Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

23. Wilde Liebe

Schon längst mußte zugestanden werden, daß der Held dieser Geschichte nichts mehr und nichts weniger war als ein zünftiger Schneidergeselle. Nun läßt sich auch nicht mehr verbergen, daß er trotz aller Sehnsucht nach Flügeln als ein mit mancherlei Schwächen behafteter Mensch und nicht als Engel durchs Leben ging, und es wird sich nur zu bald zeigen, welch wunderliche, fast übernatürliche Machenschaften der Böse – ich verstehe hierunter nicht ein Prinzip von zweifelhafter Persönlichkeit, sondern die wohlbekannte heidnische Gottheit Kupido – in Bewegung setzt, um selbst eine so unbedeutende Beute in seine Netze zu ziehen.

Bis hierher war unser Schneider verhältnismäßig harm- und schuldlos durchs Leben gegangen, wenn wir, wie billig, davon absehen, daß er einen Franzosen so gut wie totgeschlagen und einen Kirchendachbrand auf dem Gewissen hatte. Das kam daher, daß er aus der Kinder- und Klosterschulzeit trotz aller Dämpfungen und Hindernisse gewisse Ideale mit ins Leben hinausgenommen hatte, die sogar die rauhe Lehrzeit bei Bockelhardt nicht ganz zu zerstören vermochte, noch mehr aber, daß ihm die fixe Idee, mit der er vermutlich geboren wurde, immer und überall etwas zu denken, seinem unruhigen Gehirn und Nervensystem eine Beschäftigung gab: Ora et labora! Im Kloster hatte man ihm dies mit unnötiger Gründlichkeit eingeschärft. Er tat noch immer beides, wenn auch in ungewöhnlicher Weise, und es bewahrte ihn in seinen Jugend- und Wanderjahren vor manchem dummen Streich, bis endlich auch ein solcher, von oben kommend, in sein Leben trat.

Doch greifen wir nicht vor!

Er hatte einen Winterfeldzug der schlimmsten Gattung angetreten und sich nie so inbrünstig nach Flügeln gesehnt wie in den vier Wochen, die dem Besuch der Feuermaschine bei Tarnowitz folgten. Fast hätte er die wundervollste Erscheinung seiner Zeit verflucht, denn sie war schuld daran, daß er so weit nach Osten geraten und dadurch zur völligen Änderung seines Reiseplans verführt worden war. Allerdings hatte er auch von einem duften Kunden schon in Breslau gehört, daß Pest zur Zeit das Eldorado der Zunft sei. Jeder Magnat – und es wimmle dort von Magnaten – wolle in prachtvolleren Gewändern am neuen Kaiserhof erscheinen als sein Nachbar und bezahle für ein passendes Staatskleid fabelhafte Summen. Gute Schneidergesellen würden deshalb mit Gold aufgewogen. Als der Rest der zwei Taler, die ihm Keßler geliehen hatte, bedenklich geschwunden war, rief er mutig: »Auf nach Pest!« und schlug eine noch östlichere Richtung ein, entschlossen, in dem gelobten Land Ungarn zu überwintern.

Dazu wäre es fast für Zeit und Ewigkeit gekommen, ehe er Pest erreichen konnte. Frost und Schnee, weglose Pußten, jämmerliche Dörfchen, in denen die Leute einen anständigen Schneidergesellen anstaunten wie ein wildes Tier, unglaubliche Entfernungen von Ort zu Ort, später nur noch gelegentlich ein zerlumpter Jude, der etwas Deutsch verstand, erfrorene Füße und Hände, ein mehr als leerer Magen –: das waren die Erinnerungen, die Berblinger aus jenen Tagen bewahrte. Er brauchte eine Woche, sich zu erholen, ehe er in der stolzen Hauptstadt des ›schönen Ungarlandes‹ nach Arbeit umschauen konnte. Dann allerdings fand er seine Erwartungen übertroffen. Denn unser Schwabe konnte nähen, zuschneiden und bügeln und gab den engen Beinkleidern, den wunderlichen goldverbrämten Jacken, den pelzbesetzten Mänteln einen Schwung voll grotesker Poesie, der dem grimmigsten Grafen aus der Gegend von Szegedin oder Baranyavar ein wohlgefälliges Lächeln entlockte. Und doch wurde ihm nicht wohl an der allzu breiten Donau, die er kaum mehr erkannt hätte. Dem ruhigeren, gemütlicheren Ulmer war die Zigeunermusik zu toll, der Tschardasch zu wild, der Wein von Tokai und Villany zu feurig und die ungarischen Frauen zu groß und zu keck. Er war nach einem halben Jahr noch immer der alte, was ihm um so leichter wurde, als er gelegentlich einem Bäuerlein in Lederhosen und roter Weste begegnete, das ihm ein »Grüß de Gott!« zuwarf, als ob es geradenwegs von der Rauhen Alb käme. Das war einer von den eingewanderten Schwaben, die – ein selten Ding – stolz waren auf ihr Schwabentum und denen es nicht weniger gut ging als ihm selbst. Nur wollten sie nichts mehr vom Heimgehen wissen und fragten höchstens halblaut, als fürchteten sie, gehört zu werden, ob der Karl Herzog noch nicht gestorben sei. – Im Frühsommer war sein Beutel genügend gefüllt; er konnte mit gutem Gewissen das Bündel wieder schnüren und wandte sich nach Südwesten, gegen Kärnten und Krain, sah das Meer bei Triest und die Schneeberge von Steiermark, so daß wir ihn ein ganzes Jahr lang unbesorgt laufen lassen können.

Den nächsten Winter vernähte er in Bozen und Innsbruck und spürte, als der Frühling anbrach, die Heimatluft so stark, daß es ihm ganz warm und weh ums Herz wurde. Aber es war noch zu früh, an die Rückkehr zu denken; die zunftgemäßen drei Jahre waren erst im kommenden Herbst zu Ende. Auch war es nachgerade die höchste Zeit, sich Wien anzusehen. Er konnte es in aller Ruhe tun, denn es war endlich Friede im Land, wenn auch keiner, der irgend jemand befriedigte, und vor allem die Kaiserstadt, hörte er, lebe wieder auf und sei guter Dinge wie vor dem Sturm. Sie nahmen dort alles, auch die empfindlichsten Schläge, leichter als anderwärts.

So ging er eines Tags, seinem Ziele nach, in selbstzufriedener Stimmung am Saum eines Waldes entlang, selbst die Lerchen nicht beneidend, die im Blau des sonnigen Nachmittags über seinem Kopf jubilierten. Es war in der Nähe von Mödling, obgleich er von Westen hätte kommen sollen. Aber wer wird je Ordnung in die Rösselsprünge eines wandernden Handwerksburschen bringen, und das eben ist das Schöne daran. Zu seiner Linken erhoben sich waldige Berge, an deren Hängen das erste Grün des Frühlings schimmerte. Auf seiner Rechten dehnte sich eine weite hellbraune Fläche, in die in weiten Zwischenräumen wohl ein Dutzend pflügende Gespanne lange schwarze Streifen schnitten. Da mit einemmal bemerkte er verwundert, wie eines nach dem andern mitten in der langen Furche stehen blieb, Knechte und Mägde nach oben starrten und dann laut schreiend zu laufen anfingen. Auch er blieb jetzt stehen und sah gen Himmel. Fast senkrecht über ihm – sonst müßte er es früher bemerkt haben – hing eine Kugel in der Luft, zur Hälfte schwarz, zur Hälfte von der Abendsonne vergoldet, und wurde sichtlich mit jedem Augenblick größer. Die Bauern schrien lauter und alle, von hinten, von vorn, von der Seite, liefen ihm zu. Kein Zweifel: Es war ein rasch sinkender Luftballon, unter dem er stand.

Jetzt konnte er auch das braune Körbchen unter der Kugel unterscheiden, obgleich Kugel und Körbchen einander deckten und fast senkrecht über ihm hingen. Das Körbchen war sichtlich nicht leer. Ein Mensch beugte sich über seinen Rand, winkte lebhaft mit den Armen und warf jetzt ein Seil aus, an dessen unterem Ende ein kleiner Anker schwebte. Die Kugel war in den letzten Sekunden erschreckend groß geworden und schwankte heftig hin und her. Ein Windstoß schien sie zu erfassen und nach dem Wald hinzutreiben. Auch Berblinger lief jetzt dem Walde zu. Dreißig Schritte vor ihm fiel der Anker auf den Boden; allein er war zu leicht, um zu fassen, und hüpfte in tollen Sprüngen über Hecken und Gräben weg. Trotzdem neigte sich der Ballon nach der Seite seiner Bewegungsrichtung, und das Körbchen, aus dem jetzt laute, aufgeregte Rufe kamen, schien seinen Insassen ausschütten zu wollen. Der Anker schleifte fast so rasch dem Walde zu, als Berblinger, der seinen Ranzen abgeworfen hatte, laufen konnte. Erst am Waldsaum erreichte er das kleine hüpfende Ungetüm, aber es gelang ihm nicht, es zu fassen. Im nächsten Augenblick wurde es in die Höhe gezogen, da sich das Seil über das Geäst eines Baums gelegt hatte und der Ballon noch immer in wilden Schwingungen waldeinwärts trieb. Gleichzeitig senkte er sich rascher, so daß ihn Berblinger, der auch in den Wald eingetreten war, nicht mehr deutlich sehen konnte. Dagegen hörte er ein paar gellende Schreie und das Rauschen und Knacken brechender Zweige, während er selbst das niedere Buschwerk durchriß.

Über einer großen Eiche war der Ballon niedergegangen und lag, zerrissen und wie hilflos um sich schlagend, auf den höchsten Zweigen des Baums. Auch der Korb hing an einem der Äste, in einem Gewirr von Stricken, umgestürzt und leer. Auf einem nur wenig weiter unten liegenden Ast aber saß etwas, das Berblinger an einen märchenhaften Waldkobold in seinem einzigen Kinderbilderbuch, bei näherem Zusehen aber an das Engelchen erinnerte, das man in Onkel Schwarzmanns Haus alljährlich an die Spitze des Christbaums zu binden pflegte. Staunend sah er in die Höhe; da aber das Geschöpfchen kläglich wimmerte, machte er sich entschlossen daran, die Eiche zu besteigen. Dies war nicht sonderlich schwierig, denn sie hatte hilfsbereite Knorren und Äste in Menge, und so saß Berblinger wenige Minuten später in nächster Nähe des koboldartigen Engels.

Er war sichtlich weiblichen Geschlechts, hatte ein sehr zerrissenes Röckchen an und trug überaus rote Trikots, die den schamhaften Schneider anfänglich nicht wenig beunruhigten, während sie – die von jetzt an natürlich ›sie‹ genannt werden muß – sich nur um ihr zerrissenes Kleidchen, eine verstauchte Hand und einen leicht blutenden Arm zu kümmern schien. Dann musterte sie Berblinger ebenso erstaunt, wie er sie, während sich die Bauern unter der Eiche sammelten und beratschlagten, ob man den Teufelsbraten erst totschlagen sollte, soweit dies ohne Gefahr geschehen könne, oder zuvor den Herrn Pfarrer herbeiholen müsse. Dies gab denen im Geäst Zeit, sich zu fassen und gegenseitig vorzustellen, während der Ballon förmlich damit beschäftigt schien, sich in Fetzen zu reißen und an hundert Zweigen und Ästchen aufzuhängen. Sie erzählte, daß sie die berühmte Luftschifferin Irma Mira aus Wien sei, gewöhnlich aber in der Bude Numero sechzehn im Wurstelprater als Primadonna aller Seiltänzerinnen arbeite. Sie sei heute nachmittag präzis drei Uhr unter enormem Zulauf der ganzen Bevölkerung der Kaiserstadt aufgestiegen und, wie er sehe, soeben glücklich gelandet; wo wisse sie noch nicht. Mit ihrem teuern Ballon ›Luftibus der Dritte‹ sei es allerdings wahrscheinlich zu Ende, das sei das schlimmste an der Sache. Zum Glück hätten sie jedoch eine glänzende Einnahme gehabt, so daß sie hoffe, sich einen neuen anschaffen und die Hatz wiederholen zu können. Luftschiffen sei leichter als Seiltanzen, wenn nur das Landen nicht wäre. Vorläufig aber handle es sich darum, von dem Baum herunterzukommen, und wenn der Herr von Berblinger ihr dabei behilflich sein wollte – ihren linken Arm könne sie kaum mehr rühren –, würde sie ihm ewig dankbar sein.

Sie war ein bezaubernd schönes, großes, kräftiges Mädchen, soweit dies Berblinger in der ungewohnten Tracht und Lage, in der er Fräulein Irma Mira kennenlernte, zu beurteilen vermochte; fast zu kräftig, zu groß und zu schön für den kleinen Schneider. Aber sie sah ihn so gutherzig und kameradschaftlich an, wie sie so nebeneinander auf demselben Aste saßen, daß er wieder Mut faßte und einen Plan für den bedenklichen Abstieg entwarf. Mittlerweile hatte sich die Gefahr von andrer Seite erhöht. Unter der mutigen Führung von einigen ihrer Weiber nahmen die unter dem Baum versammelten Bauern gegen das sündhafte Teufelspack, das in der Luft herumfliege, sichtlich um den schwachen Männern nachzustellen, eine drohendere Haltung an und begannen Stöcke und Gerten zu schneiden. Berblinger parlamentierte. Er sei ein ehrsamer Handwerksbursche und guter Christ und die neben ihm sitzende Jungfrau Irma Mira von Wien fliege nur mit obrigkeitlicher Bewilligung. Wenn sie warten wollten, bis der Herr Pfarrer käme, könne er und Fräulein Mira hier oben auch warten, aber er mache sie für die Folgen verantwortlich, da Seine Kaiserlich-Königliche Majestät die kühne Luftschifferin noch heute abend in Wien erwarte. Andererseits habe man die Absicht, ihnen zur Belohnung für ihr Wohlverhalten den Ballon zum Geschenk zu machen, in den sich ihr ganzes Dorf festlich kleiden könne, wenn sie den kostbaren Zeug vorsichtig herunterholten. Dieser letztere Teil der Rede war ein genialer Einfall Berblingers und brachte Zwiespalt in die Reihen der Feinde. Die Weiber waren der Ansicht, daß man um diesen Preis den Teufel selbst laufen lassen könnte, die Männer wurden kleinlaut, und Berblinger konnte den Abstieg mit seinem Schützling versuchen. Es ging rascher, als er gehofft hatte, namentlich gegen das Ende, indem beide vom untersten Ast des Baumes infolge eines Fehltritts gleichzeitig abfielen und froh sein mußten, auf einem weichen Mooslager ihre fünf Sinne wieder sammeln zu können. Wie alles hatte auch dieser Zwischenfall seine gute Seite, indem er einen derartigen Schrecken unter den noch übelgesinnten Bauern hervorrief, daß zunächst alle die Flucht ergriffen und sich Fräulein Irma, von den mitleidigen Bäuerinnen geleitet, ungehindert nach dem nahen Mödling begeben konnte. Berblinger folgte in respektvoller Entfernung unter dem Eindruck, daß er mindestens einen halben Engel gerettet habe, der noch immer seiner Hilfe bedürfe. Im ersten Häuschen des Dorfs verschwand der Engel mit seiner weiblichen Schutztruppe, und der Schneider war nicht wenig erstaunt, sich nach kurzer Zeit einer drallen Bauerndirne gegenüberzufinden, in der er das himmlische Wesen mit Mühe wiedererkannte. Sie verlangte dringend, ohne Verzug nach Wien zurückzukehren, und lud ihn ein, auf einem Wägelchen Platz zu nehmen, das ein junger Bauer, von gefälligem Eifer überströmend, herbeigebracht hatte. Der ›Teufelsbraten‹ hatte alle Herzen erobert, seitdem er sich nicht mehr als Engel, sondern als Mensch und Bauernmadel unter ihresgleichen zu bewegen schien. Alle!

Die Fahrt nach Wien gestaltete sich ungemein unterhaltend. Sogar das Geständnis seiner Sehnsucht, selbst zu fliegen, entlockte die schöne Irma ihrem verschüchterten Retter und versprach, ihm mit Rat und Tat behilflich zu sein. Am Kärntner Tor, wo sie nachts elf Uhr anlangten, trennten sie sich, oder vielmehr trennte sie die Polizei. Denn Fräulein Mira vermochte nachzuweisen, daß sie nach Wien gehöre, und durfte samt ihrem Fuhrwerk passieren, dem Schneider dagegen wurde von der Torwache ein zwar kostenloses, aber unbehagliches Nachtquartier angewiesen, bis der ›Herr Leutnant‹, der am nächsten Morgen erwartet wurde, seine Papiere von Amts wegen prüfen und visieren konnte.

Er hatte begreiflicherweise eine unruhige Nacht. Die Begegnung mit einem derart von oben kommenden engelartigen Wesen – das war sie, seufzte er vielleicht hundertmal auf der harten Pritsche, die ihm die Obrigkeit anwies – hätte stärkere Nerven angegriffen als die eines harmlosen Wandergesellen, dessen Sinnen und Trachten schon seit Jahren in den Lüften schwebte.

 

Wieder hatte er etliche Monate seiner Wanderzeit verarbeitet.

Die Herberge der Schneidergesellen im ›Grünen Turban‹ zu Wien war immerhin ein ander Ding als die im ›Goldenen Hecht‹ zu Ulm. Schon das Äußere des stattlichen Hauses in der Schulergasse, das später einem nichtssagenden Umbau zum Opfer fiel, zeigte dies. Man erzählte sich, daß es vor mehr als hundert Jahren von einem achtundsechzigjährigen Handwerksburschen erbaut worden sei, der nie Meister geworden war, aber bei Sultan Selim II. eine halbe Million Gulden erschneidert hatte. In seinen alten Tagen habe er sich von seinem Harem verabschiedet, sodann die Insassen reumütig in Säcke eingenäht und in den Bosporus geworfen. Nach Wien und zum Christentum zurückgekehrt, habe er die Wirtschaft zum ›Grünen Turban‹ nur zu dem Zweck aufgetan, allen Schneidergesellen, die mutig in die Welt hinauszögen, ein behagliches Ruheplätzchen zu schaffen. Der steinerne Bock über dem Tor mit dem Turban auf den Hörnern war vergoldet. Im ersten Stock war ein Festsaal, dessen Wände die prachtvollsten Gewänder aus Ungarland und Hispanien, aus Ägypten und Persien schmückten. In einem prachtvoll geschnitzten Schrank, der mit Scheren, Bügeleisen und Bocksköpfen reich verziert war, hing ein niedliches goldenes Ellenmaß zwischen zwei Türkensäbeln über der großen versilberten Gesellenlade. Um diese standen Pokale und Schüsseln aus altem Zinn und Silber, lagen Denkmünzen und Wappenschilde berühmt gewordener Gesellen. Über den Türkensäbeln hing das zerschossene Fähnlein, unter dem die Schneidergesellen bei der Belagerung Wiens durch die Ungläubigen sich tapfer gewehrt und rühmlich hervorgetan hatten. Auch eine Reliquie wurde hier aufbewahrt: die erste Nadel, mit der Eva als Mutter und Gattin im Kreis der Ihren hantiert haben soll. Unten in der Wirtsstube hingen aus Raummangel staunenswerte Meisterstücke aus neuerer Zeit, von dankbaren Gesellen gestiftet, die in diesen Räumen fröhliche und tröstliche Stunden verlebt hatten. Kurz, es war eine Stätte, die jeden Schneider, der sie betrat, wieder mit berechtigtem Stolz erfüllen mußte, wenn ihm im Lauf seiner Wanderschaft eine unverständige und undankbare Welt allzu übel mitgespielt hatte.

Nicht daß alles in Schau und Pracht erstickt wäre. Es gab heimliche Winkelchen in den unteren Schenkstuben, in denen der Herbergsvater seinen Kunden zu zeigen verstand, was Wiener Gemütlichkeit, was Vöslauer und Gumpoldskirchner wert waren. In einem dieser Eckchen saßen heute zwei beisammen, die sich unter der Haustüre begegnet und freudig begrüßt hatten. Nicht weil sie in früheren Zeiten ›Spezel‹ gewesen wären. Sie hatten sich kaum kennengelernt, obgleich beide lange genug auf demselben Arbeitstisch gesessen waren. Aber manche Leute freuen sich unsinnig, in fremden Landen einen alten Bekannten wiederzufinden, den sie früher nicht sonderlich geschätzt hatten. Wir sollten uns mit ihnen freuen, denn dem Enderle von Ulm sind auch wir schon früher gerne begegnet, wenn uns auch François, der Elsässer, gleichgültiger geblieben sein mag.

Enderle schien größer und strammer geworden zu sein; man merkte, daß er Soldat gewesen war. Doch hatte er noch das alte runde Kindergesicht und dieselben gutherzigen, lachenden Augen, obgleich er etwas abgerissen aussah, wie wenn er eine lange, nicht vom Glück verzärtelte Wanderzeit hinter sich hätte. François war um so feiner ausgestattet, aber er war gealtert, und sein braungelbes knochiges Gesicht mit dem ins Graue spielenden Spitzbart und den lauernden, zusammengekniffenen Augen wollten nicht mehr zu einem Schneidergesellen passen. Auch er hatte etwas Militärisches in seinem Auftreten und sah französischer aus als früher. Das war zur Zeit Mode. Trotz alledem –: sie hatten sich in Ulm gekannt und jetzt in Wien getroffen; es genügte, um ein vertrauliches Gespräch einzuleiten. François, dem es an Geld nicht zu fehlen schien, sorgte für einen Trunk feurigen Ungarweins, dem Enderle dankbar und durstig zusprach.

»Na, aber sag einmal, wie kommst du nach Wien?« fragte der Schwabe, nachdem sie auf den alten Krauter, den Bockelhardt, angestoßen und François seine Zunftsprüche, auf die er noch immer stolz war, losgelassen hatte. »Straßburg und Wien! Mit der Elle hat's noch keiner gemessen, wie weit die auseinander liegen.«

»Tut's das Handwerk nicht, bringt's der Krieg«, versetzte der Elsässer geheimnisvoll. »Unser Kaiser kam von Paris nach Wien, schnell genug; geht's nicht mit der Nadel, geht's mit dem Säbel. Seitdem ich mit Seiner Durchlaucht, dem Feldmarschall Ney, dem Herzog von Elchingen, verkehre – du weißt doch, daß ich bei Elchingen mitgewirkt habe! Wer weiß, wie's dort gegangen wäre ohne mich? – Pst! – die Österreicher hierzuland brauchen nichts davon zu hören – seitdem greife ich in meine Kriegskasse, wenn mich das Handwerk im Stich läßt.«

»Das versteh' ich nicht«, sagte Enderle mit einem Gesicht, dem man glauben mußte.

»Ist auch nicht nötig«, erwiderte der andre. »Trink und frag nicht zuviel. Vielleicht kannst du mir auch einmal einen Dienst erweisen, wie ich dem Herzog. Die Herren vom Militär brauchen allerlei Helfershelfer und zahlen nicht schlecht. In Friedenszeiten, wie heute, kommt dann das Handwerk wieder zu Ehren. Ich arbeite bei Meister Stautigel in der Wollzeil. Wir haben zu tun. Du kannst bei uns umschauen, wenn dir an Arbeit gelegen ist. Zuvor aber laß von dir hören. Woher des Lands? Meines Wissens solltest du noch drei, vier Jahre in deines allergnädigsten Kurfürsten Rock stecken.«

»Der hängt am Nagel!« versetzte Enderle, sich vorsichtig umsehend. »Braucht's auch nicht jedermann zu wissen.«

»Desertiert?« fragte François, die Augen noch weiter zusammendrückend.

»Je nachdem man's ansieht«, antwortete der Jüngere verlegen. »Eigentlich nicht. Wir waren im Feld in Tirol. Die Bauern im Ötztal wurden unruhig und wir sollten Ruhe schaffen. Es gefiel mir von Anfang an nicht, denn ich hab' die Tiroler gern und keinen Spaß daran, auf brave Leute zu schießen; noch weniger, von ihnen angeschossen zu werden, und sie verstehen das. Die sakrischen Stutzen hab' ich auf dem Strich. Na, da war mir's nicht leid, daß mich mein Hauptmann an einen Waldsaum bei Langenfeld auf Posten stellte und in der Eile vergaß, mich ablösen zu lassen. Die unsern mußten Langenfeld schneller räumen, als ihnen lieb war; man wußte keinen Augenblick, ob es losgehen sollte oder nicht. Ich hinter meinem Waldsaum habe gewartet, drei Stunden, sechs Stunden lang und wie ich's vor Hunger nicht mehr aushalten konnte und kein Freund und kein Feind zu sehen war – na, da hab' ich halt die Muskete an den Baum gehängt, unter dem ich Posten gestanden hatte, und bin nach Langenfeld gelaufen, um mich zu erkundigen. Die Kompagnie sei schon seit Stunden talwärts abgezogen, hieß es im Dorf. Einen bayrischen Soldaten ohne Gewehr könne man nicht brauchen, aber ein Flickschneider käme nicht ungelegen. Da mußte ich wohl denken, unser Herrgott hab's so gewollt, und machte, daß ich ins Steirische hinüberkam, wo niemand nach mir fragte. Dort fing ich ein regelrechtes Wandern an, wie andre ehrsame Schneidergesellen. Dabei ging's bergauf, bergab, ich hab' nicht sonderlich zu klagen. Nur Obacht mußt' ich geben, nicht ins Bayrische zu kommen, und so kam ich nach Wien.«

»Glück genug, Bruderherz«, lachte der Elsässer. »Das ist nicht halb so toll als die Geschichte, die den Berblinger hierherbrachte.«

»Den Prätle! Herrgott, der ist auch hier?« fuhr Enderle auf. »Na, das freut mich! Den muß ich finden, und wenn ich ganz Wien umstülpen müßte.«

»Ist nicht nötig,« sagte François, die Nase rümpfend. »Er arbeitet beim kaiserlich-königlichen Oberhofschneider von Kratzky und verdient ein Saugeld. Aber er wird nichts von dir wissen wollen.«

»Der? Nichts von mir wissen wollen? Da kenn' ich den Prätle besser.«

»Er ist verrückt geworden,‹, sagte der Elsässer ernsthaft.

»Verrückt!« rief Enderle und sah seinen Nachbarn entsetzt an.

»Frag die Gesellschaft bei dem Oberhofschneider«, versetzte dieser mit einer gehässigen Miene. »Verrückte sind oft genug schlaue Linkmichel. Das war er von jeher und hat jetzt das schönste Mädel in Wien bessern Leuten weggeschnappt. Wenigstens bildet er sich's ein.«

Enderle machte seine großen unschuldigen Augen so weit auf, daß sie wie halbe Guldenstückchen aussahen.

»Laß dir's erzählen!« sagte François. »Ich hab's von ihm, da muß wohl etwas Wahres dran sein; und er gab's mit einem Gesicht, als ob er vor sich selber Angst hätte. Also: ich find' ihn vor vier, fünf Monaten hier in der Herberge, gerade wie dich, frisch von der Wanderschaft kommend. Er will nach Arbeit umschauen. ›Sieh dir erst Wien an‹, sag' ich, ›daß du nicht zu grün ausschaust, wenn du bei den Meistem vorsprichst. Mit dem Wurstelprater fangen wir an. Die Hatz muß jeder gesehen haben, eh' er in der Stadt Arbeit findet.‹ Gut, wir gehen zusammen. 's ist Peter und Paul und alles im besten Zug, bis wir hinunterkommen, Drehorgeln und Karussell, Tiroler Sänger und Moritaten, der Flohzirkus und die Herkulesse. Und wie wir so an den Buden hinstreichen und ich vorschlage, er solle sechs Kreuzer spendieren, um die dickste Frau von Europa zu sehen, da kommt aus einer Nachbarbude die schönste heraus – sacre bleu, ich dachte wahrhaftig, es sei die schönste, und denk's heute noch – und fällt unserem Prätle um den Hals und freut sich wie besessen, daß sie ihren Lebensretter wiederhabe. Er solle nur ein Stündchen warten, bis ihre Nummern abgetanzt wären, dann wollten sie zusammen das Wiedersehen feiern. Sagt's und ist wieder in ihrem Zelt, eh' ich weiß, wo mir der Kopf steht. Soll mich der Kuckuck holen, wenn der Berblinger nicht noch blöder dreinschaute. ›Du Duckmäuser, du verfluchter‹, sag' ich, ›du kannst's.‹ Da erzählt er mir, wie es gekommen sei, daß er sie vor zwei Wochen von einem Baum heruntergeholt habe, an dem sie per Luftballon hängengeblieben sei. Natürlich wollt' ich jetzt auch bei der Partie sein, aber es war nichts zu machen. Die schöne Irma wollte von niemand nichts wissen als von ihrem kleinen Lebensretter, bis ich in der Wut davonlief. Seitdem steckt er im Prater, sooft er eine freie Stunde hat, und ich hab' mir sagen lassen, daß er all sein Geld – und der Kerl verdient Geld bei Kratzky wie Heu, denn geschickt ist er, das muß man ihm lassen, und ein Bruder Liederlich ist er eigentlich auch nicht, sondern erst auf dem Weg, es zu werden –, ja, was ich sagen wollte, daß er all sein Geld in den Prater trägt. Na, mag er's. Wenn er sich einbildet, mit sechs ungarischen Magnaten konkurrieren zu können, die ebenso scharf aufs Luftschiffen aus sind als er, wird er die Finger nicht schlecht verbrennen.«

Staunend hörte Enderle dies alles mit an und wurde immer trauriger. Wer hätte das von dem kleinen braven Prätle erwartet! Aber nachsehen wollte er. Wenn die schöne Irma wirklich so schön war, daß ganz Wien von ihr schwärmte, wie François behauptete, und sie mit den größten Goldfischen spielte, war's ja verzeihlich genug, daß sich ein Ulmer Weißling in ihren Netzen verfing.

François war sofort bereit, den Nachmittag mit ihm im Wurstelprater zuzubringen. »Ich wäre auch ohne dich hingegangen«, sagte er, »denn heute wird's großartig. Gestern schon haben sie's ausgeschellt, daß die Luftkönigin Irma Mira mit einem ungarischen Grafen auffahren werde. Das mußt du dir ansehen, Enderle; und ich wette, daß du deinen lieben Prätle nicht weit davon findest. Der ist ja auch mehr in der Luft zu Haus als auf dem Schneidertisch, sagen seine Kollegen bei Kratzky, und er wird sich's nicht angehen lassen, zuzuschauen, wie ihm seine Irma mit dem ungarischen Grafen davonfliegt.«

 

Es war ein herrlicher Spätsommernachmittag und zwei Uhr vorüber. In der prächtigen Hauptallee des Praters herrschte noch vornehme Stille, hinter dem Buschwerk zur Linken aber hatte das Wiener Feiertagstreiben bereits begonnen. In das sich kreuzende Musizieren von fünf, sechs Drehorgeln tönte das laute Rufen der Verkäufer von Würstchen und Käse, Kastanien und Pomeranzen, Backwerk und Rauchtabak. Karusselle drehten sich langsam und lockend, wenn auch noch mit unbesetzten Pferden, in sich fast überstürzenden Nachen schaukelten die Eigentümer vor den sehnsüchtigen Blicken kreuzerloser Jungen. Um zwei Puppentheater sammelten sich schon kleine Gruppen von Kindern und Erwachsenen, beide gleich bereit zu lachen und aufzujubeln, sobald sich der Hanswurst zeigen sollte. Vor den größeren Buden begannen verkümmerte Gestalten in geflickten Samtröcken mit heiserer Stimme das dreiköpfige Kind von Lundenburg, die erstaunlichen Vorstellungen des Affentheaters aus Brasilien, die Riesenstärke des weiblichen Herkules zu preisen. Vor einem Zirkus standen mit hängenden Köpfen drei halb schlafende Ponys, auf denen zwei dünnbeinige kleine Mädchen von Zeit zu Zeit einen verlockenden Tanz zum besten gaben, zu dem eine üppige Kassiererin Trompete, Pauke und Triangel gleichzeitig handhabte und dazu noch Eintrittskarten verkaufte. Nur vor Bude Nummer sechzehn, die sonst für eine der regsten galt, war es noch still, und doch zog sie schon eine beträchtlichere Menge Schaulustiger an als alle andern.

Vor derselben war ein kreisförmiger Raum mit Seilen abgegrenzt, in dessen Mitte ein halbgefüllter, schlauchartig gestalteter Ballon in fratzenhaften Bewegungen hin und her schwankte, der an acht kreisförmig auf dem Boden liegenden Gewichten befestigt war. Fast schien es, als ob er eine eingelernte Rolle spielte. Bald verbeugte er sich nach rechts und links mit komischer Würde, bald schien er einen Versuch zu machen, plötzlich zu entwischen, dann wieder kroch er heimtückisch fast am Boden hin, so daß die Umstehenden erschrocken zurückwichen. Nur ein grämlicher alter Mann befand sich im Ring, mit einer Anzahl gewaltiger Flaschen beschäftigt, die im Kreis um den Ballon aufgestellt waren. Während er das eine Ende einer ledernen Röhre, deren andres Ende sich in der unteren Öffnung des Ballons verlor, über den Hals der Flaschen zog, nachdem er sie entkorkt hatte, strömte das in den Flaschen enthaltene Gas langsam in den Ballon über, der mehr und mehr eine rundliche Gestalt annahm.

Hinter der Bude rankte dichtes Gebüsch, und hinter dem Buschwerk, auf einem kleinen freien Raum, stand einer jener großen, bunt angestrichenen Wagen, wie sie fahrende ›Künstler‹ mit sich führen. Er war sichtlich wohnlich eingerichtet und sauber gehalten und schien mehrere Gelasse zu enthalten. Auf der Treppe saß ein großes Mädchen, in einem unordentlich um sie hängenden Kleid, das ihre schönen, kräftigen Glieder in nicht eben verführerischer Weise ahnen ließ. Zwei Stufen höher, unter der offenen Türe des Wagens, hockte ein zweites Mädchen – es mochte eine jüngere Schwester sein –, im Begriff, das dunkelbraune Haar der älteren zu ordnen und zu pudern. Aus dem Innern des Wagens hörte man gelegentlich das Schreien eines kleinen Kindes und das röchelnde Husten einer Frau. Hinter dem Wagen spielten zwei in bunte Fetzen gekleidete Jungen mit einem großen Pudel, auf dem ein Affe saß, der in des Hundes Pelz eifrig nach Flöhen suchte und jeden Fund grinsend umherzeigte. Auf der großen Trommel vor der Gruppe der Mädchen saß Berblinger.

Man konnte auf den ersten Blick sehen, daß sie sich gezankt hatten. Auf dem fast klassisch schönen, dabei aber gutmütigen Gesicht Irmas, das jeden Augenblick bereit schien, in fröhliches Lachen auszubrechen, lag ein ärgerlicher Zug. Der Schneidergeselle sah finster zu Boden und malte mit einem Trommelschlegel große Kreuze in den Sand.

»Sei nicht fad, Brechtle«, sagte sie, den Lockenkopf zurückwerfend, daß der Puder aufflog. »Du weißt, wie's steht. Die Mutter ist sterbenskrank, das kannst du hören; der Vater hat fast immer ein Glas zuviel; er meint's gut, aber er kann nicht mehr anders. Die Buben können noch nichts als Purzelbäume schlagen. Die Bella dahinten tanzt zur Not, aber viel ist's auch nicht.«

»Na!« rief Bella und gab dem Haar ihrer Schwester eine Drehung, daß diese einen kleinen Schrei ausstieß.

»Das kann sie, mir die Haare ausreißen«, fuhr Irma fort, ohne ärgerlich zu werden. »Wer soll die Familie erhalten. Kannst du's? Ich muß es tun, sonst können wir alle betteln gehen. Dazu müssen die Kavaliere mithelfen. Warum sind sie so dumm! Den Grafen brauch' ich; dich mag ich. Kannst du nicht zufrieden sein?«

Sie griff mit kräftiger Hand nach Berblingers Kopf, begrub alle fünf Finger in seinen Haaren und zwang ihn zu sich. Aber er war trotzdem nicht zufrieden.

»Du tust ja auch, was du kannst, und bist mein nettes kleines Schatzerl, akkurat wie's mir paßt«, begann sie wieder, »und so dumm wie die Kavaliere bist du nicht. Hast mich von dem Baum heruntergeholt und dabei fast das Genick gebrochen, gibst mir deinen Geldbeutel, wenn etwas drin ist, und hast dem Vater sechs Nächte lang an dem neuen Ballon nähen geholfen. Mehr verlang' ich nicht. Nur zufrieden sollst du damit sein, daß ich dich gern hab'. Verdrießliche Gesichter machen mich krank. Zufrieden sollst sein! Noch keinen hab' ich so lang gern gehabt wie dich. Na, brauchst nicht gleich aufzufahren, als ob dich eine Tarantel gestochen hätte. G'liebt, so recht g'liebt hab' ich eigentlich noch keinen außer – dich. Da hast's!«

Sie sprang auf und küßte ihn. Und er lachte.

»Was willst sonst von mir?« fuhr sie fort. »Du bist doch auch einer von den Leuten, die mehr in der Luft zu Haus sind als auf festem Boden, und hast mir oft genug davon vorgeplauscht. So sind wir halt. Kannst nicht auch so sein? – Der Graf? Ekelhaft mit seinem Gewinsel; ein halbes Kind und schlecht genug dazu! Aber er zahlt vierhundert Gulden für den Ballon, wenn er heute mitfahren darf. Es gilt eine Wette unter seinen Kameraden. Warum willst du ihm den Spaß nicht gönnen, seine vierhundert Gulden loszuwerden? Er hat's und ich brauch's. Na, kannst nichts sagen?«

Berblinger hatte ein Gefühl, als sei er heute nicht er selbst. Vielleicht war er's schon seit einigen Monaten nicht, in denen er wie im Traum gelebt hatte, wenn er nicht um Irma war. War er bei ihr, so schnürte ihm manchmal, wie heute, ein schmerzhafter Druck fast die Kehle zu. Sie war schöner als irgendein Weib, das er je gesehen hatte, schöner als Lucinde, die ihm jetzt wie ein niedliches Püppchen erschien. Aber das war es nicht. Sie war so herzensgut und sah trotz allem und allem so lustig in die Welt hinaus, wie es nur die Unschuld vermag, die nichts von Gut und Böse weiß. Es gibt solche Naturen, und noch niemand hat sie zu erklären vermocht. Dabei war es nur zu wahr: Sie mußte die ganze vorkommende Familie mit ihrer gefährlichen Arbeit erhalten. Ihr Vater war einer jener Luftschiffer gewesen, von denen Berblinger schon vor Jahren im Landexamen zu Stuttgart gehört hatte, ihre Mutter war seinerzeit als Tänzerin bewundert worden. Von beiden hatte sie gelernt, was sie konnte, und wohl auch ihre Schönheit geerbt. Nun zahlte sie zurück, was sie empfangen hatte, ohne zu geizen, ohne viel zu denken, wenn sie nur lachen konnte; und das konnte sie noch immer. Was ihm die Kehle zuschnürte, war dieses Lachen und ein fast unerträgliches Mitleid mit diesem Wesen, das manchmal auf ihn herabsah wie eine Königin und Grafen und Barone hinter sich herzog, wenn sie winkte. Sie waren allerdings von der zweifelhaftesten Gattung.

»Wir haben noch zwei Stunden Zeit«, sagte sie jetzt, aufspringend. »Mein Graf kommt jedenfalls nicht vor vier Uhr. Er hat's nicht gern, wenn die Leute ihn anstarren; wer weiß, ob er die Courage hat, überhaupt zu kommen. Sein Spezel, der Baron von Golaschek, der mit ihm gewettet hat, schwört, er werde es nicht wagen. Dann darfst du mich begleiten, Brechtle, umsonst und gratis. Jetzt aber machst du ein andres Gesicht und gehst mit mir hinüber ins Café Purzelmaier. Dort wollen wir die Zeit verschwatzen, bis ich mich anziehen muß. Komm!«

Es war nur zehn Schritte in den kleinen Cafégarten, wo sie sich setzten und bald von einer Gesellschaft von Herren umgeben waren, mit denen die schöne Irma spielte, als wären sie eine Koppel ungezogener Hunde. Es wurde gescherzt und gelacht, gewettet, ob der Graf aufsteigen würde oder nicht, gefragt, ob sie je wieder herunterzukommen gedenke, und Berblinger wurde immer stiller und trauriger. ›Weiß der Kuckuck, was mir heute ist!‹ sagte er endlich wütend zu sich selbst, denn es blieb Irma nichts übrig, als sich mit andern zu belustigen. Mit ihm war nun einmal nichts anzufangen.

Um drei Uhr brachen sie wieder auf. Es war Zeit, nach dem Ballon zu sehen, und für sie, sich umzukleiden. Der Ring war schon von einer dichten Volksmenge umgeben, die ihr fast ehrerbietig Platz machte. In demselben hantierte noch immer der müde, verdrießliche alte Mann mit seinen Flaschen, obgleich der Ballon, jetzt eine gewaltige Kugel, von acht straffen Seilen gehalten, sich behäbig in der Luft wiegte. Den Alten umstanden acht Arbeiter, denen er zeigte, wie die Seile von den Gewichten zu lösen und auf den Ruf: »Los!« gleichzeitig freizulassen seien. Auch eine Gruppe elegant gekleideter junger Stutzer befand sich in dem Ring, in deren Mitte sich ein blaubebrillter Herr eifrig Notizen machte. Das sei ein Professor und ebenfalls eine Art von Luftschiffer, obgleich er noch nie aufgestiegen sei. Er schreibe ein Buch über Aeronautik, flüsterten sich die gebildeteren Leute zu. Das ganze Aussehen der Veranstaltung war ernster, als man es im Wurstelprater zu sehen gewohnt war.

Nun öffnete sich auch die Bude Nummer sechzehn, auf deren Podium sechs Zigeuner einen Tschardasch zu spielen begannen. Zwei kleine Jungen und ein größeres Mädchen, die Geschwister Irmas, schlüpften mit Tellern in den Händen durch das Gewühl und forderten die zurückweichende Menge mit einschmeichelnden Bitten und kecken Witzen auf, der Königin der Luft den schuldigen Tribut zu entrichten. Als die Musik das dritte Stück spielte, erschien sie denn auch in leichtem, phantastischem Anzug, hüpfte in den Ring, wie eine Sylphe von nicht ganz ätherischem Bau, und grüßte das laut aufjubelnde Publikum mit ihrem lieblichsten Lächeln. Dann, mit einemmal nahm sie eine ernste, geschäftsmäßige Miene an, während auch die Musik zu einer gemessenen, düsteren Weise überging, trat langsam an den Ballon heran und prüfte jedes der Seile, die ihn zurückhielten. Mit besonderer Sorgfalt untersuchte sie die dünnen Stricke, an denen, nur einen Fuß vom Boden, der leichte Korb hing, der kaum zwei Insassen aufnehmen konnte. Sodann zählte sie die zehn Sandsäckchen, die als Ballast bereitstanden, ließ sie in den Korb legen und sprach schließlich lachend, aber doch sehr eindringlich mit den Arbeitern, die an den Seilen standen, bereit, den Ballon loszulassen.

Alles war in Ordnung. Sie trat jetzt zu der Gruppe der Herren, die sich im Ring befanden und sie höflich begrüßten. Man wartete noch vergeblich auf den Grafen, der die Fahrt mitmachen sollte. Zweimal war schon ein Wagen bis an den Ring herangefahren, in dem man ihn vermutet hatte; aber es waren nur vornehme Zuschauer gewesen. Sogar ein junger Erzherzog war in der Nähe. Der Baron von Golaschek frohlockte bereits laut über seine gewonnene Wette und versprach, Irma die Hälfte des Betrags zu Füßen zu legen, wenn sie an dem geplanten Souper teilnehmen wolle, bei dem der Graf ganz gewiß nicht fehlen werde. Soupieren und Luftschiffen sei zweierlei.

Eine Viertelstunde ging vorüber; dann noch eine. Die Zigeuner spielten ihre Tänze durch und begannen wilde, melancholische Pußtalieder vorzutragen, die einen richtigen Magyaren aus dem Grab gezogen hätten; allein der Graf kam nicht.

Berblinger war bis jetzt dem beständig vor sich hin brummenden Vater gefolgt, der immer finsterer dreinsah. Die Zeit für seinen Nachmittagstrunk war längst vorüber und die ganze Welt war ihm zum Ekel. Sein junger Begleiter schien kaum in besserer Laune zu sein. Man hörte jetzt einzelne Rufe aus der dichtgedrängten, tausendköpfigen Volksmenge: »Aufsteigen! – Irma raus! – Aufsteigen!«

Der Geselle trat zu der Luftschifferin, die mit verschränkten Armen gegen das Seil lehnte und aufgehört hatte, zu lächeln.

»Er kommt nicht, dein Graf!« sagte er leise.

»Dann muß ich allein gehen«, versetzte sie. »Sie schimpfen schon.«

»Aufsteigen! – Zeit! – Aufsteigen!« kam es jetzt lauter, fast drohend selbst aus den vordersten Reihen der Zuschauer.

»Laß sie schimpfen!‹, sagte der alte Mann grimmig, der jetzt auch zu ihr trat.

»Hurra, er kommt nicht! Hab' ich's nicht gesagt?« krähte das dünne Stimmchen des Barons von Golaschek.

»Gib ihm noch fünf Minuten!« rief ein andrer der jungen Herren. »Dann erklären wir die Wette für entschieden.«

»Ich brauche nur Ballast«, sagte Irma zu Berblinger, gezwungen lachend. »Das ist alles, zu was mein Graf gut ist. Wieviel Säcke sind noch übrig, Vater?«

»Zu wenig – nur drei!« versetzte der Alte.

»Drei und Berblinger, das geht!« lachte die Luftschifferin wieder lustig. »Komm, Brechtle, zeig den Wienern, daß ein Ulmer Courage hat.«

Sie führte ihn an der Hand, immer lachend, gegen die Mitte des Rings. Die Herren klatschten und der Jubel wurde ansteckend. Alles klatschte.

»Der Graf! der Graf!« schrien sie, während Berblinger mit klopfendem Herzen an den Korb trat. Es war nicht Furcht vor dem Aufstieg. Was Irma tun konnte, konnte auch er tun. Es war etwas andres, Schmerzhafteres: wie wenn er sich losreißen müßte von allem was ihm lieb und teuer gewesen war, um in die leere Luft hinauszufliegen. Er war wie betäubt. Das Klatschen, der brausende Lärm ringsum war etwas allzu Ungewohntes. Es schwindelte ihm ein wenig.

Sie sprang in den Korb.

»Herein mit dir! Die ganze Welt soll sehen, wer mein Schatz ist!« rief sie fast leidenschaftlich und zog ihn an sich. Mit dem einen Bein war er schon im Korb.

»Los!« schrie der alte Mann.

In diesem Augenblick sah Berblinger über die Schulter Irmas hinweg mitten in das Gesicht Enderles, der ihn, bleich wie eine Wand, mit seinen weitaufgerissenen blauen Augen anstarrte. In solchen Augenblicken drängen sich Bilder zusammen, die ein halbes Leben bedeuten. Er sah Ulm, das Münster von unten bis oben. Den Pestilenziarius, den Turmwart; er sah Bockelhardts Werkstatt, den Franzosen am Boden, Gretle – sein Gretle –, die für ihn alles gewagt hatte, weinend, verlassen. Er wußte nicht, wie es kam, mit einem Stoß, der ihn fast zu Boden geworfen hätte, war er wieder aus dem Korb, welcher schon mannshoch über der Erde emporstieg.

»Brechtle! Brechtle!« rief Irma in einem Ton, den er zeitlebens nicht mehr vergaß, so qualvoll schien er ihm. Dann lachte sie laut auf und begann zwei Fähnchen, ein rotes und ein weißes, übers Kreuz zu schwingen, wie sie es auf dem Seil zu tun pflegte, wenn der Beifallssturm durch das Zelt tobte.

Daran fehlte es auch jetzt nicht. »Bravo, Irma! Hurra, Mira! Eljen! Evviva!« schallte es aus hundert Kehlen, während der Ballon gerade wie ein Pfeil und mit erstaunlicher Geschwindigkeit in die Höhe schoß. Alle Gesichter waren minutenlang nach oben gerichtet, wo die mächtige Kugel sich kaum mehr zu bewegen schien, aber immer kleiner wurde. Noch aber sahen scharfe Augen über den Rand des Körbchens hinweg das rote und weiße Fähnchen sich bewegen.

Der grämliche Alte hatte dem Ballon nicht lange nachgesehen und beschäftigte sich damit, die leeren Gasflaschen zusammenzustellen und Seile aufzuwenden. Berblinger war aus dem Ring getreten, lehnte an einem Baumstamm und starrte noch immer halb betäubt nach oben. Er merkte nicht, daß Enderle neben ihm stand.

Der dichte Kranz von Zuschauern löste sich auf und überströmte den Ring. Viele, dann aber immer weniger, sahen nach oben, die meisten machten sich gruppenweise auf den Weg, lachend und plaudernd, um andre Vergnügungen aufzusuchen. Bella, Irmas kleine Schwester, trat mit drei reichlich gefüllten Tellern an den Vater heran, der sich teilnahmslos aufrichtete und wieder einmal, diesmal länger, nach oben blickte. Der Ballon, für das bloße Auge nur noch ein kleines Kügelchen, hatte eine seitliche, nordwestliche Richtung eingeschlagen, stieg aber jetzt sichtlich fortwährend. Da plötzlich stieß der alte Mann einen rauhen, dumpfen Schrei aus und stürzte zu Boden. Da lag er, ausgestreckt, die gläsernen Augen nach oben gerichtet. Berblinger, wie die meisten Leute, die sich in der Nähe befanden, wollte auf ihn zustürzen. Aber im selben Augenblick warf auch er noch einen Blick nach oben und blieb stehen, zitternd, nach etwas greifend, sich zu halten. Er merkte noch immer nicht, daß er sich auf Enderle stützte.

Seine Augen hatten ihre Schärfe nicht verloren, obgleich ihm zumut war, als sähe er durch einen Schleier. Der Ballon hatte seine runde Form verloren; ein langer, im Sonnenlicht glühender Zacken bewegte sich über der kleinen Kugel, die sich zu senken begann, erst langsam, dann schneller, immer schneller. Jetzt glaubte er den Korb zu sehen, der wie ein Stein gerade herabkam. Darüber flatterte ein langes zerfetztes Ding, das der Ballon gewesen war. Dann löste sich seitlich ein dunkles Etwas los und stürzte weiter, für sich, schneller als das andre – mit rasender Schnelligkeit – bis das ganze Phantom hinter den nächsten Baumgipfeln verschwunden war.

Zwei Polizisten hoben den alten Mann auf, den sichtlich ein Schlaganfall niedergeworfen hatte, und die Arbeiter, die mit den Seilen beschäftigt gewesen waren, trugen ihn hinter die Bude. Die Zigeuner packten ihre Instrumente zusammen. Bella schluchzte laut, kniete auf den Boden und klaubte das Geld zusammen, daß sie im Schrecken verschüttet hatte. Entsetzt liefen die noch übrigen Zuschauer da- und dorthin und erzählten sich, was sie gesehen zu haben glaubten. Enderle führte Berblinger, der ganz willenlos zu sein schien und ihn mit verständnislosen Augen anstarrte, in den benachbarten Cafégarten und gab ihm einen Stuhl an einem leeren Tisch. Es war zufällig der Tisch, an dem die lustige Gesellschaft vor zwei Stunden gesessen hatte, und Irmas Stuhl. Berblinger legte beide Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme. Er wußte besser als die meisten, was geschehen war.

Der zu wenig belastete Ballon war höher gestiegen, als er hätte steigen sollen, und das schwache Seidenzeug war in der dünnen Luft geborsten. Die schöne Irma aber war jetzt ein unförmliches Häufchen Fleisch und Knochen und hatte eine Stunde hinter Florisdorf ein Loch in den sandigen Boden geschlagen, tief genug, sie zu begraben.


 << zurück weiter >>