgenrots zeigte. Er sprang auf, schüttelte sich und weckte seine Leute. Es war Zeit, nach einem hastigen Imbiß sich auf den Weg zu machen.

Lautlos marschierten sie, dreißig Mann stark, in aufgelöster Ordnung dem Walde zu, ohne gestört zu werden. Die ganze Natur lag noch in tiefem Schlummer. Nichts Verdächtiges zeigte sich, während sie am Waldsaum hinschlichen. Dann teilten sie sich in drei Züge, von denen der erste in das schwarzdunkle Föhrendickicht eindrang, die andern ihren Weg am Waldrand fortsetzten und je nach fünfhundert Schritten ebenfalls versuchen sollten, in südlicher Richtung durch das Gehölz zu dringen. Berblinger führte die erste dieser Abteilungen, denn es ließ sich voraussehen, daß sie in nächster Nähe des vermuteten Gegners die andre Seite des Waldes erreichen würden. Nach zwanzig Minuten des vorsichtigsten Vordringens sahen sie wieder freies Feld vor sich.

Es war jetzt hell genug, um auf beträchtliche Entfernung unterscheiden zu können, was sich darbot. Dort, rechts von ihnen, aber wohl zweihundert Meter vom Waldsaum lag in langen Reihen an ausgebrannten Wachtfeuern wohl ein halbes Armeekorps. Sachsen. Auf dem Bauch kriechend, gewann Berblinger mit zwei seiner Leute ein etwas höher gelegenes kleines Gehölz, von dem aus sich besser beurteilen ließ, wie viele und welche Truppen hier biwakiert hatten. Die Patrouille hatte jetzt ihre Aufgabe erfüllt. Berblinger dachte an Rückkehr, die nicht so leicht war, da es jetzt heller Tag geworden war.

Da knallte ein Schuß und gleich drauf noch einer. Die weiter östlich vorgegangenen Abteilungen seiner Leute waren in Berührung mit Vorposten des Feindes gekommen, die sie nicht bemerkt hatten. Dort, in einer sanften Einsenkung unmittelbar am Wald, mußten weitere Truppenkörper liegen. Auch Berblinger hatte den Wald wieder erreicht. Im Schnellschritt, tief gebückt laufend, eilte er der Stelle zu, wo die Schüsse gefallen waren. Es hat auch manchmal seine Vorteile, klein zu sein; er kam in dem Dickicht schneller vorwärts als alle andern. Jetzt hörte er Waffenklirren, laute Rufe; da und dort raschelte es, als ob Großwild durchs Gebüsch bräche. Das waren seine Leute, die sich zu retten suchten, vielleicht schon gerettet waren. Er selbst sah sich plötzlich in einer kleinen Lichtung sechs, acht, zehn Franzosen gegenüber, die ihm den Weg vertraten. In demselben Augenblick stürzte sein einziger Begleiter und blieb regungslos liegen. Ein Kopfschuß. Er riß ihm das Gewehr aus der Hand und schoß. Der Franzose, der ihm zunächst war, fiel schreiend zur Erde; die andern, die nicht wissen konnten, wie wenige Leute ihnen gegenüberstanden, suchten Deckung, und Berblinger, der das Feld frei sah, lief nun auch. Da knallte es aus nächster Nähe, und fast gleichzeitig sprang ein riesiger Kerl aus dem Gebüsch, um ihn aufzuhalten. Dabei schoß ihm eine Kindererinnerung durch den Kopf, so lebhaft, so schrecklich, daß er alles andre vergaß. Das war der Marodeur, der vor achtzehn Jahren mit seinem Vater gerungen hatte – der war's –, bei Gott, der war's! Zweifellos eine Halluzination seiner aufgeregten Sinne; die Wirkung aber war die der Wirklichkeit. Er drehte wie der Blitz sein Gewehr um, und mit einem Kolbenschlag, den niemand dem kleinen Mann zugetraut hätte, schmetterte er seinen Gegner nieder, der dalag wie ein gefällter Stier. Jetzt aber, nach etlichen Schritten, knatterte es von allen Seiten. Ein stechender Schmerz schoß ihm durch die Brust – ein Blutstrom in den Mund – ein Taumeln – und aus war's! –

Fast vollzählig erreichten seine Leute das Regiment wieder; nur zwei Mann und der Leutnant fehlten, der kleine Schwabe. »Unvorsichtig wie gewöhnlich«, sagte der Oberst kopfschüttelnd. Keiner wußte, wo er geblieben war. Was sie sonst zu berichten hatten, erwies sich von großer Bedeutung. Als etliche Stunden später das Korps des Generals Reynier in strömendem Regen aus jenem Wald hervorbrach, wurde es von einem vernichtenden Geschützfeuer empfangen und dann im Sturm mit dem Bajonett angegriffen. Damit begann der erste Sieg des neuen Feldzugs, der die preußische Hauptstadt rettete und den Mut des aufatmenden Volkes für die kommenden furchtbaren Anstrengungen entflammte. Hei, wie am Abend des blutigen Tages die Hurras und Vivats von Regiment zu Regiment brausten, wie der Jubel in Berlin durch die Straßen wogte, wie durch ganz Deutschland die Runde flog, daß der dämonische Kaiser nicht mehr unverwundbar sei!

Mittlerweile lag ein kleiner Leutnant totwund und zum Glück meist besinnungslos unter einer Buche im Wald hinter Großbeeren, wo ihn am folgenden Tag Bauern fanden; denn die Leute, die das Schlachtfeld abzuräumen hatten, glaubten in dieser Entfernung nicht mehr suchen zu müssen. Sie schleppten ihn nach Blankenfeld und legten ihn vor dem ersten Häuschen des Dorfes nieder. Dort wohnte ein armes altes Mütterchen, das der Kanonendonner der Schlacht so verwirrt hatte, daß sie sich des halbtoten Quartiersmannes nicht erwehren konnte. So ging es ihm doch noch besser als tausend andern.


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