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27. Nachtstücke

Echte, kindliche Weihnachtsfreude war dem armen Berblinger seit seinen ersten Lebensjahren nicht mehr zuteil geworden. Sie liegt jedoch so tief im deutschen Blut, daß sie als wehmütige Erinnerung immer wieder auftaucht, auch wo die äußere Veranlassung dazu fehlt, sobald die langen Nächte über die weißen Giebeldächer hereinziehen und durch die Spalten der schlecht verschlossenen Fensterläden das trauliche Licht einer Lampe auf die verschneite Gasse fällt. So war dem jungen Schneidermeister auch heute zumute, als er in der Dämmerung des Winternachmittags allein in seiner Werkstatt stand. Die zwei Gesellen waren schon vor einer Stunde nach der Herberge gegangen, wo sie einen Gesellenchristbaum mit den bunten Lappen des Handwerks zu schmücken hatten. Es war dies ein wohlberechtigter Handwerksgebrauch nach der harten Arbeitszeit, die mit den Weihnachtstagen ein fast plötzliches Ende findet. Auch Fränzle, der Lehrbub, hatte sich aus dem Staub gemacht, mit der Hoffnung, in der kleinen trübseligen Stube, die seine Eltern jetzt bewohnten, etwas von den alten Kinderfreuden wiederzufinden, für die seinerzeit Gretle gesorgt hatte, so gut sie konnte.

Berblinger besann sich, wie er den Heiligen Abend zubringen sollte. In der Gesellenherberge hatte der junge Meister nichts mehr zu suchen, und seine neuen Standesgenossen feierten keinen Festabend im Wilden Mann, da jeder hierfür sein eignes Heim besaß, das heute zu verlassen die alte gute Sitte nicht gestattete. Sollte er den Pestilenziarius besuchen, den er in jüngster Zeit sehr vernachlässigt hatte? Der hätte ihn aufgefordert, mit ihm ins Münster zu gehen, wo um sechs Uhr ein Weihnachtsgottesdienst stattfand, welcher immer sehr besucht war. Nicht des Predigers wegen. Die Anziehung lag darin, daß jedermann seine eigne Kerze, einen Wachsstock oder ein Laternchen mitbringen mußte und das gewaltige Innere des Münsters mit dem Spiel von tausend Lichtchen um Pfeiler und Säulen, in Nischen und Winkeln einen geheimnisvollen Eindruck machte, der recht wohl zur Christnacht paßte. Kinderherzen erfüllte dabei der Glanz des Christkindleins, Alte dachten an die Menge der himmlischen Heerscharen, zu denen sie auch einmal zu gehören hofften. Auch Berblinger hatte als Lehrling nie gefehlt; allein diese Zeit lag hinter ihm, und andre Gefühle und Wünsche bewegten ihn heute. – Sein Onkel hatte ihn nicht aufgefordert, an der Weihnachtsfeier der Schwarzmannschen Familie teilzunehmen, die einen großen Kreis von Anverwandten zusammenzuführen pflegte. Dies war nicht unnatürlich, denn er war nicht nur der Neffe, sondern auch der Schneider des Herrn Rats, welcher neuerdings selbst mit seinen Schiffern von oben herab verkehrte. Auch war es ihm nicht unlieb, denn seinem Vetter zu begegnen, dessen Niederlage beim Stechen vergessen zu sein schien, konnte er fast nicht mehr ertragen, und Hans ließ es nicht daran fehlen, zu zeigen, daß er diese Gefühle verstand und teilte. – Da war schließlich der Türmer Lombard, den er sicher auf seiner Warte gefunden hätte. Aber Berblinger spürte allzu deutlich, daß er an jedem andern Abend bessere Gesellschaft sein würde als heute. Der Mann, der soviel wußte, schien vom Weihnachtsabend nichts wissen zu wollen.

Eine halbe Stunde lang beschäftigte sich der junge Meister damit, fast ohne an die Arbeit unter seinen Händen zu denken, die Werkstatt aufzuräumen. Es war dies nicht des Meisters Sache, allein es war besser als das müßige, schwermütige Brüten, das ihn nicht loslassen wollte. Dann stand er zehn Minuten lang am Fenster und sah in die Gasse hinunter, wo aufgeregter als sonst in der Erwartung, was der Abend noch bringen mußte, Kinder spielten. War ihm alles Gefühl der Dankbarkeit abhanden gekommen, fragte er sich selbst. War es nicht unvernünftig, diese Stimmung am Schluß eines Jahres, in dem er ein schönes Ziel früher erreicht hatte als mancher andre? Selbst für seine Lieblingsgedanken, wenn er sie auch in der letzten Zeit zurückdrängen mußte, war das Jahr nicht verloren gewesen. Immer deutlicher sah er, in welcher Richtung der Erfolg liegen mußte, und wenn einmal das Geschäft seinen ruhigen zünftigen Gang, wie alle andere, angenommen hatte, fand sich sicher auch Zeit und Geld, den großen Plan weiterzuverfolgen. Geduld predigte ihm Lombard und alles, was er vom Erfinden gehört und gesehen hatte, oft genug. Woher also diese unvernünftige Verstimmung, diese Weichheit einer trüben Stunde, in der die ganze übrige Welt fröhlich war. Die Kinder vor dem Haus jauchzten förmlich.

Er kleidete sich an, um trotz des sinkenden Abends noch einen Ausgang zu machen, und verließ die Werkstatt ohne ein bestimmtes Ziel. Die Erinnerung aber, die in diese Nacht alle an Jugend und Kindheit mahnt, gab auch seinen Schritten ihre Richtung. Am Münstertor vorübergehend, sah er die hohen farbigen Fenster ihr geheimnisvolles Licht ausstrahlen und hörte die Orgel und das Singen im Innern, als ob es aus weiter Ferne käme. Er lauschte minutenlang, tiefer ergriffen, als wenn er mitten unter der Gemeinde gesessen hätte, ging dann aber rascher weiter und bog in das Taubengäßchen ein, das er seit Monaten nicht mehr betreten hatte.

Die Brandstätte des Bockelhardtschen Hauses war noch immer soviel als unberührt, obgleich der Schutt weggeräumt und die verkohlten Balken auf die Seite geschafft worden waren. Die Mauer, hinter der der Hof lag, stand noch größtenteils; das Hinterpförtchen, durch das er sich so manchmal geflüchtet hatte, war noch vollständig erhalten. Nur die Türe fehlte; man sah ungehindert in den verwüsteten Raum, der früher ein kleiner Garten gewesen war. Nicht mehr erkennbar lagen die alten Beete unter einer leichten Schneedecke, in welcher nur die Spuren einer Katze andeuteten, daß hier doch noch nicht alles tot war. Auch der alte Birnbaum schien noch leben zu wollen und streckte seine kahlen Äste gen Himmel. Berblinger glaubte jeden Zweig wiederzuerkennen; er hatte sie alle – grün und kahl – oft genug von seinem Arbeitstisch aus betrachtet.

Und dort hatte der Hühnerstall gestanden. Der war auch noch nicht ganz verschwunden. Das Dach war eingebrochen und die Vorderwand eingestürzt; aber der Boden des oberen Stübchens hing noch, von halbverkohlten Balken gestützt, in den unteren Stallraum herab. Dort hinten, in dem noch ganz wohlerhaltenen Winkel, war Gotthilf gestorben.

Berblinger trat näher. Der Mond war mittlerweile aufgegangen und verbreitete ein mattes Dämmerlicht durch den stillen Raum. Wie das alles so klein und eng und ärmlich aussah, und doch wachte die Erinnerung an jene Nacht und an alles, was er hier erlebt hatte, in ihm auf; groß und gewaltig, als ob sie ihn erdrücken wollte. Er wandte sich um. Hier konnte er nicht länger bleiben. Wozu auch? Wozu? fragte er sich mit einem Gemisch von Wehmut und von Zorn, mit einer unbegreiflichen Sehnsucht nach etwas Vergangenem, Verlorenem, mit dem unwiderstehlichen Drang, zu fliehen.

Da sah er eine Frau unter dem Pförtchen. Sie stand im hellen Mondlicht, so daß er sie deutlich sehen konnte. In der Hand trug sie ein Buch. Ihre Kleidung, ihre ganze Erscheinung hatte etwas Klösterliches und erinnerte ihn an Gestalten, die er oft genug in Wien und Prag gesehen hatte. Einen Augenblick später sah er aber doch, daß es etwas ganz andres war, und erkannte Gretle.

Auch sie hatte ihn erkannt und machte eine erschreckte Bewegung, als ob sie die Flucht ergreifen wollte; dann faßte sie sich und trat in den Hofraum.

»Brechtle!« sagte sie einfach; doch hörte man der Stimme an, daß sie sich zwang. »Hier finden wir uns! Grüß dich Gott.«

»Ich wußte nicht, daß du in Ulm bist, Gretle«, sagte er, kaum imstande zu sprechen. Die Überraschung war zu groß.

»Du brauchst nicht zu stottern«, versetzte sie, »ich weiß alles.«

»Hat dir der Pestilenziarius geschrieben?« fragte Berblinger hastig, wie wenn er plötzlich einen Strohhalm erhascht hätte, an dem er sich halten konnte. »Der Magister mischt sich in all meine Sachen. Ich hab' ihn nicht darum gebeten.«

»Er hat es doch getan«, entgegnete Gretle, »und ich dank's ihm; es war besser, daß er mir's sagte. Es hat weh getan, aber es hat mir das Herz nicht gebrochen.«

Sie sagte dies mit einer leisen Herbheit im Ton, die einem andern verraten hätte, wie weh es ihr getan.

»Was tust du hier?« fragte sie nach einer kurzen Pause.

»Was du tust«, entgegnete er, indem er versuchte, trutzig zu werden. Sie konnte ihn also doch nicht so furchtbar liebgehabt haben, wie er sich eingebildet hatte. Um so besser!

»Ich komme aus der Lichtleskirch«, erklärte sie, »und gehe nach dem Spital, wo ich wohne, und weil's Weihnachtsabend ist und wir hier einmal Christtag gefeiert haben – weißt du's noch, Brechtle? – wollt' ich den alten Platz noch einmal besehen, eh' sie die Mauern niederreißen. Es ist alles ausgebrannt, alles!«

Jetzt hörte man in ihrer Stimme, wie sie sich Mühe gab, die Tränen zurückzuhalten.

»Du hast das Feuer nicht angezündet«, sagte er finster. »Ich auch nicht.«

»Nein; das hat der Franzose getan, oder – oder –«, flüsterte sie leise. »Man weiß es noch heute nicht.«

»Welcher Franzose? Dein Franzose?« fuhr Berblinger auf. »Ja, ich hab' davon gehört; ich wünsch' dir Glück!«

»Brechtle, du bist schlimmer geworden, als ich dachte«, erwiderte sie und richtete sich in die Höhe, während Berblinger beschämt den Kopf hing.

»Immer die Franzosen! Überall die Franzosen!« sagte er endlich.

»Sie sind Menschen wie alle«, versetzte Gretle. »Gute und böse, treue und wankelmütige, wie wir. Hier haben wir Gotthilf sterben sehen, Brechtle. Weißt du noch? Das bleibt. Alles andre ist ausgebrannt.«

»Ich bin kein schlechter Kerl«, antwortete Berblinger, scheinbar ohne Zusammenhang. »Kann jemand für sein Herz? Frag den Pestilenziarius.«

»Ausgebrannt!« wiederholte das Mädchen. »Und so bald! Als ob wildes Feuer alles verzehrt hätte. Hätten wir's damals für möglich gehalten, dort oben in dem Winkel?«

»Frag den Pestilenziarius!« rief der Junge heftig; auch er fühlte, daß er einem zornigen Weinen nicht mehr ferne war. »Das kommt über dich, von da-, von dorther, und du kannst dir nicht helfen. Da ist's am besten, man sieht's ein und gibt nach. Nicht gleich, aber nachdem man's eingesehen hat. Warum hat uns unser Herrgott so gemacht. Frag den Pestilenziarius!«

»Der weiß es auch nicht«, antwortete Gretle, durch die hervorbrechenden Tränen lächelnd. »Aber alle hat er nicht so gemacht. Nicht alle. Gotthilf war treu bis in den Tod.«

Sie sah, wie sich Berblinger im Gefühl seines Unrechts wand. »Der ist auch bald gestorben«, erklärte er, alles hervorsuchend, sich zu rechtfertigen. »Du siehst, Gretle, wir waren reine Kinder damals, und ich hatte noch nichts von der Welt gesehen. Wir wußten noch nicht, was wir taten.«

»Alles ausgebrannt, alles ausgebrannt!« schluchzte sie und wandte sich gegen den Hühnerstall. »Gott verzeih' dir! Geh!«

»Nein, ich bin kein schlechter Kerl«, versicherte Brechtle, der etwas mutiger wurde, sobald er nicht mehr in das Gesicht sehen mußte, das er einst für das lieblichste und beste gehalten hatte. Ja, gut wie Gold war sie heute noch, das mußte er ja zugeben. Aber änderte das die Sache? Konnte er sie deshalb belügen?

»Nein, das darfst du nicht denken!« fuhr er heftiger fort. »Und wenn du jemals in Not kommen solltest, weißt du, wie damals, als ich dem Franzosen das Bügeleisen an den Kopf warf – ich tät' es heute wieder; ich tät's! – oder anders: wo und wie du jemand brauchst, der dir helfen könnte – dann hole mich!«

»Geh!«

»Hol mich! Ich will für dich tun, was menschenmöglich ist. Nur sollst du nicht denken, ich sei schlecht gegen dich gewesen. Was kann ich dafür, daß – daß –« Er stockte. Er konnte ihr doch die ganze Wahrheit nicht sagen.

»Sieh«, fuhr er etwas ruhiger fort, »ich habe ein großes Werk zu tun, das alle Menschen glücklicher machen wird – die Schneiderei geht nur so nebenher – und dabei kann mir niemand helfen. Ich kann auch niemanden brauchen und muß vielleicht Hunger und Not leiden und möchte dich nicht um alle Welt in das Elend hineinziehen.«

»Geh!« rief sie, noch immer abgewandt und stampfte mit dem Fuß. Sie war doch nicht so ganz das sanfte Lämmchen, dachte Berblinger fast erfreut, für das er sie gehalten hatte.

»Ich kann dir verzeihen, daß du mich so behandelst«, sagte er gekränkt. »Was versteht ein Mädle wie du, was ich in der Welt zu tun habe und wie mir zumut ist. Aber das macht nichts. Ich vergess' dich nicht; nie! Wenn du in Not kommst – ich wollte fast, du kämest in Not, daß ich dir's zeigen könnte –, dann weißt du, wo du einen Freund findest. Sind wir nicht als halbe Kinder in hundert Nöten gesteckt und haben alles füreinander getan, was wir konnten? Hast du mich damals für einen schlechten Kerl gehalten, Gretle? So bin ich heute noch.«

»Ausgebrannt«, flüsterte das Mädchen, ohne sich umzuwenden. Sie hatte keinen andern Gedanken mehr.

»B'hüt' dich Gott, Gretle«, sagte er. »Ich muß jetzt gehen und verzeih dir. Die Zeit wird schon kommen, in der du einsehen kannst, wie du mir heute unrecht getan hast. B'hüt' dich Gott!«

Er ging scheinbar verstimmt und trotzig, aber er war weder verwirrt noch schlecht genug, um nicht bis in die innerste Seele hinein beschämt zu gehen. Der ungleiche Kampf war zu Ende. Sie hatte das Feld behauptet.

Als sie ganz sicher war, daß er sie nicht mehr sehen konnte, lehnte sie den Kopf gegen die stehengebliebene Wand des Hühnerstalls und schluchzte zum Erbarmen. Sie hatte ihn geliebt, sie liebte ihn noch. Wer kann für sein Herz?

War das ein Weihnachtsabend?!

Eine Viertelstunde später ging sie auf dem Weg nach dem Spital am alten Fundelhaus vorüber. Es war ein kleiner Umweg; sie wollte ihren Kranken die verweinten Augen nicht zeigen. Sonst dunkle Fenster im oberen Stock waren hell erleuchtet. Die Waisenkinder feierten ihren Christabend, und die hellen, dünnen Kinderstimmchen schmetterten ihren Freuden- und Friedensgruß in die stille Nacht hinaus. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden – Friede auch in wunden Menschenherzen.

So wurde es doch noch ein Weihnachtsabend.

 

Mußte ihm gerade diese Nacht wie ein Markstein und Wendepunkt seines Lebens im Gedächtnis haften bleiben? So sehr er sich Mühe gab, er konnte nicht das kleinste Vorkommnis der Stunde vergessen, in der er sich für immer von Gretle getrennt hatte: wie er in der bittersten Stimmung über den Münsterplatz zurückkehren wollte, wie er an dem Löwenbrunnen stehenblieb; wie das Wasser in der halb zugefrorenen Brunnenröhre gurgelte, als ob der Brunnen schluchzte, wie er nach der Turmspitze hinaufsah, wo wie immer ein einsames Licht wie ein kleines Sternchen flimmerte, und dabei zu fühlen glaubte, daß er der großen Sache ein schweres Opfer gebracht habe und eine gewisse Befriedigung dabei empfand; wie dann minutenlang eine Eule – er glaubte den Vogel von seinen Besuchen bei Lombard her zu kennen – langsam kreisend über ihm hing, ohne die ausgestreckten Flügel zu rühren, und sich dann mit zwei, drei Flügelschlägen erhob und im Schatten des Münsterturmes verschwand; wie ihn wieder einmal wie ein Blitzstrahl der Gedanke durchzuckte: So muß es gehen und nicht anders – schrittweise – eines nach dem andern – gerade wie es ihm die Eule gezeigt hatte: erst schweben und dann erst auffliegen!

Das Fieber, das richtige Erfinderfieber hatte ihn jetzt gepackt und es war, als ob alle Nebenumstände zusammenwirken sollten, es zu vollem Ausbruch zu bringen. In den ersten Tagen nach jener Nacht waren ihm die sich drängenden Gedanken ein erwünschtes Mittel, andern, weniger angenehmen aus dem Weg zu gehen. Dann kam in seinem Geschäft die ruhige Zeit nach den Festwochen, in der er mit einem Gesellen recht wohl hätte fertig werden können. Er behielt aber beide, des Ansehens wegen, wie er sich sagte; in Wirklichkeit, um mehr Zeit für das Ausarbeiten oder zunächst vielmehr für das Ausdenken seiner neuen Pläne zu gewinnen. Seine Schlafstube hatte dunkelgetäfelte Wände, wie man sie manchmal in besseren Ulmer Häusern traf, und die Kreide, die er zum Aufzeichnen von Kleidungsstücken gebrauchte, malte auf dem Holz wie auf einer Schultafel. So füllte sich die Wand gegenüber der Türe fast täglich mit Linien und Kurven, in denen niemand einen Sinn finden konnte als er selbst und die am nächsten Morgen ausgewischt und durch andre ersetzt wurden. Lombard hatte ihm allerdings schon seit Monaten wiederholt, daß bei einem so neuen, kühnen Unterfangen, wie er es im Schilde führe, alles Sinnieren, selbst alle Bilder, die er entwarf, nutzlos seien. Versuchen, versuchen! Drin läge die einzige Möglichkeit des Erfolgs, und er fühlte, daß sein kluger alter Freund recht hatte. So, koste es was es wolle, mußte vorgegangen werden, wenn er seinem Ziele näher kommen wollte.

Die Eule über dem Brunnen verfolgte ihn jetzt Tag und Nacht. Schweben, ruhig in der Luft schweben, damit mußte der Anfang gemacht werden. Das ging ja mittels eines Ballons; allein, ein Ballon war das hilflose Spielzeug jeder Luftströmung, und ihn zu steuern war eine hoffnungslose Aufgabe, solange er nicht von einer Kraft getrieben wurde, die niemand besaß. Der Türmer machte ihm allerdings Hoffnungen; ob und wann sie aber in Erfüllung gehen würde, konnte auch er nicht sagen, und darauf zu warten, litt seine Ungeduld nicht. Die Dampfmaschine, das gewaltige Ungetüm, war hierfür zu schwer, Menschenkraft zu schwach. Denn die Größe des Ballons, der einen Menschen tragen konnte, mußte die Bewegung des Ganzen gegen den Wind unmöglich machen, und ein kleinerer Ballon trug den Menschen nicht, geschweige denn eine Feuermaschine. Immer wieder, wenn sich seine Gedanken in diesem Kreise drehten, sah er die Eule, die fast ohne Bewegung und sichtlich ohne jede Anstrengung über ihm hing und mit einem Flügelschlag emporstieg und davonsegelte. So mußte es gehen!

Nach mehreren Wochen hatte er eine Form der Maschine gefunden, auf die er immer wieder zurückkam. Es waren nicht Flügel, sondern ein System von flachen, mit Segeltuch überspannten Rahmen, die an einem Gestell befestigt waren, an welchem ein kleiner Korb hing, In diesem sollte der Fliegende stehen oder sitzen und von hier aus mittels Schnüren und Zugstangen die Rahmen in der Weise feststellen oder ihre Stellung ändern, daß der Wind, den sie auf ihrer unteren Seite faßten, den nötigen Druck nach oben ausüben konnte. Als er noch das Gymnasium besuchte, hatte er oft genug andre Jungen mit Papierdrachen hantieren sehen, wozu der freie Platz vor dem Münster, wo fast immer ein lebhafter Wind weht, ganz besonders geeignet war. Etwas Ähnliches sollte nicht der Zweck seiner jetzigen Versuche sein, aber den Anfang machen. Hatte er einmal gelernt, wie die Eule sich in der Luft zu halten und im Wind zu kreisen, so konnte der nächste Schritt, das Sicherheben, nicht allzu schwierig sein. Bezüglich des Sichsenkens hatte er keine Bedenken.

Die Bewegung der Rahmen vom Tragkorb aus, das heißt die Änderung und Befestigung ihrer Stellung mittels leichter Stangen und kräftiger Schnüre, gab seinem mechanischen Scharfsinn manche nicht einfache Aufgabe. Manchmal schoß ihm nach langem vergeblichen Nachdenken diese oder jene Lösung wie ein Lichtstrahl durch den Kopf, und er empfand dann jene Freude, die das Erfinden zu einem der höchsten Genüsse des Lebens macht. Der Jubel des Heurekas hob auch ihn mehr als einmal fast vom Boden. Dann nach einem kurzen Geistesflug dieser Art kamen Schwierigkeiten und Bedenken: So ging es denn doch nicht! Er mußte auf andre Wege, neue Mittel sinnen und vielleicht nach etlichen Tagen alles verwerfen, was ihm vor einer Woche sicheren Erfolg versprochen hatte. Schien endlich alles in Ordnung zu sein, jeder Hebel und jede Zugstange, jedes Seil und jedes Kettchen an der richtigen Stelle und leicht und sicher zu handhaben, so bot das Ganze ein Bild furchterregender Verwicklung und Verworrenheit. Da war doch die Eule eine einfachere Maschine und tat ihren Dienst mit einer Sicherheit, die sein erschreckender Apparat nie gewähren konnte. Keine Frage, er hatte von neuem zu beginnen; das Rätsel mußte in einfacherer Weise zu lösen sein. Hatte es nicht die Natur samt der Lösung in jedes Vogelei gelegt?

Einmal nur besuchte er in diesen Wochen den Pestilenziarius, der ihn freundlich, aber mit einer gewissen Zurückhaltung empfing. Wußte er von seiner Begegnung mit Gretle? Er sagte wenigstens kein Wort darüber, und Berblinger war ihm hierfür im stillen dankbar. Natürlich konnte er sich nicht enthalten, von seinen Plänen und Hoffnungen zu sprechen, die er schilderte, als ob er morgen am Ziel sein könnte. Der Magister schüttelte den Kopf.

»Laß den Fürwitz!« mahnte er fast ärgerlich. »Unser Herrgott hat gewußt, warum er uns keine Flügel gegeben hat. Glaubst du es besser zu wissen?«

Berblinger verließ ihn, überzeugt, daß der alte Mann seine Zeit nie mehr begreifen werde und daß es am besten wäre, ihn nicht mit Dingen zu ängstigen, die sie uns so gewiß bescheren werde, als vor vierhundert Jahren den Soldaten das Schießpulver und dem Magister selbst seine gedruckten Bücher. Gegen diese hatten die Pestilenziarii ihrerzeit ja auch gewütet und sie für Teufelswerk erklärt, was sie in mehr als einem Sinn vielleicht auch waren, sonderlich die lateinischen.

Nicht viel besser ging es ihm bei Professor Zeller, auf den er noch immer als einen Freund und Bundesgenossen rechnete. Er hatte ihn öfter um Rat gefragt, ihn gebeten, eine schwierige Aufgabe der Stereometrie zu lösen – seine Maschine führte auf die verwickeltsten Probleme dieser Art, solange er noch ohne Modell arbeitete –, eine Berechnung des Luftwiderstandes, der Hebekraft des Windes, wenn er gegen eine geneigte Ebene drückt, zu versuchen. Zeller hatte einige seiner Fragen bereitwillig beantwortet oder mit ihm durchgerechnet, bei andern ihm deutlich gemacht, daß zu ihrer Lösung jede Erfahrung fehle, alle Voraussetzungen in der Luft hingen. Aber auch er kam immer wieder, zuerst höflich und freundschaftlich, dann eindringlicher und nicht ohne spitze Sarkasmen auf das alte Sprichwort zurück: Schuster, bleib bei deinem Leisten, bis Berblinger, den schlaflose Nächte reizbar gemacht hatten, überzeugt war, in seinem alten Lehrer nicht einen Freund, sondern einen befangenen neidischen Feind seiner Pläne vor sich zu haben. Es ist dies eine der gewöhnlichsten Begleiterscheinungen des Erfinderfiebers, und brachte den Kranken so weit, seinen Verdacht in nicht mißzuverstehender Weise auszusprechen. Der Professor lachte gutmütig; dann aber sah er den ehemaligen Klosterschüler mit seinen schwermütigen, geistesabwesenden Augen lange an und sagte: »Geh deiner Wege, Berblinger; geh oder fliege! Ich sehe, du bist nicht mehr zu halten. Wenn du aber am Boden liegst, komm wieder zu mir. Dann wollen wir zusammen nachrechnen, wo's gefehlt hat. Mit einem Loch im Kopf wirst du mir eher glauben.«

Da war Lombard doch ein andrer Helfer in der Not. Bei dem fand er neuerdings jederzeit Verständnis und Teilnahme. So war es nur natürlich, daß er häufiger als je zuvor den Münsterturm bestieg und, auf dem Kranz der Plattform sitzend, Stunden mit dem alten Türmer verplauderte.

»Laß dich nicht irremachen, Junge«, sagte dieser. »Frag nicht jedes Langohr, was es von deinen Gedanken denkt. Denke selbst und handle. So haben es alle großen Erfinder gemacht seit Tubalkains Zeiten. Wenn du warten willst, was wohl das klügste wäre, warte, bis ich mein Pulver gefunden habe; die Maschine ist fertig, es fehlt nur noch am Pulver. Dann fliegst du über Berg und Tal, zum Staunen aller Welt. Aber ich sage nicht, du sollst warten. Was du heute erdenkst und nicht verwerten kannst, mag morgen den Erdball aus den Angeln heben. Geize nicht mit deiner Arbeit und mit schlaflosen Nächten; keine Arbeit ist verloren. Was deine Schneiderei betrifft, laß schneidern, wer zum Schneidern geboren ist. Vor allem aber eins, Berblinger: Halt dich nicht allzulang auf mit spintisieren. Ein Menschenschädel ist ein jämmerlich kleines Kästchen. Die Natur ist voll von unentdeckten Schätzen. Suche, versuche, und wenn dir der Versucher helfen müßte! Er hat es in alten Zeiten manchmal getan, in denen Gott und der Teufel dem Menschen noch näher standen als heutzutage.«

Kam der Turmwart auf diese Dinge zu sprechen, so verstand ihn Berblinger nicht mehr und fühlte trotzdem ein heimliches Grausen unter den stechenden Blicken des alten Mannes. Auch der Junge hatte den Aberglauben einer Vergangenheit, die nicht weit hinter ihnen lag, noch nicht ganz abgestreift. Aber Lombard hielt sich nie lange bei diesem Thema auf, das ihm selbst unbehaglich zu sein schien, und kam immer wieder darauf zurück: »Versuche, Junge, versuche. Du kommst keinen Schritt weiter ohne das Versuchen.«

Noch vernachlässigte der junge Meister das ehrsame Handwerk nicht, wenn auch die Freude, die ihm anfänglich die Gründung des eignen Geschäfts gemacht hatte, geschwunden war. Nur dachte er jetzt beim Aufzeichnen und Zuschneiden eines Rocks oder Fracks, das er natürlich immer selbst vornahm, häufiger an die Umrisse von Flügeln als an die Form von Rockschößen, und manchmal bekam das würdigste Staatskleid einen leichtfertigen Schwung, daß selbst die Gesellen die Köpfe schüttelten. Man fing an zu zweifeln, ob die neueste Wiener Mode in Wahrheit derartige Extravaganzen verlangte. Häufig ruhte jetzt auch seine sonst unermüdliche Nadel mitten in der Arbeit, und sein Auge starrte minutenlang wie traumverloren durch das Fenster. Er dachte dann an die Biegung eines Hebels, an die Stellung einer Zugstange seiner Maschine. Manchmal war es auch wirkliche Ermüdung, denn seit den letzten Wochen rumorte er nachts stundenlang auf der Bühne seiner Wohnung, so daß die Gesellen des Bäckermeisters, der den unteren Stock des Hauses bewohnte, und die in späten Nachtstunden ihre Arbeit beginnen mußten, an dem Lichtschimmer erschraken, den sie aus den Dachluken dringen sahen. Kaum hatten sie entdeckt, wer zu solch unchristlichen Zeiten dort oben wirtschaftete, so fragte sich auch schon die halbe Herrenkellergasse besorgt und kopfschüttelnd, ob der Meister Berblinger verrückt geworden sei.

Nur Fränzle, der Lehrbub, der mit Leib und Seele an seinem Meister hing, wußte etwas mehr von der Sache, ohne den eigentlichen Zweck der wunderlichen Dinge zu ahnen, die er teilweise entstehen sah. Doch hätte er auf der Folter nichts verraten, denn Berblinger hatte ihm einen kindlichen, selbsterfundenen grausigen Eid abgenommen, den er unter Zittern und Zagen geschworen hatte. Bei Nacht und Nebel mußte der Bub Material und Werkzeuge herbeischaffen und gelegentlich mit Hand anlegen, wenn dies dringend notwendig war. So entstand im Laufe mehrerer Wochen Berblingers erste Flugmaschine. Sie war doppelt schwierig zu bauen, weil sie so eingerichtet werden mußte, daß man sie zum Haus hinaus und ohne Aufsehen an irgendeinen Ort bringen konnte, wo sie zusammengestellt werden und er sich in ihrem Gebrauch üben konnte. Denn daß das Fliegen nicht mit einem Male zu erlernen sei, fühlte er nur allzu peinlich. Auch die kleinen Vögel wurden ja von ihren Eltern tagelang unterrichtet, ehe sie sich notdürftig in der Luft halten konnten. Berblinger aber war sich wohlbewußt, daß er die schwierige Aufgabe als Autodidakt reinsten Wassers zu lösen habe.

Nun wurde auch die Frage brennend, wo er seine Versuche und Vorstudien machen konnte. Er hatte dies kürzlich mit Lombard besprochen, der nach einigem Nachdenken mit der Miene finsterer Entschlossenheit über den Kranz der Münsterplattform zeigte, ohne ein Wort zu sprechen. Berblinger sah schaudernd auf das spitze Dach des Gymnasiums hinunter. Nein, das konnte er sich wirklich nicht zumuten. Dazu gehörte ein etwas weniger hoher Turm, ein minder spitzes Dach und der Mut einer Irma Mira.

Er suchte jetzt stundenlang in der Umgebung der Stadt einen geeigneten Platz. Der Ort mußte nicht nur menschensicher sein, so daß ihn Neugierige nicht leicht entdecken konnten, er mußte auch einen leidlich freien Raum bieten, in dem die Maschine ihre kreisenden Bewegungen auszuführen vermochte. Sodann konnte der Flug unmöglich vom Boden aus beginnen; es war eine Erhöhung nötig, von welcher sich der Fliegende herabschwingen konnte, genau wie es die Vögel machen, wenn sie von einem Zweig oder einer Mauerkante abfliegen. Damit kam er immer wieder auf den unheimlichsten, aber geeignetsten Platz zurück, den er bei seinem ersten Gang fast zufällig ins Auge gefaßt hatte; zuerst mit leisem Schaudern, dann mit der Entschlossenheit, mit welcher Lombard über den Kranz seiner Plattform gewiesen hatte, zuletzt gleichgültig gegen alles, was nicht seinem unmittelbaren Zweck diente.

Dort am Galgenberg war er sicher vor Beobachtern. Man hatte zwar schon seit drei Jahren niemanden mehr gehenkt; das Hängen schien überhaupt aus der Mode zu kommen. Trotzdem vermied jedermann, in der Dämmerung oder bei Nacht an dem steinernen Aufbau vorüberzugehen, auf dem das verwünschte dreibeinige Gestell stand. Man sah dort wandelnde Lichtchen und das ausgetrocknete Holz stöhnte wie eine verstimmte Harfe. Dieser Aufbau, in der Form eines abgestumpften Turms von kaum mehr als zwei Mannshöhe, war wie gemacht für einen ersten Versuch. Auch konnte er, wenn derselbe mißlingen sollte, hoffen, mit dem Leben davonzukommen, denn rings um den Rabenstein war frischgeackertes Feld, das nicht zu hart sein mochte. Auch stand noch die Leiter am Galgen, so daß er den zweiten und dritten Flug von einem höheren Punkt aus versuchen konnte; kurz, es war hier alles vereinigt, was er brauchte, und nur der unangenehme Nebengedanke zu überwinden, daß sein Vorgänger von dieser Leiter den Flug in die Ewigkeit angetreten hatte und ein gottverlassener Kirchendieb und Raubmörder gewesen war.

Lombard lachte, als ihm Berblinger von seiner Entdeckung erzählte. Ein bitteres Lachen. »Du wirst nie ein großer Erfinder werden, Berblinger, wenn du nicht bereit bist, mit Kirchenschändern und Raubmördern auf einer Leiter zu stehen. So sind die Menschen und das ist das Los derer, die sie befreien und erlösen wollen. Es war in alten Zeiten so und wird nicht anders werden. Ich will dir keine Heiligen nennen, denn ich glaube an keine Heiligen. Aber du erinnerst dich aus deiner Klosterzeit eines gewissen Prometheus. Der hatte auch eine große Erfindung gemacht. Jahrhunderte später sagten die Leute noch, er habe die Götter bestohlen, die ihn dementsprechend behandelt hätten.«

Das war am Tag, an dem die Maschine fertig geworden war. Berblinger verließ den Alten mit dem Entschluß, in der nächsten Nacht den ersten Versuch zu machen.

 

Seitdem die Festungswerke geschleift waren, fand man es nicht mehr schwierig, auch nach dem Abendläuten der Torglocke die Stadt zu betreten oder zu verlassen, wenn man mit den Torwärtern bekannt war. Berblinger hatte sich mit dem Mann am Glöcklertor befreundet, seitdem der Plan in ihm aufgetaucht war, seinen ersten Flug auf dem Galgenberg zu wagen. Er hatte den sorgfältig zusammengefügten Apparat zerlegt, in Sackleinwand gepackt und ihn in der Dämmerung von dem Lehrbuben durch die Stadt führen lassen. Fränzle sollte ihn am Tor erwarten. Gegen acht Uhr abends war er selbst, aber allein mit dem sonderbaren Fuhrwerk auf dem Weg nach dem Galgenberg. Es seien neumodische Gartengeräte, ein Weinbergpflug und dergleichen, hatte er dem Torwart erklärt, die er für seinen Freund, den Pestilenziarius Krummacher, aus Gefälligkeit nach dessen Gütchen bringe. Der Torwart wunderte sich über seine große Gefälligkeit und ließ ihn ziehen.

Es war eine stürmische Märznacht; gerade das, was er brauchte, denn auch die Vögel halten sich leichter in der Luft, wenn ein tüchtiger Wind weht. Da und dort lag noch Schnee. Der Weg war schlecht, aber er war dem Ziel schon nahe und schob seinen Karren mit fieberhaftem Eifer vorwärts. Jetzt hielt er an, um sich den Schweiß von der Stirne zu wischen. Das hohe dreibeinige Gestell zeichnete sich scharf und schwarz gegen den graugelben Nachthimmel im Westen; er konnte schon die Sprossen der Leiter zählen; zwei alte Stricke oder Ketten pendelten im Wind von den Querbalken herab. Oben drauf saß ein großer Vogel, es konnte kaum ein Rabe sein. Er glaubte seine alte Freundin, die Eule, wiederzuerkennen.

Ringsum herrschte tiefe Stille; nur von der Donau her hörte man das Rauschen des Windes im kahlen Buschwerk, das den steilen Abhang nach dem Fluß hin bedeckte. Zweihundert Schritte weiter hinaus im öden, flachen Feld stand eine Schäferhütte, und kaum sichtbar in der tiefen Dämmerung, dicht zusammengedrängt in ihren Hürden, lag eine kleine Herde schlafender Schafe. Selbst sie hätte er gerne weggewünscht. Mit Mühe schob er den Karren über das weiche, frischgeackerte Feld; doch war es ihm nicht unlieb, daß es aufgefroren war. Sicher war er ja nicht, wie der erste Versuch enden würde, aber entschlossen, lieber Hals und Bein zu brechen, als unverrichteter Dinge sein Fuhrwerk nach der Stadt zurückzuschieben.

Er war erschöpft und nicht in bester Stimmung, als er an dem Gemäuer anlangte und auf dessen windstille Seite die Laterne anzündete, die er mitgebracht hatte. Dann begann er seinen Wagen zu entladen. Ein großer Erfinder zu werden, hatte doch recht unangenehme Seiten. Es sah alles so gespenstig aus; selbst die Eule oben auf dem Querbalken des Galgens ließ sich nicht stören und schien halb neugierig, halb verdrießlich das Treiben des sonderbaren Ankömmlings zu betrachten. Der Vogel ärgerte ihn, und ein Wunder war es nicht, daß er an seinen Freund Lombard dachte, wie er ihn vor den drei Kerzen und dem Totenkopf auf den Knien gesehen hatte. Es sah wahrhaftig aus, als ob auch er das Gestell für eine Teufelsbeschwörung aufbaute.

Obgleich er sich am Fuß des Mauerwerks in verhältnismäßiger Windstille befand, machte es einige Schwierigkeit, den großen Apparat zusammenzustellen, und ganz unmöglich erwies sich, ihn auf die Plattform des Baus hinaufzubringen, ohne ihn zu zerbrechen. Er mußte ihn wieder auseinandernehmen, die einzelnen Teile getrennt hinauftragen und sie oben unter dem Galgen aufs neue zusammenstellen. Glücklicherweise hatte der Frühlingssturm, der in warmen Stößen von Westen kam, nachgelassen, sonst wäre auch dies schwerlich gelungen, obgleich ihm die Leiter außerordentlich gute Dienste leistete, an der er das Gestell, das die flügelartigen Rahmen trug, aufhängen konnte. Es geschah dies mittels einer Schleife, die er von unten, von dem kleinen Korb aus, in welchem er selbst stehen oder sitzen sollte, lösen konnte. Aber es war harte und mühselige Arbeit, da es mittlerweile schwarze Nacht geworden war und der matte Schimmer der Laterne nur einen Teil der Maschine beleuchten konnte. Doch war er jetzt nahezu fertig und stellte sich zur Probe in den Korb, der ihn während des Versuchs tragen sollte.

Er sah nach oben und klatschte in die Hände. Noch immer wollte sich die Eule nicht verscheuchen lassen. Sie kam ihm jetzt vor wie ein böser Geist der darauf wartete, zu Hilfe gerufen zu werden: das infernalische Tier wußte ja, wie man fliegt.

Endlich war alles bereit. Ein ruhiger stetiger Wind blies vom Kuhberg her und jagte goldbraune Wölkchen an der dünnen Mondsichel vorüber, die fast senkrecht über dem Galgen erschien.

»Jetzt oder nie – in Gottes Namen!« flüsterte er, im Geist die Faust gegen die Eule erhebend, die bösartig zu fauchen angefangen hatte. Dann zog er an der Leine, die die zwei Haupttragrahmen hob, so daß sie dem Wind eine nach vorn geneigte Fläche darboten. Ein freudiger Schauer durchzuckte ihn. Er fühlte sofort den leichten Druck nach oben. Kein Zweifel, die Maschine wollte fliegen.

»Jetzt oder nie!« rief er noch einmal, löste mit einem scharfen Zug die Schleife, an der der Apparat hing, und sprang über den Rand des Gemäuers in die Luft hinaus. Er schwebte – er schwebte! Einen Augenblick lang fühlte er den Zug nach oben schärfer; dann rauschte und krachte es über seinem Kopf; eine Sekunde später war jeder Druck oder Zug verschwunden. Er stürzte zur Erde und die Maschine, ein Gewirr von Schnüren und Stangen, Rahmen und Leinwand, deckte ihn zu.

Es war kein hoher Fall, da er tatsächlich abwärts fliegend mit dem Apparat, der wie ein Fallschirm wirkte, dem Boden schon ziemlich nahe gekommen war, als das Gestell zusammenbrach. Er verlor die Besinnung nicht für einen Augenblick; trotzdem blieb er einige Minuten still liegen, um sich zu sammeln und zu überlegen, was jetzt zu tun sei. Auch wollte ein heftiger Schmerz in seinem Fuß beobachtet sein, ehe er ihn regte. Etwas vom wahren Erfinder hatte er doch in seinem Temperament: Die klägliche Niederlage hatte ihn nicht im geringsten entmutigt. Aber er war fast hilflos und versuchte jetzt, stöhnend vor Schmerz, sich unter der Leinwand hervorzuarbeiten und wenigstens den Kopf frei zu bekommen. Es gelang, als gerade die Eule über ihm wegflog und kreischte, als wenn sie lachte. Sie flog langsam; es schien, sie wollte sich die Sachlage genau betrachten, so daß auch er sie ganz genau sehen konnte. Da schoß ein Gedanke durch seinen Kopf, der ihm mit einem Schlag neues Leben gab. »Das ist's! Das ist's!« flüsterte er schaudernd und schloß die Augen, um zu denken.

»Donnerkeil!« rief plötzlich eine rauhe Stimme über ihm. »Was ist denn da drunten? Der Teufel ist's nicht, der müßte schon anders rumoren. Raus mit dem Kerl!«

Berblinger setzte sich auf und sah um sich. Vor ihm stand ein Mann in einem blauen Bauernhemd, mit einer Schippe in der Hand, die er wie eine Hellebarde gegen ihn gerichtet hatte. Er schien trotz seiner mutigen Worte und kriegerischen Stellung erschrocken genug zu sein.

»Helft mir auf, guter Freund«, sagte Berblinger, »ich glaube, ich habe den Fuß gebrochen.«

»Geschieht Euch recht«, erwiderte der Bauer. »Was habt ihr Stadtleute hier außen am Galgen zu tun? Ei so schlag! Und all das Zeugs da!«

Der Schneider stand auf und fühlte mit großer Genugtuung, daß er nichts gebrochen hatte; zu gehen war er trotzdem kaum imstande.

»Ihr habt wohl ein Stück vom Galgenstrick holen wollen?« fragte der Schäfer. »Ein bissel hexen will jeder, der's nicht versteht. Da liegt Ihr jetzt, verhext genug. Geschieht Euch recht!«

»Helft mir heim und haltet das Maul; es soll Euer Schaden nicht sein«, bat der Verunglückte.

»Was gilt's?« fragte der Bauer.

»Dreißig Kreuzer. Das Zeug könnt Ihr auch behalten.«

»Dreißig Kreuzer – dafür tu' ich's. Das Zeug mag der Teufel holen, für den Ihr es wohl gemacht habt. Ei so verreck, ei so verreck!«

Auf den Schäfer gestützt machte der Schneider einen mühsamen Versuch zu gehen; aber es war nicht möglich, weiterzukommen. Die Schmerzen in seinem Knöchel wurden unerträglich. Da sah sein Retter, der durch fortwährendes halblautes Fluchen die bösen Geister zu beschwören suchte, von denen es um den Galgen wimmelte, den Handkarren im Schatten des Gemäuers stehen und lachte.

»Donnerkeil! Ihr habt ja das Fuhrwerk schon mitgebracht! Setzt Euch drauf; ich führ' Euch in die Stadt um achtundvierzig Kreuzer Ulmer Geld.«

Der Schäfer erhielt einen Gulden, zwölf Kreuzer extra fürs Maulhalten. So kam Berblinger nach seinem ersten Flugversuch nach Haus. Er lag während des größeren Teils der Fahrt flach auf dem Rücken, die Augen starr nach oben gerichtet. Hätte jemand sein Gesicht beobachtet, so müßte er auf die Vermutung gekommen sein, man bringe jemanden, wenn auch verwundet, aus einem ruhm- und siegreichen Gefecht, so froh und hoffnungsvoll sah er aus. Dabei murmelte er von Zeit zu Zeit, beide Arme in die Höhe werfend: »Ich hab's, ich hab's. So muß es gehen!«

Dem Schäfer wurde nachgerade ganz bange. »So was!« brummte er. »Der lacht noch, wenn man ihn mit zerbrochenen Knochen heimkarrt. Steckt doch am Ende der Teufel hinter dem Kerl!«


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