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24. Ein Vorläufer

›Wer weiß, in welche Spelunke ich ohne Brechtle in der großen Stadt geraten wäre‹, sagte der dankbare Enderle manchmal zu sich selbst, wenn er einfädelnd über sechs Gesellen hinweg nach dem obersten Platz in der hellen geräumigen Werkstatt des Oberhofschneidermeisters von Kratzky sah, wo sein Freund und Landsmann mit krauser Stirn über eine Uniform oder ein goldbetreßtes Staatskleid gebeugt emsig drauflosnähte. Richtiger wäre es gewesen, hätte Berblinger zu sich gesagt: ›Wo wäre ich jetzt ohne den guten Enderle, der mich seit einem halben Jahre – der Kuckuck hole ihn! – nicht aus den Augen läßt.‹

Es war ein böser Herbst und Winter für Berblinger gewesen; der schlimmste, den er bis jetzt erlebt hatte, und das will, wie wir wissen, etwas heißen. Dabei ging es ihm so gut, daß ihn alle im ›Grünen Turban‹ beneideten, wenn dort die Lage des Geschäfts und die Verhältnisse der ›Gesellschaft‹ besprochen wurden. Er war in kurzer Zeit einer der ersten Zuschneider bei Herrn von Kratzky geworden, hatte dessen feinste Kunden zu bedienen und wurde von dem Meister zu den geheimsten Beratungen zugezogen. Daß er Geld verdiente wie Heu, war sprichwörtlich geworden, und man begriff nicht, wie der alte Jude – man hielt Herrn von Kratzky allgemein für einen verkappten Juden, obgleich er keine Messe in der Hofkirche versäumte – mit einemmal so splendid werden konnte.

Und doch!

In den ersten Tagen nach dem großen Unglück im Prater, das die ganze Stadt in Aufregung versetzt hatte, war er wie betäubt umhergelaufen. Er wollte sich wieder auf die Wanderschaft machen, ohne zu wissen wohin; aber Enderle, dem er einen Platz bei Kratzky verschafft hatte, ließ ihn nicht ziehen, und er war zu willenlos, sich loszureißen. Dann kamen Wochen, Monate, in denen er dem wackeren Enderle noch weniger gefiel, als wenn er ihm zerlumpt auf der Walze begegnet wäre. Die große Stadt mit ihrem bösen Treiben schien ihn gepackt zu haben und verschlingen zu wollen. Daß er dabei noch arbeitete, oft wie toll, denn die Arbeit ging ihm von der Hand wie keinem, ließ seinen Freund die Hoffnung nicht verlieren. So konnte es ja nicht fortgehen; endlich mußte er der Weiber, des Spielens und Trinkens oder der Arbeit müde werden, und es war immer noch möglich, daß ihn die Weiber zuerst anekelten. Wenn sie am Sonntag nachmittag schweigend nebeneinanderher gingen – Berblinger zog es immer noch nach dem Prater, wo er als der fesche Schneider bekannt und gern gesehen war –, fragte ihn Enderle manchmal schüchtern, an was er denke. »An den Ballon«, sagte er fast regelmäßig mit einem Gesicht, als habe ihn die Frage wütend gemacht, und warf der ersten Bänkelsängerin, der sie begegneten, einen Gulden zu. Das Mädchen hängte sich dann lachend an seinen Arm, und Enderle schlich hinter ihnen her mit einem langen Gesicht, soweit er ein langes Gesicht zu machen vermochte. Manchmal, aber selten genug, brachte er es dahin, daß sie einen Ausflug nach dem Wiener Wald machten, statt sich im Wurstelprater herumzutreiben. Dort konnte Berblinger, im dürren Gras liegend, stundenlang in die blaue Luft hinaufstarren und sah dabei so traurig und verschlossen aus, daß auch Enderle am liebsten schwieg. Manchmal, ganz plötzlich, kam dann ein helles Licht in seine Augen und er sagte: »Es muß! – Es muß doch gehen!« Sein Freund getraute sich aber nicht zu fragen, was gehen müsse.

Kratzkys Geschäft war wenn nicht das größte, zweifellos das vornehmste in Wien. Als kaiserlich-königlicher Oberhofschneidermeister war er nicht an die Zunftregeln gebunden, welche die Zahl der zulässigen Gesellen jedes Meisters bestimmten, und konnte die Werkstätte in dem stattlichen Haus hinter den Tuchlauben nach Bedürfnis besetzen. Selbst in flauen Zeiten beschäftigte er zehn bis zwölf Gesellen und hatte seine Kundschaft in der hohen Aristokratie der Kaiserstadt, die zwar schwer zu bedienen und nicht immer prompt im Bezahlen war, schließlich aber auch die gesalzenste Rechnung ohne Murren beglich. Außer diesen Kunden ließen namentlich solche bei Herrn von Kratzky arbeiten, die sich nach Möglichkeit das Aussehen von Kavalieren geben wollten und denen er seinen Rat in Form von Befehlen zu erteilen verstand. Manches mißlungene Stück, das von dem dünnen Prinzen X zurückgewiesen worden war, paßte dem dicken Bankier Y aufs Haar.

Merkwürdig war, wie wenig der Chef des blühenden Geschäfts vom Handwerk selbst verstand. In den Werkstätten machte er hieraus kein Hehl, schien im Gegenteil stolz darauf zu sein. Dagegen verstand er zwei Dinge musterhaft: seine Arbeiter auszuwählen und auszunutzen und mit seinen Kunden umzugehen. Hierfür hatte er ein System, das den Großbetrieb eines späteren Jahrhunderts ahnen ließ. Angenäht an das ›Maß‹ jedes Kunden hing ein kleiner roter Zettel, auf dem einer der sechs Buchstaben von A bis F geschrieben stand. Was diese Zeichen bedeuteten, war des Meisters Privatgeheimnis, in das Berblinger eingeweiht wurde, nachdem er sich einen Monat lang beim Anproben ganz besonders ausgezeichnet hatte.

Die Buchstaben bezogen sich auf den Charakter der Kunden und deren Behandlung. Während einer vertraulichen Dämmerstunde, nachdem es zu Kratzkys höchster Befriedigung Berblinger gelungen war, den jungen Fürsten von Schwarzenberg zu überzeugen, daß ihm ein zu knapp geratener Reitrock eigentlich zu weit sei, empfing der hoffnungsvolle Assistent hierüber folgenden Aufschluß.

»Für ein großes Geschäft, sieht Er, Berblinger, ist die Hauptsache: Ordnung, Methode, System. Alles andre kommt dann von selbst. Wie die Knöpfe in einer großen Nähschachtel, müssen auch die Kunden sortiert werden. Dann bekommt Er auf den ersten Griff den rechten Knopf in die Hand und weiß, wie Er ihn zu drehen hat. Desgleichen die Kunden, die ich in sechs Klassen einteile: A, B, C, D, E und F. Merk Er sich, was ich sage, und sag Er's nicht weiter!

Mit den Herren von A ist am leichtesten zu verkehren. Sie wollen nach der neusten Mode gekleidet sein, und da sie selten wissen, was die neuste Mode ist, läßt sich alles mit ihnen machen. Denn auch das Neuste, von dem sie sprechen, muß ein geschickter Schneider durch etwas noch Neueres zu übertrumpfen wissen, das gar nicht neu zu sein braucht. Vergeß Er nie, wer die neuste Mode macht. Wir. Ruhige Bestimmtheit, keine übermäßig höflichen Phrasen, aber auch nie ein direkter Widerspruch – das hält sie am besten bei guter Laune.

Schwieriger sind schon die Herren von B. Auch sie wollen modern gekleidet sein, haben sich aber eine ganz bestimmte Form ausgedacht. Sie haben sie vielleicht bei einem Freund gesehen, dem sie paßt. Ihr Körperbau, ihre Art sich zu geben, ihr Charakter mag einen ganz andern Schnitt verlangen. Hier ist Vorsicht nötig. Beim Anproben sind diese Herren mit möglichst gleichgültiger Miene zu fragen, ob sie nicht diese oder jene Änderung vorziehen würden. Das muß in verschiedenen Wendungen wiederholt werden, bis sie glauben, den Vorschlag selbst gemacht zu haben. Auch hier alles eher als ein direkter Widerspruch! Nur durch List sind diese Herren zu überzeugen, was wirklich gut für sie ist.

Fragt man die Herrschaften von C, meist grämliche alte Herren, manchmal auch ein Junger, der Charakter zeigen möchte, ob sie modern gekleidet zu sein wünschen, so antworten sie mit einem scharfen Nein oder gar mit der Frage, ob man einen Geheimen Obersteuerrevisor erster Klasse für einen Sansculotten halte. Hier muß vorsichtig vermieden werden, den Eigenheiten der Kunden zu sehr nachzugeben, denn im Grunde sind sie meist doch unzufrieden, wenn sie wie ein Gespenst aus dem vorigen Jahrhundert herumlaufen. Beim Anproben ist auf ihre kleinen Wünsche, die oft zahllos sind, scheinbar einzugehen, und wo es dem Eindruck, der Harmonie des Ganzen nichts schadet, sind sie wohl auch zu berücksichtigen. Man kann ja auch in der Kostenrechnung darauf Rücksicht nehmen; doch das, Berblinger, darf Er getrost mir überlassen.

Am schlimmsten sind die Herren von D, die grillenhaften und eigensinnigen Kunden. Schon bei der Bestellung haben sie tausend sich widersprechende Wünsche. Beim Anproben ist ihnen die Brustweite zu eng, die Ärmel sind zu lang, die Rockschöße zu kurz. Ein zweites Mal zu fragen kann ihren Zorn erregen. Fragt man, ob ihnen der Abstich der Vorderteile, die Form des Kragens und der Klappen so oder so genehm sei, so antworten sie barsch, das müsse der Schneider wissen, sonst sei er kein Schneider. Hier, wenn der Mann ein guter Zahler ist, gilt es Geduld zu zeigen und sich vor dem Gallenfieber zu hüten. Schließlich läuft der Kunde schimpfend im elegantesten Anzug davon und schickt am nächsten Tag seinen Vetter, dem er sagt: Er könne nichts Gescheiteres tun, als sich bei demselben Esel kleiden zu lassen. Auch den Esel setz' ich dann auf die Rechnung; aber dafür laß Er nur mich sorgen, Berblinger.

Einen ausgesprochenen Gegensatz zu der Klasse D bilden die Herren von E. Sie haben nur einen Wunsch: irgendeinem bestimmten hohen Herrn oder einem stadtbekannten Stutzer möglichst gleichzusehen. Wie das zu machen ist, wissen sie natürlich nicht. ›So sieht Graf Potocky aus, wenn er die Redoute besucht‹, ›so bezaubert Herr von Gigerl alle Damen im Prater‹, ist ihnen mitzuteilen, und damit müssen sie sich zufrieden geben. Sie tun's auch, wenn man darauf besteht. Hier keine Weichheit, keine Nachgiebigkeit! ›In diesem Kleid, Herr von Holzhuber, könnte ich selbst Sie nicht vom Fürsten Ypsilanti unterscheiden. Empfehle mich, Herr von Holzhuber; die Rechnung werde ich mir erlauben Ihnen zuzusenden. Federleicht, schreib Er die Rechnung für Herrn von Holzhubers Ypsilantifrack!‹ – Damit ist auch der Holzhuber versorgt.

Die letzten sind die Herren von F. Sie machen die wenigste Mühe und sind mir trotzdem unausstehlicher als alle andern; denn seh Er, Berblinger, man muß auch ein Herz für sein Geschäft haben, sonst bringt man's zu nichts. Den Herren von F ist es wirklich ganz gleichgültig, wie sie herumlaufen, und deshalb laufen sie auch im superfeinsten Staatskleid umher, als ob sie in nasses Packpapier eingewickelt wären; eine Schande für sich und ihren Schneidermeister. Gott der Gerechte! Schließlich sind sie auch seine Geschöpfe, und man kann sie nicht herumlaufen lassen, nackt, wie er sie geschaffen hat. Auch nehmen sie manchmal einen Anzug mit, den sonst kein Mensch anrühren würde. Es hat eben alles seinen Zweck und Nutzen im Weltall.

Jetzt kann Er gehen, Berblinger«, schloß der Chef des feinsten Ateliers der Kaiserstadt. »Schneid Er Zichys Jagdanzug nicht zu eng über die Taille. Der Herr Graf wird mit jedem Jahr dicker und hat schon jetzt einen Malefizbauch, auf den beim Einschlag Rücksicht zu nehmen ist. – Er versteht mich jetzt. In Zukunft, beim Anproben, paß Er auf. Wenn ich sage: ein Herr von D oder ein Herr von C, weiß Er, was Er vor sich hat und wie er zu behandeln ist. Darauf kommt in einem großen Geschäft viel an – fast alles.«

Es machte Berblinger selbst manchmal nachdenklich: Je bitterer und mißmutiger seine Stimmung war, um so besser konnte er mit Kratzkys Kunden umspringen. Es war, als spielte er mit dem Bösen, als machte ihm das Spiel Spaß. Sein Chef war entzückt. »Er hat Bildung, der Berblinger, weiß der Kuckuck woher, aber er hat Bildung, und die besseren Kunden haben dies nicht ungern. Also immer zu! Solang das Geschäft blüht wie heutzutage lohnt es sich, einen Burschen von Bildung in der Probestube zu halten. Es soll mein Schaden nicht sein.«

 

So verlief der Winter, trotz aller Arbeit und aller Vergnügungen, die Berblinger in freudloser Unruhe aufsuchte, ohne eine einzige freundliche Erinnerung zurückzulassen. Gleichgültig ging er am hübschesten Wiener Madel vorüber, selten dachte er an Lucinde, nur Enderle erinnerte ihn gelegentlich an Gretle und merkte bald, daß er damit seinem Freund keinen Gefallen tat. Selbst wenn der Lieblingsgedanke auftauchte, der ihm früher jeden müßigen Augenblick belebt hatte, packte ihn jetzt ein leiser Schauder. Er sah Irma zwischen Himmel und Erde – nur Irma. Wollte es hinter den Tuchlauben noch immer nicht Frühling werden?

Es war in den ersten Tagen des März, als ihn Kratzky, wie jetzt fast täglich, in das Probezimmer rief, wo er seinen Chef neben einem kleinen, wohlbeleibten Herrn antraf, der in Unterbeinkleidern und einem blauen Frack mit vergoldeten Knöpfen zwischen den großen, im Winkel gestellten Probierspiegeln hin und her spazierte. Der kleine Herr war hochrot im Gesicht, und auch Kratzky schien erzürnt zu sein.

»Seh Er selbst zu, was zu machen ist«, sagte er zu Berblinger. »Ein Herr von E. Der Frack sitzt wie angegossen, aber der Herr ist nicht zufrieden.«

»Nicht ein Herr von E; Degen heiß' ich«, sagte der Kunde gereizt, indem er sich vergeblich bemühte, sein Spiegelbild von der Rückseite zu erfassen. Es lief immer wieder aus dem zweiten Spiegel hinaus. »Ich habe einen Frack bestellt, wie ihn mein Freund, der Herr Professor Bumper, zu tragen pflegt. Ich habe Ihnen den Herrn Professor Bumper gezeigt und konnte einen entsprechenden Frack erwarten. Die Schöße sind viel zu lang, der Kragen nicht hoch genug.«

»Das sind genau die Längen des Herrn Professors«, widersprach Kratzky, seine eignen Regeln vergessend, »aber der Herr von Bumper ist lang und dünn und Sie –«

»Und ich?« unterbrach ihn der Dicke zornig. »Meine Arme will ich wenigstens regen können. Sehen Sie, so.«

Er schwang sie, als ob er eine Windmühle darstellen wollte.

»Natürlich, Herr von Degen«, fiel Berblinger begütigend ein. »Das will jeder unsrer Kunden. Auch hat noch keiner dieses Atelier verlassen, der nicht die Arme schwingen konnte wie ein paar Flügel.«

»Das ist's, das ist's!« rief der Kleine erfreut. »Sie scheinen die Sache zu verstehen. Ich muß morgen unweigerlich die Arme bewegen können – wie – wie ein paar Flügel.«

»Erlauben Sie, daß ich den Ärmel abtrenne. – Das ist ja ganz einfach. Mein Kollege hat die Achsel etwas zu lang geschnitten und das Armloch – hm – ein wenig zu weit nach vorwärts gestellt. Eine kleine Abänderung. Aber es ist nicht der einzige Fehler des im übrigen vorzüglichen Fracks. Es ist etwas schwierig, ihn vorn zu schließen. Finden Sie das nicht, Herr von Degen?«

»Donnerwetter, ja. Sie drücken mir die Brust ein.«

»Nicht so sehr die Brust als den Unterleib, Herr von Degen. Doch kommt es auf dasselbe hinaus. Sobald wir ihn zuknöpfen, wird hinten alles lebendig.«

»Was Sie sagen!« rief Herr von Degen, der endlich die richtige Stellung zwischen den Spiegeln gefunden hatte, um das Leben seiner Rückseite beobachten zu können.

»Sie gehen sehr aufrecht, Herr von Degen, mit zurückgeworfenen Schultern; eine echt militärische Haltung.«

»Wirklich? Die Wahrheit zu sagen, Herr Berblinger – Sie heißen doch Herr Berblinger – ich bin Uhrmacher von Profession.«

»Nicht möglich! Der Gang eines höheren Offiziers. Darauf wurde beim Schnitt des Kleids nicht genügend Rücksicht genommen. Erlauben Sie!«

Damit zog er den Frack energisch nach vorn und fragte teilnahmsvoll:

»Nun – wie geht es jetzt?«

»Es ist schon viel besser; ich fühle mich freier«, meinte Herr von Degen freundlicher. »Sie scheinen mir der rechte Mann am rechten Platz zu sein.«

»So verliert sich auch das Militärische Ihrer Erscheinung in etwas«, versetzte Berblinger, bescheiden ausweichend. »Der Frack hat jetzt schon eine mehr akademische Form. Darauf müssen wir hinarbeiten. Ich kenne Gelehrte, die stolz darauf wären, ein solches Kleidungsstück zu besitzen.«

»Darauf lege ich besonderen Wert«, versetzte der Uhrmacher. »Ich habe nämlich morgen die hohe Ehre, einen Vortrag in der Aula der k. k. Universität zu halten.«

»Ich sah dies auf den ersten Blick«, versicherte Berblinger.

»Was Sie sagen! Ja. Und da liegt mir daran, daß alles in geziemender Weise zur Erscheinung kommt.«

»Soweit wir dazu beitragen können, Herr von Degen, dürfen Sie ganz unbesorgt sein. Gestatten Sie mir, daß ich den Ärmel wieder anstecke. Sie müssen sich regen können.«

»Bei dem Gegenstand, über den ich zu sprechen habe, ist dies durchaus notwendig. Ich bin nämlich nicht mehr eigentlicher Uhrmacher. Ich beschäftige mich seit Jahren mit – mit – mit Fliegen.«

Berblinger fuhr zusammen. »Pardon!« rief er erregt, an dem Ärmel reißend.

»Sie haben mich gestochen!« sagte der Kleine, sich die Schulter reibend, fuhr dann aber eifrig fort: »Mit dem Problem des Fliegens. Ich glaube, nein, ich bin überzeugt, die richtige Lösung gefunden zu haben. Eine sinnreiche Kombination; das Ei des Kolumbus, das geflügelte Ei des Kolumbus! Ich sage nichts mehr. Morgen werde ich ja Näheres darüber mitteilen, und zwar vor den ersten Gelehrten der Universität und den höchsten Spitzen der Gesellschaft. Ich würde es selbst nicht wagen, wenn mein Freund, Professor von Bumper, mich nicht dazu animiert hätte. Er besteht darauf, daß in einer so wichtigen Sache dem physikalischen Lehrstuhl der Wiener Universität die Präzedenz nicht entgehen dürfe. Und dann hat Seine Kaiserlich-Königliche Hoheit, der Erzherzog Joseph Amadeus, seine Allerhöchste Anwesenheit zugesagt. Sie können sich jetzt selbst vorstellen, welche Bedeutung es hat, Herr Berblinger, den Frack rechtzeitig und mustergültig fertigzustellen.«

»Herr von Degen«, sagte Berblinger in großer Erregung, »wenn der Himmel einfällt: der Frack wird bereit sein.«

»So lass' ich mir's gefallen«, sagte der Uhrmacher aufatmend. »Wir verstehen uns. Also vor allem die Armlöcher –«

»Werden ausgeholt!« rief Berblinger. »Sie werden einen Frack erhalten, der gewissermaßen zum Fliegen geschaffen ist. Ah, wenn es mir vergönnt wäre, Sie in demselben sprechen zu hören, Ihre Erfindung in Tätigkeit zu sehen! Er muß umgebaut werden, aber er soll dann auch die Bewunderung der ganzen Welt auf sich ziehen, auf sich und seinen Träger. Ich garantiere Ihnen das. Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden Zeit.«

»Das geht, wenn ich mich darauf verlassen kann.«

»Wie auf Ihre Unsterblichkeit, Herr von Degen. Wenn ich ihn doch nur in Tätigkeit sehen könnte!« rief der arme Schneider, den jetzt seine alte Leidenschaft mit aller Macht gepackt hatte.

»So bringen Sie ihn selbst nach der Universität; morgen nachmittag gegen drei Uhr, nicht eine Minute später. Fragen Sie nach Professor Bumper, Zimmer Nr. 31; dort finden Sie mich. Und wenn Sie einem Wendepunkt in der Geschichte des Menschengeschlechts beiwohnen wollen – Sie scheinen bewegt zu sein, junger Freund –«

Berblinger war es in der Tat.

»Ich wundere mich nicht«, fuhr der kleine Herr fort; »mir ist es ähnlich zumute; aber lassen Sie mich nicht im Stich. Vieles – alles hängt davon ab, daß ich das Kleidungsstück rechtzeitig erhalte. Ich will Ihnen offen gestehen, daß ich nicht gewohnt bin, vor allerhöchsten Herrschaften Vorträge zu halten und Flugversuche zu machen. Da ist es eine Beruhigung, wenigstens zu wissen, daß die äußere Erscheinung den Umständen entspricht. Meines Vortrags glaube ich sicher zu sein, dagegen –«

»Darf ich Sie daran erinnern«, unterbrach ihn Berblinger bescheiden, »daß Sie die seidenen Beinkleider noch nicht angelegt haben.«

»Was Sie sagen!« rief der Erfinder, erstaunt an sich hinuntersehend, was einige Schwierigkeiten hatte. »Ei, ei, das haben wir ganz übersehen. Tut nichts. Die Hosen sind weniger wichtig und werden schon passen. Geben Sie mir nur meine alten! Danke, Herr Berblinger. Aber der Frack –«

»Schlafen Sie ruhig! Wenn wir die ganze Nacht durch arbeiten müßten – der Frack wird bereit sein.«

»Ich vertraue Ihnen, junger Mann. Hier haben Sie eine Karte, die Sie berechtigt, mich zu hören. Herr von Kratzky, Sie besitzen einen vortrefflichen Mitarbeiter. Ich verlasse Sie beruhigt – befriedigt. Ein großer – vielleicht der größte Tag der Kulturgeschichte mag jetzt anbrechen, wenn auch –«, hier wurde Degens Stimme plötzlich etwas schwankend, »wenn auch noch nicht alles erreicht werden sollte, was die Menschheit von uns erwartet.«

Herr von Degen ging, in seine militärische Haltung mehr als zurückfallend. Berblinger raffte die Stücke des vielbesprochenen Kleidungsstücks zusammen, entschlossen, den Dank des größten Erfinders des neuen Jahrhunderts zu verdienen. Der Frack mußte völlig zertrennt werden. Er und Enderle saßen bis nachts zwei Uhr an der Arbeit, dann erst waren sie sicher, rechtzeitig fertig zu werden, und Enderle freute sich, wie eben nur er sich freuen konnte, zu sehen, daß sein Freund endlich wieder einmal mit Leib und Seele bei der Sache war.

 

Als am folgenden Tag Herrn von Kratzkys erster Zuschneider höchst zunftwidrig mit einem Paket unter dem Arm eine volle Stunde zu früh in das Universitätsgebäude trat und nach Professor von Bumper und Nr. 31 fragen wollte, wurde er von dem gepuderten und festlich geschmückten Portier mit vorgehaltenem Amtsstabe aufgehalten und in herrischer Weise bedeutet, daß der Herr Professor noch nicht gekommen sei und er warten möge. Damit führte ihn der Torgewaltige in ein kleines, düsteres Stübchen hinter seiner Loge und überließ ihn seinen Betrachtungen.

Ungeduldig sah er sich um und bemerkte, nachdem sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, einen Leidensgenossen, der in einem Lederstuhl saß und mit den Fersen trommelte. Bei näherem Zusehen zeigte sich, daß der Mann die Uniform eines Polizeikommissars trug, was auch der schnurrende Ton bestätigte, mit dem er den höflichen Gruß des Schneiders erwiderte. Trotz der wenig ermutigenden Einleitung kam ein stockendes Gespräch zustande, das eine vertraulichere Wendung nahm, als Berblinger seine Einladungskarte zu Herrn Degens Vorlesung zeigte und sein brennendes Verlangen nicht verheimlichte, den hochbedeutsamen Versuchen beizuwohnen.

Der Polizeikommissar lächelte überlegen.

»Er ist nicht der einzige, der darauf wartet«, sagte er. »In den höchsten und allerhöchsten Kreisen sind sie seit etlichen Monaten wie besessen. Alles will fliegen. Aber ich bitt' Ihn: was soll aus Ordnung und Polizei werden, wenn die ganze Gesellschaft, Spitzbuben eingeschlossen, zu fliegen anfängt? Was hülfe der Hausschlüssel, wenn keine Dachluke mehr sicher ist? Zu was wären Stadttore gut, wenn jeder Stromer über die Mauern wegflöge? Hat Er schon einmal Wespen schwärmen sehen? Kann das geduldet werden?«

»Eine große Umwälzung aller Verhältnisse müßte natürlich eintreten«, gab Berblinger zu.

»Umwälzung! Da haben wir's!« versetzte der andre gereizt. »Umwälzung – Revolution; ganz richtig. Geht's nicht in der Politik, versucht man's im gesellschaftlichen Leben. Kann das geduldet werden, frage ich? Hier in Wien? Plauschen S' mir nichts vor!«

Berblinger schwieg, wie befohlen, der andre aber fuhr fort:

»Das sieht er selbst ein, der Herr von Degen, und solange die Professoren da drinnen nur davon schwatzen, hat's keine Not. Aber Versuche? Dafür muß eine vorsehende Regierung beizeiten sorgen, selbst wenn hohe und höchste Herrschaften an nichts Böses zu denken geruhen. Ich bin von Amts wegen hier und erwarte nur das Signal meines Vorgesetzten, der schon oben ist und sich mit Herrn von Degen bespricht. Es wird alles ganz ordnungsgemäß verlaufen, denk' ich. Was hat Er denn da in seinem Paket? Ist wohl auch ein Stück der kuriosen Flugmaschine?«

In diesem Augenblick trat der Portier etwas hastig in das Hinterstübchen.

»Ist ein Herr Berblinger da?« fragte er in gedämpftem Ton. »Der Herr Berblinger soll sofort nach Nr. 31 kommen. Ich werde ihm selbst den Weg zeigen.«

Der Kommissar, der im Eifer des Gesprächs aufgesprungen war, setzte sich wieder, indem er mit allen Zeichen rückkehrender Geduld mit den Fersen zu trommeln fortfuhr, während sich der Zuschneider nach einer fast spöttischen Verbeugung, sein Bündel unter dem Arm, mit dem Portier entfernte. Er wußte denn doch etwas mehr von den bevorstehenden Ereignissen, als sich eine hohe Polizei träumen ließ.

In einem mit physikalischen Geräten und Modellen gefüllten Zimmer, bei deren Anblick Berblingers Herz stärker klopfte, fand er einen langen hageren Herrn in blauem Frack mit vergoldeten Knöpfen, der dem Kleidungsstück, welches er unter dem Arm trug, sichtlich als Muster gedient hatte. Das also war Herr von Bumper, Professor der Physik an der k. k. Universität zu Wien, ein Mann, der sich für das Flugproblem leidenschaftlich interessierte, seitdem er in Erfahrung gebracht hatte, daß dies bei Seiner Kaiserlich-Königlichen Hoheit, dem jungen Erzherzog Joseph Amadeus, ebenfalls der Fall war. Neben ihm stand der kleine dicke Degen, der Berblinger mit sichtlicher Freude entgegenging und ihm sein Paket abnahm. Vor einem polierten und gekrümmten Stahlblech, das zu optischen Demonstrationen diente, legte er unter lebhaften Entschuldigungen das neue Kleidungsstück an und fand es in dem Blech, welches die dicke rundliche Gestalt als einen zehn Fuß langen, dünnen Riesen widerspiegelte, im höchsten Grad befriedigend. Auch ohne Verzerrung waren der lange dünne Professor und der kurze dicke Erfinder in dem gleichen blauen Frack ein leidlich komisches Paar, um so mehr, als beide in jeder Bewegung verrieten, daß sie von der Bedeutung des Tags und vor allem von der Rolle, die ihnen hierbei zufiel, aufs tiefste durchdrungen waren. Mit wohlwollender Herablassung empfahl der Uhrmacher dem Schneider, die Vorlesung, die in einer halben Stunde beginnen werde, nicht zu versäumen, denn sie dürfte von größerer Bedeutung sein als selbst die praktischen Demonstrationen, die er am Schluß seines Vortrags vorzuführen gedenke. Warum sich hierbei die beiden Herren etwas verlegen anlächelten, konnte sich Berblinger nicht erklären.

Ohne Schwierigkeit andern folgend, fand er seinen Weg in den großen Saal, in dem sich bereits eine Anzahl Zuhörer und Schaulustige eingefunden hatten. In einer Ecke, nahe der festlich geschmückten Rednerbühne, fand er auf den unteren Sprossen einer Bibliotheksleiter einen vortrefflichen Platz, von dem aus er halbversteckt hinter einem zu weiterem Schmuck aufgestellten Oleanderbaum die Versammlung beobachten konnte. Als sich später auch der Portier zu ihm gesellte, der mit einem Male höflich und gesprächig geworden war, kam ihm erst zum vollen Bewußtsein, in welch vornehmer Gesellschaft er sich befand. Trotzdem hätte er des schützenden Oleanders nicht bedurft. Der zierliche, nach neuester Mode sorgfältig gekleidete erste Zuschneider der Firma Kratzky konnte sich neben jedem der anwesenden jüngeren Herrn von altem Adel sehen lassen. Kleider machen Leute.

Da waren in amtlichen Talaren und noch immer mit den gepuderten Haarbeuteln des vorigen Jahrhunderts geschmückt die Gelehrten der Universität, Physiker, Mathematiker, Naturforscher, ja auch Vertreter andrer Fakultäten, welche die Neugier oder jene Ideenverbindungen herbeigezogen hatten, zu denen das Problem des menschlichen Flugs schon seit Jahrhunderten anregte: Physiologen, welche die Entwicklung einer neugearteten Muskulatur des menschlichen Körpers in ihrem Entstehen beobachten wollten, Juristen, die bereit waren, ein neues Kapitel der Rechtspflege auszuarbeiten, welches die Benutzung des Luftraums zu Verkehrszwecken nötig machen würde, Theologen mystischer Richtung, die ahnten, daß man im Begriff war, dem Stande der Engel um einen Schritt näher zu kommen, andre, die das Gegenteil fürchteten, denn war nicht auch der Satan ein geflügeltes Wesen? Jeder dieser gelehrten Herren hatte auch sofort einen Gegner zur Seite, der die Möglichkeit eines Erfolgs derartiger Bestrebungen in demonstrativer Weise leugnete. Alle aber erschienen im festlichen Ornat, nicht so sehr weil es die Wichtigkeit der Zusammenkunft erheischte, als weil Seine Kaiserlich-Königliche Hoheit der Erzherzog Joseph Amadeus sein Kommen zugesagt hatte. Es war unverkennbar, daß Höchstdieselben den Erfinder – »denken Sie sich, Herr Kollega, einen simplen Uhrmacher, den der verschmitzte Bumper irgendwo aufgegabelt haben muß« – unter seine besondere Protektion genommen hatte. Damit hing zusammen, daß eine größere Anzahl hoher Offiziere den Saal zu füllen begann. Sie unterhielten sich lauter als andre über die Folgen der epochemachenden Erfindung, die Wahrscheinlichkeit einer Invasion Englands durch ein französisches Heer auf dem Luftwege, die Versorgung eines abgeschnittenen Armeekorps durch ein geflügeltes Proviantamt, die künftige Unmöglichkeit, eine Festung einzuschießen, die Bildung einer Luftkavallerie, wenn auch vorläufig nur zum Zweck des Aufklärungsdienstes. Einige der Herren nahmen die Sache so ernst, daß sie sich flüsternd erhitzten, während andre in sichtlich nicht ernstgemeinten Phantasiegebilden schwelgten, bis das Stirnrunzeln eines greisen Feldmarschalls der unpassenden Heiterkeit ein Ziel setzte. Auch hohe Zivilbeamte kamen in großer Zahl, alle in ihren reichdekorierten altertümlichen Uniformen, Herren vom Ministerium des Innern, der Finanzminister, der ein neues Steuerobjekt erhoffte, in eigner Person, der Minister des kaiserlichen Haushalts, mehrere Herren der ausländischen Gesandtschaften, unter denen der türkische sich durch die Ruhe auszeichnete, mit der er der kommenden Umwälzung entgegensah. Fast kein Platz blieb mehr für das bürgerliche Zivil in schwarzem Frack und weißer Binde; selbst einige hervorragende Bankiers wurden in unwürdiger Weise an die Wand gedrückt.

Man hatte anfänglich geglaubt, des wissenschaftlichen Charakters der Versammlung wegen Damen nicht zulassen zu sollen, aber hierbei die treibende Kraft der Neugier des zarten Geschlechts unterschätzt. Umsonst wurde den Schönen vorgestellt, daß sie die mathematischen Entwicklungen des Professors Bumper ebenso langweilig finden würden wie Herrn von Degens mechanische Erklärungen. Sie bestanden darauf, diesmal die ersten zu sein, den letzteren fliegen zu sehen, mit oder ohne Mathematik, und wenn wieder ein Unglück passieren sollte wie im Prater, wollten sie nicht abermals nur in den Zeitungen davon lesen. Überdies werde ja der Erzherzog Amadeus erwartet, dieser zum Küssen hübsche Amor unter den Erzherzogen. Daß er die Damen erwarte, sei doch selbstverständlich. Seitdem sich gar die Nachricht verbreitete, daß die junge Fürstin von Metternich mit oder ohne Zustimmung des Kuratoriums der Universität an der Versammlung teilnehmen werde, war kein Halten mehr: der schwache Widerstand der Gelehrtenwelt war gebrochen, die ersten zwei Reihen von Stühlen verschwanden unter riesigen Turbanen, wallenden Federn, Blumen aller Jahreszeiten, lieblichen, lachenden Gesichtern, gierig, nicht nur Herrn von Degen fliegen zu sehen, sondern selbst zu fliegen, sobald sich der Amor von Erzherzog zeigen sollte, und womöglich in seine Arme.

Schon seit zehn Minuten stand auch Professor Bumper, eine Rolle Papier in der Hand, neben der Rednerbühne und ihm zur Seite, in glänzendneuem blauem Frack, der Held des Tags, Herr von Degen. Umgeben waren die beiden von einem kleinen Kreis der Auserwähltesten unter den Auserwählten, die dem etwas verschüchterten Uhrmacher zu der glänzenden Gesellschaft Glück wünschten, die sich um ihn versammelt hatte. Ein ungewohntes Summen und Rauschen füllte seine Ohren. Er war etwas bleich geworden und sah fast ängstlich, nicht wie alle andern nach der jetzt geschlossenen Saaltüre, sondern in die Ecke, wo sich Berblinger und der Portier hinter dem Oleanderstrauch bargen. Da endlich hörte man draußen im Treppenhaus drei laute Schläge; eine plötzliche Stille trat ein, die Herren ordneten sich hastig in zwei langen, dichten Reihen, zwischen denen ein breiter Gang frei blieb, durch den der Rektor Magnifikus in rotem goldverbrämten Talar, gefolgt von Professor Bumper in einem ähnlichen, aber schwarzen Gewand, nach der Türe eilten. Umsonst winkte der letztere Degen, ihm zu folgen. Dieser aber traute seinen Knien nicht mehr. Jetzt sprangen die Flügeltüren auf. Ein martialisch dreinschauender Offizier in ungarischer Uniform, mit blitzenden Augen, braunem Gesicht und mit herabhängendem weißem Schnurrbart erschien unter der Türe, zu seiner Rechten, aber einen Schritt voraus, ein niedlicher Junge von vielleicht fünfzehn Jahren, einen großen Stern an rotem Band auf dem glänzend weißen Soldatenröckchen und mit dem rosigen Gesichtchen – die Damen hatten recht – eines pausbäckigen Amors aus der Barockzeit: der Erzherzog Joseph Amadeus.

Alles verneigte sich, wie man es nur noch in Wien zu tun verstand, seitdem Versailles aufgehört hatte, der Welt feine Bücklinge vorzuschreiben. Dann führte der Rektor den hohen Gast unter wiederholten Verbeugungen nach dem oberen Ende des Saales, wo der Rednerbühne gegenüber auf einem kleinen Podium eine Art von Thronsessel aufgestellt war. Dort wurden Professor Bumper und Herr von Degen vorgestellt – der Anstand gebot es, dem erfinderischen Uhrmacher wenigstens zeitweise den persönlichen Adel zu erteilen, der sich bekanntlich in Wien eines unkrautartigen Gedeihens erfreute –, wobei mit fast hörbarem Erstaunen bemerkt wurde, daß beide Herren je einen Finger der kleinen Hand Seiner Hoheit zu küssen bekamen.

Der ungarische Oberst und Adjutant des Erzherzogs bemerkte halblaut, aber weithin hörbar, denn sein Organ war mehr für einen Exerzierplatz als für die Aula der Universität berechnet: Seine Kaiserlich-Königliche Hoheit wünsche, daß die wissenschaftlichen Erklärungen, die Höchstdieselben mit Spannung erwarte, in möglichstes Kürze zum Vortrag kämen. Seine Kaiserlich-Königliche Hoheit interessiere sich in noch höherem Grade für die praktischen Vorführungen, um den unangenehmen Eindruck zu verwischen, den ihm der noch nicht vergessene Unglücksfall im Prater verursacht habe. Dann nahm Seine Kaiserlich-Königliche Hoheit Platz, winkte den Obersten an seine Seite, der ihm eine Lorgnette reichte, und begann die erste Reihe der Damen zu mustern, die sich sofort sämtlich bemühten, ihr lieblichstes Lächeln anzulegen.

Nun bestieg Professor Bumper die Rednerbühne, entfaltete seine Rolle, räusperte sich und begann:

»Kaiserlich-Königliche Hoheit, hochverehrte Herren des hohen Adels und der Geistlichkeit, verehrte Vertreter der Wissenschaft und respektvoll zu begrüßende Anwesende! Bei dem hohen Interesse, das Seine Kaiserlich-Königliche Hoheit der Erzherzog Joseph Amadeus allen wissenschaftlichen Bestrebungen der Neuzeit entgegenzubringen geruhen, darf es uns nicht wundernehmen, noch weniger unsre Dankbarkeit vermindern, daß Höchstdieselben sich bewogen fühlten, die Gnade zu haben, dieser festlichen Versammlung durch Höchstihre Gegenwart eine Weihe zu geben, die dem ganzen bewohnten Erdkreis ihre tiefeinschneidende, ich wage zu sagen weltgeschichtliche Bedeutung ohne weiteres nahelegt. Schon im grauen Altertum –«

Hier ward Berblinger eine große Freude beschieden. Die Erinnerungen an das Landexamen in Stuttgart, so peinlich seine Stunden seinerzeit gewesen sein mochten, überströmten ihn wie ein Gruß aus der Heimat, denn Professor Bumper erzählte mit großer Ausführlichkeit die Geschichte von Dädalus und Ikarus und bewies eingehend nicht nur, daß jene ersten Flugversuche, von denen die Sage berichtet, mißlangen, sondern auch, daß sie mißlingen mußten, keineswegs aber, weil die Strahlen der Sonne das Wachs der Flügel schmolzen, sondern, abgesehen von der mangelhaften wissenschaftlichen Grundlage, die jene Zeiten charakterisierte, weil Wachs, wie spätere Forschungen ergaben, ein Bindemittel ist, das nicht die nötige Adhäsion an Federn besitzt, um dieselben in der Form eines wesentlich vergrößerten Flügels zusammenzuhalten. Auf den Flug des Propheten Habakuk nach Ninive oder vielmehr auf den Flug des Engels, der den Propheten am Schopf nahm – eine außerordentliche Leistung, wenn man bedenke, daß der Prophet einen Topf mit Mehlbrei von vermutlich beträchtlichem Gewicht mit sich führte –, wollte er nicht eingehen, da die Autorität, auf die sich diese Tatsache stützt, derart unanfechtbar sei, daß sie einer wissenschaftlichen Begründung entraten könne. In das Reich des Aberglaubens aber müsse er jene Flugversuche verweisen, von denen häufig genug im Mittelalter berichtet werde, wo in hervorragender Weise das böse Prinzip, zu deutsch der Teufel, sich erfolgreich mit derartigen Experimenten beschäftigt habe. Auch bedeutende Gelehrte von leider zweifelhaftem Charakter, wie beispielsweise der Doktor und Magister Faustus, dürften an derartigen Versuchen teilgenommen haben. Durch die Entwicklung der Wissenschaft sei jedoch die ganze, die Menschheit tief bewegende Frage in ein andres Licht gerückt worden. Montgolfier habe uns gelehrt, in die Lüfte zu steigen. Hunderte seien seinem Vorgang gefolgt, so daß dieser enorme Fortschritt zu einer Art von Volksbelustigung entartet sei. So sehr aber auch das Aufsteigen von Erfolg begleitet gewesen, so zweifelhaft sei im allgemeinen das Wiederherunterkommen ausgefallen. Beides aber müsse zur völligen Lösung des Problems von fast gleichwertiger Bedeutung erachtet werden. Nicht minder wichtig als das Wie sei das Wo des Landens. Damit komme er auf das neu zu lösende Problem, mit dem sich sein Freund Herr von Degen mit durchschlagendem Erfolg beschäftigt habe.

Nun ging der Professor auf die Vögel über. Daß Vögel fliegen, sei zweifellos. Schon im grauen Altertum –

Seine Kaiserlich-Königliche Hoheit geruhten zu gähnen; Bumper schlug deshalb sechs bis acht Blätter seines Manuskripts rasch um und fuhr fort:

»Der Vogelflug, wissenschaftlich analysiert, zeigt uns zweierlei Arten dieser merkwürdigen Fortbewegungsweise in einem elastischen Medium: erstens den Flug mittels mehr oder weniger heftigen Flügelschlages und zweitens den Schwebeflug. Der erstere ist bei Insekten und kleineren Vögeln der gebräuchliche, der zweite kann bei größeren Vögeln, dem Storch, dem Adler und dergleichen, beobachtet werden und scheint diesen Tieren zu gestatten, fast ohne Anstrengung in der Luft zu hängen. Dies muß als besonders nachahmungswert bezeichnet werden. Neben a, dem erwähnten aviarischen Flug, sind drei andre Methoden des Fliegens zu untersuchen, nämlich b, der papierene Drachenflug, c, der seidene Ballonflug, und endlich d, eine ganz neue, auch von meinem Freund Degen noch nicht näher untersuchte Art des Sicherhebens in die Luft: der Schraubenflug, der bis jetzt nur zu Kinderspielzeugen Veranlassung gab, aber in einem Jahrhundert der Erfindungen wie jedes andre Spielzeug von der größten Bedeutung werden kann.«

Seine Kaiserlich-Königliche Hoheit gähnte abermals unverhohlen, und sämtliche Damen lächelten zustimmend, ja einige wagten es, die Gebärde des Gähnens hinter ihren Fächern nachzuahmen. Wieder blätterte der Professor mehrere Seiten seines Heftes um und fuhr fort:

»Das Wichtigste und nach dem erschütternden Unfall im Prater das Aussichtsvollste bleibt immerhin der Vogelflug, und zwar zweitens: der Schwebeflug. Ich muß die hochverehrten Anwesenden bitten, einen Augenblick meinen wissenschaftlichen Deduktionen zu folgen, die hier von ausschlaggebender Bedeutung sind. Der Adler, den sich mit der Kühnheit des wahren Erfinders mein Freund Degen zum Vorbild erwählte, wiegt im Durchschnitt zwölf Pfund Wiener Gewicht. Er trägt bekanntlich ein junges Schaf oder kleines Kind von drei bis vier Jahren freifliegend in der Luft. Ein solches Schaf oder kleines Kind wiegt gegen zwanzig Pfund. Bezeichnen wir jedoch, um wissenschaftlicher zu verfahren, das Gewicht des Vogels mit a, das des kleinen Kindes mit b, so ist das Gesamtgewicht, das in der Luft schwebend erhalten wird, gleich a plus b. Der besagte Adler ist nun aber mit einer Flugfläche von acht Komma drei Pariser Quadratfuß ausgestattet – ich vermeide absichtlich das neue Metermaß, meine Herren« – hier verneigte sich Professor Bumper gegen den Erzherzog – »eine Fläche, die ich der Einfachheit wegen mit Q bezeichne. Und endlich können wir das Gewicht des ausgewachsenen Menschen und seiner Flugmaschine, das ich g nennen will, zu zweihundert Pfund annehmen. Wir finden nun die dem Menschen notwendige Flügelfläche x aus folgender Gleichung:

x verhält sich zu g wie Q zu a plus b. Das heißt x ist gleich g mal Q dividiert durch a plus b.«

Seine Kaiserlich-Königliche Hoheit standen buchstäblich auf und streckten sich. Der ganze Saal schien eine sich streckende Bewegung zu machen.

»Ich komme zum Schluß!« rief der Professor, indem er das letzte Blatt seines Manuskripts in der Luft schwang. »Nachdem es mir vergönnt gewesen, die allergnädigste Aufmerksamkeit Seiner Kaiserlich-Königlichen Hoheit und der hohen Versammlung so lange in Anspruch zu nehmen, um die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs einer vom Menschen erbauten Flugmaschine wissenschaftlich zu begründen, versage ich mir, auf die ungeheure Bedeutung dieser Erfindung für Handel und Verkehr, für das Kriegswesen, für wissenschaftliche Forschungen aller Art – ich erinnere nur an die Erreichung des Nordpols –, für die schönen Künste, indem der Flug dem Menschen in jeder Richtung neue Lebensäußerungen zu entfalten gestattet, kurz für das ganze individuelle und soziale Leben einzugehen und bitte meinen Freund Herrn von Degen, den Erfinder der neuen Flugmaschine, sich über die Prinzipien und die praktische Ausführung seiner genialen Idee auszusprechen, ehe er den ersten erfolgreichen Flug, den die Weltgeschichte zu verzeichnen hat, vom Balkon der Aula, wo Sie die Maschine aufgestellt finden, über unsere geliebte Kaiserstadt hin unternimmt.«

Professor Bumper verneigte sich tief, den Beifall seiner Zuhörer erwartend. Da jedoch Seine Hoheit sich nicht rührte, verharrte alles in erwartungsvollem Schweigen, während Degen bleich und leicht schwankend die Rednerbühne bestieg. Auf der oberen Stufe wandte er sich um, sah wie hilfesuchend nach dem Oleanderbusch, hinter dem Berblinger stand, hob die Hände in die Höhe und sagte halblaut: »Jetzt!« – »Das gilt mir!« brummte der neben dem Schneider stehende Portier mit einem Gesicht, in dem Dummheit und Pfiffigkeit um die Herrschaft rangen. »Paß Er auf, Berblinger; gleich wird alles fliegen.« Dann schlich er auf den Zehen der Wand entlang, dem Ausgang zu. Nur das Krachen seiner Schuhe störte die lautlose Stille, unter der der große Erfinder mit zitternder Hand eine Anzahl Papierchen verschiedenen Formats wie Spielkarten auf dem Rednerpult auslegte. Mit einem Zug der Enttäuschung um die hängenden Mundwinkel setzte sich der Erzherzog wieder auf seinem Thronsessel zurecht. Sein Adjutant aber trat an die Rednerbühne und sagte leis, aber mit großer Bestimmtheit:

»Bitte Herr von Degen: rasch und kurz. Seine Hoheit wünschen das Fliegen zu sehen, das der Herr Professor genügend erklärt hat.«

Degen wurde feuerrot und begann rasch genug, sichtlich entschlossen, den Erzherzog zu befriedigen. Er war ein Mann der Praxis und kümmerte sich um Kommas und Punkte nicht im geringsten. Ebenso gleichgültig schien ihm zu sein, daß ihn kein Mensch verstand. Er schien keinen Atemzug nötig zu haben; nur manchmal entstand eine sekundenlange Pause, in der er wie besorgt nach der Saaltüre blickte. Anfänglich lächelte der Erzherzog, worauf alle Damen kicherten; dann gähnte er wieder. Aber Degen ließ sich nicht irremachen.

Plötzlich sprang die Saaltüre geräuschvoll auf. Alles sah entsetzt nach dem frechen Eindringling, nur Degen schien einen Seufzer der Erlösung auszustoßen und suchte seine Papierblättchen zusammen, als ob er die Unterbrechung erwartet hätte und zu Ende wäre.

Unter der Türe stand ein Offizier in der Uniform eines höheren Polizeibeamten, hinter ihm in stramm militärischer Haltung zwei Kommissare. Er sah sich mit dem gebietenden Blick um, der seinem Beruf eigen war und wohl noch ist, wenn es gilt, eine andern unangenehme Pflicht zu erfüllen. Nachdem er sich in der Richtung des jungen Erzherzogs tief verneigt hatte, begann er mit scharfer Betonung:

»Ich bitte die berechtigt Anwesenden um Entschuldigung, wenn ich eine unangenehme Störung veranlasse. Die hier geplanten Flugversuche dürfen ohne obrigkeitliche Bewilligung nicht stattfinden. Eine solche ist nicht erteilt und kann nicht erteilt werden, weil derartige Versuche nicht nur notorisch lebensgefährlich sind, sondern auch weil sie gegen die Gesetze der Natur und den gesunden Menschenverstand verstoßen, auch ihre Folgen im Fall des Gelingens zu den größten Bedenken Veranlassung geben würden. Ich habe deshalb jeden der Anwesenden aufzufordern, ruhig auseinanderzugehen; da die beabsichtigten Versuche weder in diesem Saal noch außerhalb desselben geduldet werden können.«

Nur die Gegenwart Seiner Kaiserlich-Königlichen Hoheit verhinderte einen allgemeinen Ausbruch des Unwillens und der Enttäuschung. Unerhört! Hatte die Polizei es hier mit einer Versammlung gewöhnlicher Leute zu tun? Selbst der Erzherzog erhob sich, ohne ein Lächeln.

»Ich bin unangenehm berührt«, sagte er, sich verdrießlich an den Rektor Magnifikus wendend, der mit offenem Munde dastand. »Die Sache hätte geregelt werden sollen, ehe man mich veranlaßte, bei den Flugproben zu assistieren. Das ist ja schlimmer als im Prater!«

Der Rektor stotterte Entschuldigungen. Es sei nicht erwiesen, ob ein polizeilicher Eingriff an dieser Stätte und damit in die Privilegien der Universität statthaft sei.

»Ein andermal also, ein andermal!« sagte der kleine Prinz, die peinliche Erörterung abbrechend, indem er an den Damen hin ging. »Sie haben mir wenigstens die Flora der Universität vorgeführt!«

Bei der letzten der Damen in der zweiten Reihe blieb er stehen.

»Sehr hübsch!« rief er laut und wieder lächelnd, »wirklich sehr hübsch!«

Die ganze Gesellschaft richtete ihre Blicke und Lorgnetten nach der so ausgezeichneten Dame, und alle lächelten pflichtschuldigst mit, nur Berblinger nicht, dem das Blut in den Kopf schoß. Es war mehr Schrecken als Freude und gleich darauf mehr Freude als Schrecken. Die jüngere der beiden Damen, die soeben nach einer fast lebensgefährlichen Verbeugung aus einer Wolke von Seide und Gaze vom Boden aufzutauchen schienen, war Lucinde!

Sobald sich die Türe hinter den höchsten Herrschaften geschlossen hatte, löste sich alle Ordnung auf. Die meisten fanden es schließlich ganz richtig, daß vielleicht ein Unglück wie das im Prater verhindert worden sei. Namentlich die Damen umringten Degen, bedauerten ihn und wollten unter seiner Führung wenigstens die Flugmaschine sehen, die auf dem verandaartigen Balkon vor der Aula aufgestellt war. Es war ein gefüllter kleiner Ballon, unter dem ein leichter Rohrstuhl hing, an welchem zwei mächtige Flügel befestigt waren. Degen setzte sich in den Stuhl und bewegte die Flügel zu allgemeiner Bewunderung, worauf ihn einer der Polizeikommissare barsch aufforderte, den Stuhl unverzüglich zu verlassen, da ein Davonfliegen nicht geduldet werden könne, was die Damen mit einem vielstimmigen »O!« der Enttäuschung beantworteten.

Auch Berblinger war dem allgemeinen Zug gefolgt, doch hatte seine Aufmerksamkeit eine andre Richtung genommen. Dort stand sie, die schöne Ulmerin, mit einer älteren, sehr würdig dreinschauenden Dame neben Degen und schien das dicke Männchen im blauen Frack mit lächelnder Liebenswürdigkeit zu überschütten. Es schwamm ihm vor den Augen. Sie war zehnmal schöner und liebreizender geworden als früher. Die Wiener Mode stand ihr wie keiner Wienerin. Nein – es war nicht die Toilette; es war sie, sie allein mit ihrem schelmischen berückenden Lächeln. Aber er hatte nicht den Mut, sich heranzudrängen, obgleich sie ihn wohl kaum erkannt hätte, denn er konnte sich neben dem elegantesten Kavalier in ihrer Nähe sehen lassen. Und so stand er noch immer am gleichen Platz, als sie in der Menge, die dem Ausgang zu drängte, verschwand.

Der Saal hatte sich längst geleert, als auch er an der Portierloge vorüberging, aus deren Fensterchen ihm sein neuer Freund, der Hausbesorger, winkte, der eine besondere Zuneigung für ihn gefaßt zu haben schien. Er trat ein, halb im Traum, fast ohne zu wissen, was er tat.

»Na«, sagte der Mann, »hab' ich das nicht gut gemacht?«

»Was?« fragte Berblinger geistesabwesend.

»Was! Die Komödie«, versetzte der andre, sein dummpfiffiges Gesicht schneidend. »Er weiß doch, die ganze Welt war zu der Konferenz eingeladen. Der Professor wollte seinen Vortrag nicht länger aufschieben, der Kuckuck weiß warum, und die Flugmaschine ist noch nicht halb fertig. Ein großes Glück für den Dicken. Wäre sie fertig geworden, so läge er jetzt vielleicht auf dem neuen Pflaster in der Kärntnerstraße, das besonders hart sein soll. So mußt' ich die Polizei einladen und rechtzeitig zur Stelle schaffen. Die ganze Welt ist jetzt voll von der neuen Flugmaschine, der Bumper ist seinen Vortrag los, und der gute Degen, der es ehrlich genug meint, lebt noch. Aber ich frage Ihn, ob ich's nicht gut gemacht habe?«

 

»Dieser Schwindel!« stöhnte Berblinger zum wer weiß wievielten Mal. »Da war doch die arme Irma, die dreitausend Fuß über dem Stephansturm in die Ewigkeit flog, ein ander Ding, als die lackierten Papier- und Formelmenschen in der Aula. Möchte wissen, wo der tollere Wurstelprater liegt, drunten hinter der Leopoldstadt oder droben im Professorenviertel? Und erst dieser Degen! Die ganze Welt staunt ihn an, die Zeitungen sind voll von seiner Erfindung, und sie hat ihr süßestes Lächeln für den Schelmen. Dieser Schwindel!«

Noch nach drei Tagen war der ehrliche Schwabe wütend und die ganze Stadt ihm zum Ekel. Nur über eins mußte er sich um jeden Preis Klarheit verschaffen, ehe er den Wiener Staub von den Füßen schüttelte. Am folgenden Sonntag umschlich er das Haus in der Kärntnerstraße, in dem der Geheime Finanzrat von Möbius wohnte, wie ein Dieb, und fand keine Schwierigkeiten, gegen Abend das hübscheste Stubenmädchen des Hauses zu einem Spaziergang in den Prater zu bewegen. Er hatte in den drei Jahren seiner Wanderschaft mehr als das gelernt. Peppi war empört über die ehrenhafte Zurückhaltung ihres Galans; er aber erfuhr, was er wissen wollte. Lucinde war zum zweitenmal über den Winter auf Besuch in Wien gewesen. Die Fahrt mit dem Ordinariboot machte dies nicht allzu schwierig. Die Tante sei ganz stolz auf ihre Nichte geworden, deren Schönheit selbst in Wien Aufsehen errege. Die Ulmer Mamselle habe aber auch einiges gelernt! Gestern habe sie die Heimreise angetreten, noch voll von der Ehre, die ihr der Erzherzog Joseph Amadeus erwiesen und die das ganze Haus in der Kärntnerstraße bis herab zu den Stubenmädchen mit ungemessener Begeisterung für das Haus Habsburg erfüllt hatte.

Nun hielt ihn nichts mehr, selbst nicht Kratzkys glänzendes Anerbieten, ihn zum Schwiegersohn zu befördern. Kratzky hatte nämlich neben seinem blühenden Geschäft sechs Töchter, von denen eine der ältesten noch unverheiratet war. Berblingers Wanderzeit war abgelaufen; er konnte nach der Heimat zurückkehren und wußte, daß er der Zunft auch als Meister Ehre machen würde. Das war sein Plan. Tiefer aber hatte ihn der Gedanke gepackt, daß, was ein mißratener Uhrmacher nicht fertig brachte, einem geratenen Schneider wohl gelingen könnte, und noch tiefer in seinem Innersten regte sich eine Hoffnung – nein, nur ein Sehnen – die, nein, das er kaum auszudenken wagte. Wie hatte sie den dicken Degen mit ihrem Lächeln überschüttet! Wie waren sie nebeneinander gestanden, diese zwei, die der Erzherzog vor der ganzen hohen Gesellschaft ausgezeichnet hatte! Was hatte nicht alles der gelehrte Professor von der weltumstürzenden Bedeutung der Erfindung gesagt, und er hatte recht, Wort für Wort! Wenn es gelänge, was konnte da noch werden? Aber es war nicht auszudenken!

Enderle hätte ihn gar zu gern begleitet. Als Soldat war er aus Heimweh nach Ulm, nach dem Taubengäßchen, nach dem Arbeitstisch bei Bockelhardt fast krank geworden; nun packte es ihn wieder. Aber Ulm war bayrisch; sein Kopf stand auf dem Spiel, wenn er die bayrische Grenze überschritten hätte. Da war's doch klüger, bei Kratzky zu bleiben, wo es ihm besser ging als je zuvor.

Das letzte Stück seiner Wanderschaft donauaufwärts tat Berblinger gut. Der Aprilwind blies ihm die Großstadtmucken aus dem Haar, und es war, je mehr Ulm näher kam, als würde er drei Jahre jünger. Schon sah er wieder treuherzige, schwäbischblaue Augen, schon hörte er wieder das heimatliche ›Grüß de Gott‹, das ›ischt‹ und ›bischt‹, und freute sich daran. Wie gewöhnlich zog er nicht geradlinig auf sein Ziel los, arbeitete sogar noch vierzehn Tage in Nürnberg, weil's ihm mit einemmal auch schwerfiel, von der Wanderzeit Abschied zu nehmen. Dort wollten sie ihn um jeden Preis halten; er brachte so viel Neues aus Wien mit, und die Herren in Nürnberg halten etwas auf einen guten Schnitt. Aber es litt ihn nicht länger.

So kam's, daß er über Nördlingen und Heidenheim in die Heimat zurückkam und eines Abends vom Michelsberg herab das alte Ulm wiedersah. Da lag's plötzlich vor ihm wie eine trauliche kleine Herde, dichtgeschart um einen gutmütigen, schwerfälligen Hirten; dem glich das mächtige Münster mit seinem halbausgebauten, stumpfen Turm inmitten der Hunderte von grauen und schwarzbraunen Giebeln. Jenseits spiegelte die Donau das Abendrot wider und weiter hinaus streckte sich das Donaumoos und die waldigen, sanftwelligen Hügel von Oberschwaben. Es war ein duftiger Abend, man sah nichts von den Alpen, als wollte sich alles heimatlich zusammenschließen, um den Wanderer zu empfangen. Auch über der Stadt lag ein zarter Nebelschleier. Da und dort stiegen weißliche Rauchwolken fast senkrecht in die Höhe. Er dachte, wie manchmal, an das alte Bilderbuch seiner Kinderzeit, in welchem der Rauch von Abels Opfer ebenso senkrecht gen Himmel stieg. Kam der da unten nicht auch von kleinen Hausaltären, die dem Herrn wohlgefielen? War das nicht besser, als unstet und flüchtig zu wandern wie Kain?

Warum schnürte es ihm das Herz zusammen, wie er so allein auf der schweigenden Höhe stand, auf der ihn jeder Baum, jeder Stein begrüßte wie alte Bekannte. Es fehlte keiner. Dort hatte er manchmal mit Gotthilf gesessen, einmal auch mit Gretle.

Gretle?

Was hatte er nicht alles erlebt und gesehen und gelernt seit jener Zeit; Gutes und Böses. Das drückte ihm das Herz zusammen. Mehr Böses, mehr Böses!

Nein, es fehlte keiner, und auch drunten war wohl noch alles wie vor bald vier Jahren, in denen ihn kaum eine Nachricht von zu Haus zu erreichen vermochte. Er hatte ja eigentlich kein ›zu Haus‹. Ob der alte Pestilenziarius noch lebte und Lombard dort drüben auf der Turmspitze? Natürlich, sie mußten ja noch leben; aber ob er ihnen ins Auge sehen konnte wie vor vier Jahren? Er hatte soviel erlebt und gesehen in diesen vier Jahren; für ihn waren sie lang genug gewesen.

Und ob es ihm wieder behagen werde, dachte er weiter, in der ruhigen alten Stadt. Kein Prater, kein ›Heuriger‹, kein – es war doch ein Leben in Wien! Eins brachte er mit, das über vieles weghelfen konnte: den festen Willen, ein tüchtiger Meister zu werden – etwas andres als der alte Bockelhardt – und jede freie Stunde daranzurücken, das große Problem zu lösen, Schneider hin, Schneider her! Das war die Aufgabe seines Lebens. Wenn das glückte, dann konnte ihm die gute Stadt Ulm mehr bieten als alle Kaiserstädte der Welt.

Langsam ging er den Berg hinunter, und klopfenden Herzens zeigte er sein Wanderbuch dem Torwart am Frauentor, der eben das Schlußglöckchen läuten wollte und den schmucken Handwerksburschen nicht mehr kannte.


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