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34. Ernüchterung

Sonnige Sommertage, einer schöner als der andre, zogen über die Stadt hin; aber selbst im trübseligsten November, unter dem dichtesten Donaunebel hätte die erste Woche des Juni nicht schwerer auf ihr lasten können. Jedermann ging wieder seiner Arbeit nach, scheinbar fleißiger als gewöhnlich, aber nirgends begegnete man einem lauten Gespräch, einem fröhlichen Lachen, das die drückende Einförmigkeit unterbrochen hätte, die plötzlich über Ulm gekommen war. Einige hatten es aufgegeben, ihren Frühschoppen aufzusuchen; an den ältesten Stammtischen zeigten sich ungewohnte Lücken. Man wußte nicht, wovon man sprechen sollte, ohne sich zu ärgern oder – was noch unerträglicher war – sich zu schämen. Erst Monate später erholte man sich so weit, über den Malefizschneider und seine Freunde, vornehmlich den Rat Schwarzmann, der übrigens seine Magistratsstelle niederlegen wollte, und die Baldinger, welche der Stadt diese Schmach angetan hatten, gebührend schimpfen zu können. Es bedurfte Jahre, ehe man darüber zu lachen begann und die Komik des 31. Mai 1811 in ihrer ganzen Bedeutung würdigen konnte.

Der plötzliche und geheimnisvolle Tod des Türmers Lombard erregte unter diesen Umständen nicht entfernt das Aufsehen, das er hervorzurufen berechtigt war. Die verstümmelte Leiche des alten Mannes wurde in aller Stille begraben, dem Sarg folgte nur der eine Münsterturmknecht, der Berblinger behilflich gewesen und deshalb unverletzt geblieben war – der andre lag an Brandwunden schwer darnieder –, und der tiefgebeugte Pestilenziarius, welcher in jüngster Zeit viel von seiner Beliebtheit verloren hatte, weil er sich allzusehr mit zweifelhaften Persönlichkeiten einließ. Daß er den Schneider nach der unaussprechlichen Blamage dieses eingebildeten und halbverrückten Menschen eine Nacht lang beherbergt und ihm wohl gar zur Flucht verholfen hatte, stand fest. Ein Nachtwächter versicherte, er habe den verunglückten Vogel in seinem zerrissenen Narrenanzug in der Morgendämmerung nach der Herrenkellergasse gehen sehen. Man untersuchte von Polizei wegen sein Haus und namentlich alle Speicherräume in der Hoffnung, ihn an einem Dachsparren hängend zu finden, fand aber nichts. Er war spurlos verschwunden. Anerkennenswert war, daß der nach längerer Wanderschaft soeben zurückgekehrte Schneidergeselle Enderle sich bereit erklärte, das Anwesen des Berblinger zu übernehmen, wenn man ihn in die Zunft aufnehme. Da er sein Meisterstück in Wien gemacht hatte, fand dies keinen Anstand, allerdings unter der ausdrücklichen Bedingung, daß er sich nicht als ›Wiener Schneidermeister‹ auftun wolle. Man hoffte auf diese Weise am schnellsten jede Spur des unglückseligen Phantasten zu verwischen, der der Zunft, wie zu befürchten war, einen unauslöschlichen Schimpf angetan hatte. War es nicht genug, seit Jahrhunderten den sinnlosen Spott andrer Zünfte ertragen zu müssen, die nicht um ein Haar besser waren als die Schneider? Mußte die Neuzeit auch noch Stoff dazu liefern und gar in Ulm, wo sich unter Obermeister Knöppel die Brüderschaft gesetzterer und geordneterer Verhältnisse erfreute als irgendwo in der Welt? Es war eine peinliche Sache für Knöppel, vor offener Lade den Ausschluß Berblingers vorzuschlagen und zu begründen, und rührend war, wie Glöcklen mit Tränen in den Augen um Verzeihung bat, daß er sich so schmählich hatte täuschen lassen. Bockelhardt wollte sich seinen Worten anschließen, hatte sich aber schon am Morgen in der Betrübnis einen solchen ›Kanonenrausch‹ angetrunken, daß ihm dies unmöglich war. Da er sein Gesicht jedoch schluchzend in den Händen verbarg, erklärte die Versammlung dies für genügend.

Der leutselige Herzog Heinrich war lachend abgereist, hatte sogar einige Trostesworte an die versammelten Spitzen der städtischen Behörden gerichtet; ein Grund mehr, mit Abscheu auf das Vorgefallene zurückzublicken. Einige Tage später wurde der Magistrat vom königlichen Oberamt verständigt, daß Seine Majestät huldvollst geruht hätten, zwanzig Friedrichsdor aus Höchst ihrer Privatschatulle nach Ulm zu senden, mit dem Befehl, dieselben unverzüglich gegen Quittung dem verunglückten Vogelmenschen einzuhändigen, dessen Courage die allerhöchste Anerkennung zuteil geworden sei. Selbst hierbei hatte man das unbehagliche Gefühl, daß Seine Majestät die Vorführung als einen allerdings unpassenden Scherz aufgefaßt habe. Es blieb jedoch nichts übrig, als erneut und mit allen Mitteln zu versuchen, des Berblingers habhaft zu werden. Man hatte ihm ursprünglich eine empfindlichere Anerkennung seiner Leistungen zugedacht, mußte sich aber jetzt wohl oder übel darauf beschränken, dem Befehl Seiner Majestät nach Möglichkeit zu entsprechen.

In andere Kreisen waren die Folgen der Katastrophe nicht weniger peinlich. Fräulein von Baldinger, bei welcher man den Ausbruch eines Nervenfiebers befürchtet hatte, erholte sich zwar nach wenigen Tagen, so daß sie in Begleitung ihres Vetters George eine schon längst beabsichtigte Reise nach Wien antreten konnte, um ihrer Tante Möbius einen längeren Besuch abzustatten. Hans Schwarzmann machte hierbei den letzten Versuch, zu dem ihn sein Herz drängte, und übernahm die Führung des Ordinariboots, auf dem sich die kleine Reisegesellschaft einzuschiffen gedachte. Er verließ es jedoch schon in Regensburg, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Doktor Baldinger sein schönes Bäschen bis Wien zu geleiten gedachte.

Auch der Rat Schwarzmann war erkrankt. Es war kein Schlaganfall, wie man zuerst befürchtet hatte, doch warnte ihn sein Hausarzt dringend, jeder Aufregung aus dem Wege zu gehen. Dies veranlaßte ihn, seinen Austritt aus dem Magistrat zu erklären und sich neben seiner beruflichen Tätigkeit als Obermeister der Schifferzunft ausschließlich der Wiederbelebung der einst blühenden Ulmer Schneckenzucht zu widmen und dem Rückgang der Ausfuhr von Schnecken nach Österreich mit erfreulichem Erfolg entgegenzuarbeiten.

Nachdem der König die erwähnte Summe für Berblinger geschickt hatte, mußte man darauf verzichten, strafrechtlich gegen den Schneider vorzugehen, obgleich er die Stadt nicht nur an ihrer Ehre geschädigt, sondern auch in beträchtliche Unkosten gestürzt hatte, wie zum Beispiel durch die Errichtung des Turmes auf der Adlerbastei. Trotzdem mußte nunmehr eine steckbriefliche Verfolgung eintreten, schon um dem Kerl das Gnadengeschenk Seiner Majestät überreichen zu können. Aber der Steckbrief blieb so erfolglos als ein zweimaliges Verhör, das man mit dem Magister Krummacher vornahm, und die wiederholte Sistierung des vagabundierenden Handwerksburschen Nickels, der Berblinger zwar zu öfterem gesehen, ja gesprochen haben wollte, nie aber anzugeben wußte, wo er sich zur Zeit befinde. Man hörte bald von da, bald von dort, daß er gesehen worden sei. In Blaubeuren habe er zweimal genächtigt und sich sogar in Verdacht erregender Weise in die alte Klosterkirche eingeschlichen, wo sich zum Glück nur die Betten der Frau Prälat Gaum befunden hätten, die unbeschädigt geblieben seien. Auch auf dem Galgenberg wollten ihm etliche Marktweiber begegnet sein. Eine Zeitlang wurde die Jagd auf Berblinger eine Art Sport. Truppen von Jungen machten sich das Vergnügen, unter dem Absingen von Spottliedern, die, man wußte nicht wie, zu entstehen begannen, durch die Gassen zu ziehen und plötzlich einen harmlosen Menschen mit lautem Meckmeckgeschrei unter dem Vorwand anzuhalten, Berblinger gefunden zu haben. Der Unfug mußte amtlich mit aller Strenge unterdrückt werden, denn man konnte darin ebensogut eine Verhöhnung der ehrsamen Schneiderzunft als des städtischen Polizeiwesens erblicken. Selbst Professor Schwätzler wurde veranlaßt, sein erstes Gedicht auf den fliegenden Schneider, das er an seinem Stammtisch mit durchschlagendem Erfolg vorzutragen gehofft hatte, wieder in die Tasche zu stecken. Die Wunde, die dem Selbstgefühl der Stadt geschlagen worden war, duldete noch keine Berührung.

Nur vier Personen in ganz Ulm gedachten des armen Schneiders mit wehmütiger Teilnahme: Fränzle, der Lehrjunge, der in aller Stille wochenlang die Stadt in weitem Umkreis durchsuchte und nicht daran glauben konnte, daß es mit dem Fliegen zu Ende sei; Enderle, der den Jungen samt der Werkstatt übernommen hatte und gern gewußt hätte, was er seinem Freund und Vorgänger schuldig sei; Zeller, der ihm beweisen wollte, daß es nicht anders hatte kommen können und daß er sich deshalb keine grauen Haare wachsen zu lassen brauche; und der Pestilenziarius, der stundenlang über seiner Chronik saß, ohne ein Wort zu schreiben und an den verlorenen Sohn dachte. Das war er ihm gewesen, trotz allem und allem, und der alte Mann brauchte etwas, mehr als je, an das er sein armes Herz hängen konnte.

Das waren vier von den zwanzigtausend, die ihm am letzten Mai zugejubelt hatten. In Gedanken suchte ihn noch jemand in aller Welt und konnte und wollte ihn nicht vergessen, auch wenn er nie mehr wiederkehren sollte.

 

Vom Sanitätsrat Bühler und seinen Assistenten im Spital, auch amtlich wurde sie Jungfer Margret genannt; die Kranken hatten einen andern Namen für sie erfunden, seitdem sie aus Geislingen zurückgekommen war, wo der Typhus schlimmer gewütet hatte als anderswo, und sie unberührt durch wahre Schreckenstage gegangen war. Einige, die die dortigen Verhältnisse kannten, wußten Geschichten von ihrem Mut und ihrer Opferfreudigkeit zu erzählen, daß den Leuten die Tränen in die Augen traten, und zum Dank hierfür hatte man sie das Typhusgretle getauft. Ein sonderbarer Dank. Leute, die nichts von der Sache wußten, lachten, wenn man sie mit dem Pestilenziarius über die Straße gehen sah. Das ist ja das wandelnde Elend, hieß es; und doch waren die beiden in aller Stille, so arm sie waren, ein Segen für vieles Elend in der Stadt.

Wunderbar war, wie sie den Kranken gegenüber ihre stete Heiterkeit bewahren konnte, denn man merkte doch manchmal, daß auch sie ihren geheimen Kummer hatte. Ihr äußeres Leben bot gar so wenig, das fröhlich hätte stimmen können; aber zum Glück kommt diese Art von Heiterkeit nicht von außen. Zweimal in der Woche – dazu zwang sie der Sanitätsrat, der in sie verliebt war, wie die Assistenten behaupteten – machte sie einen Spaziergang, gewöhnlich abends, wenn es zu dämmern begann, und meistens führte sie ihr Weg über den alten Friedhof vor dem Frauentor. Dort hatte sie zwei Gräber in wahre Gärtchen umgewandelt und freute sich, wenn bald dieses, bald jenes in freundlicherem Blumenschmuck prangte. Der Totengräber, der zugleich Gärtner war, versäumte nie, sie darauf aufmerksam zu machen, daß das eine zu weit hinter dem andern zurückbleibe, und mit Vorschlägen nachzuhelfen, wie dem abgeholfen werden könnte. Eigentlich hatten die zwei Gräber nichts miteinander zu tun. Was sie verband, war Gretle, und was sie in Gärtchen verwandelte, die Liebe. Unter dem einen Blumenhügel lag nämlich ihr Bruder Gotthilf, den sie nie vergessen konnte, unter dem andern Brechtles Mutter, die sie nie gekannt hatte.

Sie kam heute später als sonst; eine alte Frau hatte sie mit ihrem Sterben aufgehalten. Auch war sie ernster als gewöhnlich. Man kommt selten, auch wenn es ein Alltagserlebnis geworden ist, heiter von einem Totenbett. Es dämmerte schon und der Kirchhof war still und leer; keine Seele mehr um die stummen Kreuze und Leichensteine, die, in dichtes Grün gebettet, den Tag friedlich verschlafen hatten, um nun in die Nacht hineinzuschlummern. Sie hatte auf Gotthilfs Grab, wo ein Strauch mit Blüten überfüllt war, eine Rose gebrochen und ging jetzt nach ihrem zweiten Gärtchen, das neben einem eingesunkenen Steinkreuz in dichtem Gebüsch versteckt lag.

Ein kleiner Schrecken war es immerhin, als sie bemerkte, daß ein Mann auf dem Stein saß, der ihr den Rücken kehrte. Doch was sollte sie erschrecken? Gefährliche Leute sitzen nicht in verlassenen Kirchhöfen, um auszuruhen. Auch sah der Mann nicht gefährlich aus; im Gegenteil, müde und zusammengesunken, und als er das Geräusch zusammenschlagender Zweige hören konnte, die sie aus dem Weg biegen mußte, wandte er sich um. Nun erschrak sie wirklich. Es war Brechtle.

Und wie er aussah! Bleich, mager, verwildert, in halb zerrissenen Kleidern, die er wohl mehrere Tage lang nicht vom Leib gebracht haben mochte.

Auch er sah sie an, aber er schien nicht zu erschrecken, nicht einmal verwundert zu sein.

»Ich dachte nicht, daß du hierher kommen würdest, Gretle«, sagte er. »Es ist meine Mutter.«

»Ich komme fast jede Woche«, versetzte sie, sich fassend; »du bist wohl schon lang nicht mehr hier gewesen?«

»Auch komme ich, um Abschied zu nehmen für immer.«

»Sag das nicht. Das Plätzchen solltest du aufsuchen, so oft du in Not bist, Brechtle.«

»Ich werde nicht mehr lang in Not sein.«

»Das ist, wie Gott will. Wo willst du hin?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete er ungeduldig. »Fort! Ich hätte schon lang gehen sollen, aber das Abschiednehmen kostet Zeit und ich konnte mich nicht überall durchschleichen, ohne gesehen zu werden. Nun bin ich zu Ende und kann gehen, und sie können hinter mir her schreien nach Herzenslust.«

»Du hast sie zu bitter geärgert«, sagte Gretle entschuldigend, selbst wo man ihr am wehsten tat; »aber du hast noch Freunde hier, die zu dir stehen.«

»Fast tut mir's leid«, antwortete Berblinger. »Sie sollten mich alle vergessen; es wäre das beste.«

»Sag das nicht. Es sind nicht alle gleich schlimm. Der König hat Geld für dich geschickt. Man sucht dich, um dir's zu geben.«

»Ich habe davon gehört; aber ich brauche sein Geld nicht.«

»Und der gute Pestilenziarius«, fuhr sie stockend fort, »und ich – wir werden dich nie vergessen.«

»Um so schlimmer«, versetzte er bitter. »Was nutzt es euch? Mir ist's manchmal, als sei ich nur ein Wölkchen, mit dem der Wind spielt; das er in Fetzen zerrissen hat, eh' es vergeht.«

»Das ist kein Mensch«, sagte sie ernsthaft, »und ich glaube nicht, daß du so vergehen kannst. Wir haben zusammen Not gelitten, Brechtle, und damals hab' ich schon gewußt, daß mehr in dir ist als das. Laß die Wolken fliegen. Du findest noch festen Boden, wenn du willst und wenn dir Gott hilft. Und das wird er, glaub nur.«

»Ich habe schon zuviel geglaubt.«

»Aber noch nicht lang genug gelebt. Sieh die Toten, die hier um uns her schlafen. Selbst mit ihnen ist es nicht zu Ende, wenn sie glaubten. Das glaube ich, das weiß ich.«

Sie sah ihn an durch die Tränen, die in ihren Augen standen, so durchdringend freundlich, so sicher in sich selbst, daß ihn jene geheimnisvolle Macht schüttelte, mit der in ernsten Augenblicken ein fester Glaube andre beherrscht. Er schwieg eine Zeitlang; dann sagte er sanft:

»Es hat mir herzlich gutgetan, Gretle, und ich dank's meiner Mutter da unten, daß ich dich noch gesehen habe. Denk manchmal an mich, mehr kann ein armer Kerl wie ich nicht fordern, und glaub, ich hab' etwas tun wollen, das allen Menschen zugut gekommen wäre. Ich war zu schwach. Vielleicht tun's andre in späteren Zeiten. Ich muß es büßen und will's, in Gottes Namen. Hunderten ging's nicht besser.«

Gretel war tief bewegt, doch gewann die praktische Natur der Frau trotz allem wieder die Oberhand:

»Wohin kann man dir das Geld schicken, das vom König?« fragte sie nach einer Pause.

Er lachte laut auf: »Hab' ich dir's nicht gesagt? Ich brauche kein Geld mehr!«

Es war der Ton seines Lachens, der sie jählings aufschreckte: »Nein, das wirst du nicht tun, Brechtle – um Gottes Barmherzigkeit willen –«

Sie faßte seinen Arm.

»Behüt dich Gott und – bet für mich!«

Er hatte sich losgerissen und war schon im Gebüsch verschwunden, als er die letzten Worte hervorstieß. Sie sank auf den Grabhügel nieder und betete, betete lang und inbrünstig.

Dann ging sie heimwärts. Eine wundersame Ruhe war über sie gekommen. Sie glaubte fest, die tote Mutter habe neben ihr, mit ihr gebetet und ihrer beider Bitte sei nicht unerhört geblieben. Ein heißes Dankgebet floß über ihre Lippen, als sie durch das Frauentor trat.

Das machte der Glaube.

 

Auf der Höhe der Rauhen Alb, wo sich die Heerstraße, die nach dem Unterland, zunächst nach Geislingen führt, zu senken beginnt und der des Landes Unkundige noch nichts von dem prachtvollen, waldbedeckten Bergsturz ahnt, der ihn erwartet, saß im Schatten eines kümmerlichen Holzbirnbaums ein Mann, dem man ansah, daß er einen langen Marsch und mehr als das hinter sich hatte: verstaubt und abgerissen, müd und traurig. Kaum ein Handwerksbursche, eher ein zerlumpter Stromer, am wahrscheinlichsten ein dem Landjäger entwischter Gewohnheitsbettler, so sah er aus. Ein Ziegenhainer und ein kleines Bündel war offenbar sein einzig Hab und Gut. Daß er noch ein paar Kreuzer in der Tasche hatte, hätte ihm niemand zugetraut. Das war Berblinger. Es ging mit ihm zu Ende.

Er sah wohl schon seit einer Stunde über die kahle Hochebene hin, die in brennendem Sonnenlicht vor ihm lag, wie es ein todmüder Mann tut, der kein Ziel mehr vor sich hat. Sollte er sich wieder auf den Weg machen, sollte er sich niederlegen und schlafen? Schlafen! Dazu hatte er wohl am meisten Lust, soweit er noch Lust zu etwas hatte; aber er fürchtete das Erwachen. Er fürchtete doch noch etwas.

Langsam kam ihm ein Gedanke; die einsame Gegend mochte damit zu tun haben. Es waren Kindererinnerungen. So sah es auch an gewissen Stellen bei Ochsenwang aus, ehe man an den Waldsaum und an den Rand des Gebirgs kommt. Er hatte gestern von Ulm Abschied genommen und von allem, was ihm dort noch lieb war. Er könnte heute nach Ochsenwang hinüberpilgern, wenn seine Kräfte noch so weit reichten, und Berg und Tal, Bäumen und Felsen Lebewohl sagen. Er war sicher, alle noch zu kennen. Auch war seines Vaters Grab dort drüben. Der verdiente doch auch einen Gruß, so gut als die Mutter. Und dann – nun ja, weiter konnte er sich sicher nicht mehr schleppen.

Das war wenigstens ein Zweck; etwas Leben kam wieder in seine Augen. Er sah mit einiger Teilnahme auf seine zerrissenen Stiefel. Auch die konnten es noch so lange aushalten.

Da schwankten Arm in Arm und laut jauchzend fünf junge Leute vom benachbarten Dorf heran. Sie hatten bunte Sträußchen in den Mützen und lange, flatternde Bänder in den Knopflöchern ihrer Jacken. Sie glaubten zu singen und brüllten die alten, wehmütigen schwäbischen Volkslieder: »Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt' ich auf mein Grab« und andre laut und lustig in den Tag hinein, denn sie kamen sichtlich unmittelbar aus dem Wirtshaus zu Amstetten, wo sie sich mehr als erfrischt hatten. Es waren Rekruten, aufgefangene Nachzügler, auf dem Weg nach Stuttgart, die nach ihrer Art ihren letzten frohen Tag feierten.

Hinter ihnen ging, behaglich und schweigend seine Pfeife rauchend, ein Mann, halb in Uniform, Feldwebel seines Zeichens, der die andern in der damals zulässigen gemütlichen Weise transportierte. Wenn ihm einer durchging, war das Unglück nicht allzu groß, die andern, die er glücklich nach Stuttgart zu bringen hoffte, werde man dort schon Mores lehren. Die Pfeife war ihm eben ausgegangen. Er blieb etliche Schritte vor Berblinger stehen, um Feuer zu schlagen und sie wieder anzuzünden.

»Du bist auch nicht überlustig«, sagte er, mit der Pfeife zwischen den Zähnen, wie wenn er mitten in einem Gespräch eine Nebenbemerkung einschaltete.

»Hab' keine Ursache dazu«, antwortete Berblinger, ohne aufzusehen.

»So scheint's!« sagte der andre und fuhr fort, sein Feuerzeug zu bearbeiten. Nach zwei Minuten begann er wieder:

»Nicht viel Schatten unter deinem Baum.«

»Muß vorlieb nehmen«, versetzte Berblinger.

»Man braucht nicht vorlieb zu nehmen, wenn man's besser haben kann«, bemerkte der andre etwas lebhafter. »Guck die Kerls an, dort, die singen seit heute früh um fünf Uhr. So ein Leben! Willst du hier übernachten?«

»Noch nicht«, entgegnete der Schneider, sich aufrichtend. Etwas wie Scham kam über ihn, daß er so ganz willen- und leblos dalag. Die Berührung mit einem Mitmenschen fing an zu wirken.

»Hinauf oder hinunter?« fragte der Feldwebel. Schwaben ziehen es vor, in Andeutungen zu sprechen, die oft wie Naturlaute klingen, für die es keine Buchstaben gibt. Aber sie verstehen sich.

»Wie's kommt«, war die Antwort.

»So komm mit uns, wenn Geislingen auf deinem Weg liegt!«

Das war nun eigentlich nicht der Fall, allein Berblinger ging neben dem Feldwebel her, ehe er sich die Einladung überlegt hatte. Er konnte in der Tat fast ebensogut über Geislingen gehen, als sich oben auf der Alb halten, und hatte schon so viel vom Stromer angenommen, um jedem Anstoß nachzugeben, der ihm für die nächste Viertelstunde ein Ziel setzte.

Nach Art der Schwaben in abgerissenen Sätzen und langen Pausen plaudernd, ging es durch das prachtvolle Gebirgstal der Geislinger Steige hinunter, über die heute die Lokomotiven klettern. Ehe sie das Städtchen erreichten, hatte sich der Feldwebel überzeugt, daß er es mit keinem gewöhnlichen Landstreicher zu tun hatte. Das Regiment konnte Freiwillige brauchen, selbst wenn sie nicht freiwillig kamen. Der Mann war klein, aber brauchbar, wenn man ihn gehörig herausfütterte und zustutzte. Daß er sichtlich im Elend war, bestärkte den schlauen und zugleich gutmütigen Feldwebel in dem Wunsch, ihn nicht mehr im Stich zu lassen, bis er auch ihn in Stuttgart eingeliefert hatte.

Die Rekruten machten bei der ersten Kneipe des Städtchens halt. Sie waren ihrem Führer vorangeeilt, sichtlich aber nicht in der Absicht, zu entweichen, denn sie brüllten das Lied von den drei Lilien mit erneuter Stärke in einem Gärtchen, das hinter dem Hause lag. Ihr Führer war mit der Unterbrechung des Marsches völlig einverstanden und lud Berblinger ein, ebenfalls einzutreten und ein Schöppchen zu trinken. Als sie nach einer Stunde wieder heraustreten, war der Schneider Königlich württembergischer freiwilliger Feldsoldat, und sein Feldwebel hatte das in diesen unruhigen Zeiten seltene Glück, einen Mann mehr in Stuttgart abzuliefern, als er seiner Liste nach zu tun verpflichtet war.

 

Einige Wochen später ereignete sich in der Rotebühlkaserne zu Stuttgart ein Vorfall, der seit Menschengedenken nicht vorgekommen war und wohl nie wieder vorkommen wird. Man war ernstlich beschäftigt, neue Rekruten einzuexerzieren, und die schnurrenden halbfranzösischen Kommandoworte, reichlich gemischt mit landesüblichen Flüchen, durch die dem schwäbischen Bauernjungen die Aufgaben seines neuen Berufs nähergelegt werden konnten, knatterten, dröhnten und rollten über den Hof hin, wie dies jeden Vormittag und Nachmittag je vier Stunden lang der Fall war. Da trat plötzlich eine hörbare Störung in dem verwirrten Lärm ein, denn man bemerkte, daß der Herr Oberst des Regiments Prinz Eugen, begleitet von seinem Oberstleutnant und einem Hauptmann, durch das Portal der Kaserne getreten war – ein sehr seltener Fall – und raschen Gangs der Ecke zuschritt, wo die dritte Kompagnie des zweiten Bataillons ihren Übungen obzuliegen pflegte. Besorgt sah ihm der Leutnant von Degenfeld entgegen, doch schien der Gestrenge mit dem feuerroten Gesicht und dem weißen, hochaufgedrehten Schnurrbart heute in ungefährlicher Stimmung zu sein, ja sogar einen der Tage zu haben, an denen er Witze zu machen pflegte. Eine Zeitlang unterhielt er sich mit dem Leutnant über die neuen, probeweis eingeführten Knöpfe an den Frackschößen des Grenadierregiments Herzog Heinrich, der sodann die Kompagnie antreten lassen mußte, was leidlich gelang.

Dann kommandierte nach einer neue Besorgnisse erregenden Pause der Oberst selbst:

»Soldat Berblinger, drei Schritt vortreten!«

Der vierte Mann im zweiten Glied drängte sich durch, und ein kleines, nicht sonderlich kräftiges Kerlchen trat vor. Man sah sofort, daß man es nicht mit dem gewöhnlichen Schlag von Bauernjungen zu tun hatte: ein ungewöhnlich intelligentes, aber bleiches Gesicht, rasche, fast nervöse Bewegungen. Auch schien sich der Mann nur mit Anstrengung die vorgeschriebene stramme Haltung zu geben.

»Du heißt Berblinger?« fragte der Oberst in dem barschen Ton, den der Beruf zu erfordern scheint.

»Zu Befehl, Herr Oberst.«

»Woher des Landes?«

»Ulmer, zu Befehl.«

»Profession?«

»Schneider, zu Befehl.«

»Stimmt!« sagte der Oberst, runzelte die Stirn und strich seinen Schnurrbart heftig. »Du hast die – die – die Frechheit gehabt, vor Seiner Königlichen Hoheit, dem Herzog Heinrich, ins Wasser zu fallen.«

»Zu Befehl, Herr Oberst.«

»Warum?«

Berblinger schwieg. Der Oberst wandte sich an die ihn begleitenden Offiziere:

»Können Sie sich vorstellen, meine Herren, der Kerl hat das Fliegen probiert, da hat ihn der Teufel in d' Donau neing'führt. Parbleu, das reimt sich! Das erste Gedicht, das ich in meinem Leben gemacht habe. Hätte nicht geglaubt daß das Dichten so leicht ist.«

Der Oberst lachte aus vollem Hals, der Oberstleutnant lachte mit der Hauptmann und der Leutnant lächelten in dem ihrer Rangordnung angemessenen Grade und die Kompagnie zog den rechten Mundwinkel nach oben. Die Mannschaft war bereits so weit ausgebildet und durfte, ja mußte in der guten alten Zeit auch in Reih und Glied Zeichen der Erheiterung geben, wenn der Kommandeur lachte. Jetzt sind allerdings die Zeiten ernster geworden.

»Na, also!« fuhr der Oberst fort, nachdem er sich wieder gefaßt hatte. »Seine Majestät haben von deinem Versuch Kenntnis genommen. Verstanden? Allerhöchstdieselben geruhen denselben als Beweis von Mut und hervorragender Ungeschicklichkeit zu betrachten – verstanden? – und beauftragen mich, dir hierfür ein Gnadengeschenk von zwanzig Friedrichsdor zu übergeben. – Nanu, Kerl, warum springst du nicht in die Luft vor Vergnügen und Dankbarkeit gegen deinen Kriegsherrn und allergnädigsten Landesvater? Es hat Mühe genug gekostet, bis man dich ausfindig gemacht hat, du Herrgottsakramentsvogel, du! Herr Oberstleutnant, übergeben Sie das Geld dem Herrn Hauptmann, der es dem Berblinger in wöchentlichen Raten von einem Friedrichsdor einhändigen soll, damit er nicht verrückt wird, wozu der Mann Neigung zu haben scheint. Herr Leutnant von Degenfeld!«

»Herr Oberst befehlen?«

»Sind Sie mit dem Mann zufrieden, Herr Leutnant?«

»Außerordentlich, Herr Oberst!« antwortete der Leutnant, der fühlte, daß dies unter den obwaltenden Verhältnissen die einzig richtige Antwort war.

»Gut! Er ist zwar klein, aber der Kerl scheint Courage zu haben. Sobald er marschieren kann, comme il faut, machen Sie ihn zum Flügelmann. Das scheint sein natürlicher Beruf zu sein.«

Wieder lachte der Oberst sehr laut, lachte der Oberstleutnant, lächelte der Hauptmann und der Leutnant rangentsprechend und zog die Kompagnie den rechten Mundwinkel in die Höhe. Berblinger aber war von Stund an der beliebteste Mann im Regiment, solang die zwanzig Friedrichsdor reichten, obgleich er den Kameraden unbegreiflich gesetzt und traurig erschien. War ein Kerl nicht ein unglaubliches Glückskind, dem allwöchentlich ein Vermögen von zehn Gulden in den Schoß fiel?

Manchmal fragte er sich, was ihm den Mut wiedergegeben habe, weiterzuleben. Dann kam ihm wohl der Gedanke, namentlich wenn er nachts auf Posten stand, daß der Pestilenziarius und das Typhusgretle etwas damit zu tun haben könnten, sicherlich Gretle. Alles andre war wie ausgelöscht.


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