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Vierter Teil

Auf der Wanderschaft

19. Das Bügeleisen

Sonnige Sommer- und Friedenstage waren über das Donautal hingegangen. Ahnungslos freuten sich die Bauern um Ulm der heranreifenden Ernte, von der sie wenig genug für sich einheimsen sollten, und die Kaufleute und Handwerker der Stadt ihrer wieder aufblühenden Geschäfte. Kaum einer bemerkte, wie sich am Horizont die Wolken ballten und wie weit hinten im Osten – oder war es im Westen? man wußte ja kaum mehr, was rechts und links, was oben und unten war – die Kriegsfurie ihre Fackel aufs neue in heimliches Feuer steckte, um sie unter die Tausende zu schleudere, die kaum begriffen, was ihnen geschah. Mit dem gleichen Staunen, mit dem man von ihm aus dem Fabelland Ägypten gehört hatte, vernahm man, daß der weltberühmt gewordene Korse im Begriff sei, seine siegreichen Heere nach England zu werfen. Um so besser. Das war weit weg und höchst interessant. Dem Himmel sei zu danken, daß der unruhige Geist, den die einen einen Halbgott, die andern eine Gottesgeißel nannten, dort eine Beschäftigung gefunden habe, welche die Ulmer in Ruh und Frieden besprechen konnten. Sie hatten vor wenigen Jahren genug gelitten, als sie noch vielgeplagte Reichsstädtler waren. Nun waren die gefährlichen Schanzen und Bollwerke größtenteils abgetragen, und unter dem Schutz Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht durfte man hoffen, sicher zu sein. Und während sie dies alles bei Früh- und Dämmerschoppen mit Behagen erörterten, ballten sich die schwarzen Wolken in Ost und West und die Kriegsfurie sah grinsend, wie ihre Fackel in den blutroten Kohlen, die nie ganz erloschen waren, wieder Feuer fing.

Der Kaiser von Rußland und der von Österreich – von Deutschland hieß man ihn noch ein Jahr lang mit unangenehm spöttischem Lächeln – wollten nichts von einem dritten im Bund, dem neugebackenen Kaiser der Franzosen, wissen. Noch einmal sollten die blutbefleckten eisernen Würfel entscheiden, wer Herr sei in Europa. Die Koalition gegen den Usurpator, in dem Tausende den ersehnten Befreier aus verrosteten Ketten sahen, kam im Sommer des Jahres 1805 zustande. Was ging das die Ulmer an? War man nicht gut bayrisch schon seit drei friedlichen Jahren, und war nicht zuversichtlich zu hoffen, daß Seine Durchlaucht zum mindesten neutral bleiben werde, so daß es an den wieder fleißig besuchten Biertischen die einen recht wohl mit den Franzosen, die andere mit den Österreichern halten konnten, ohne sich Zunge und Finger zu verbrennen. Sogar François und Kalbfell, der neue Geselle aus Österreich, schneiderten auf einem Arbeitstisch friedlich nebeneinander. Deutsche gab es außer in einigen verdrehten Köpfen, die Gedichte machten, überhaupt kaum mehr. Jedenfalls ging sie die Koalition auch nichts an, und jedermann konnte seinen kleinen Sorgen und Freuden ungestört nachgehen, als ruhiger Bürger und getreuer Untertan des kurpfalzbayrischen Generallandeskommissariats von Schwaben.

Berblinger war in aller Form Geselle geworden. »Fast etwas zu früh«, brummten beide, der Obermeister Knöppel und Bockelhardt. Allein bei seiner Intelligenz, die zunftbekannt geworden war, konnte man fünf gerade sein lassen. Alt genug war er ja, wenn auch keines Meisters Sohn, und der Rat Schwarzmann, der sich neuerdings mehr um seinen Neffen zu kümmern schien, hatte es ausdrücklich gewünscht und mit offener Hand das Nötige beigesteuert, um die Kosten eines würdigen Gesellenschmauses zu decken. Die Hälfte der Herren Schneidermeister mußten von ihren Frauen darüber aufgeklärt werden, wann und wie sie nach Hause gekommen waren, was nicht ohne erregten Meinungsaustausch geschah, weil die Herren von nichts wissen wollten als von dem Versprechen, an einer Nachfeier teilzunehmen. Dies verdiente alle Anerkennung, um so mehr, als der Herr Rat wenige Tage zuvor den Grafen Arco, den Generalkommissär, und den neuen Bürgermeister Sautter in einer festlich geschmückten Zille persönlich nach Elchingen geführt hatte, wo die hohen Herren dem Abt Robert einen Besuch abstatten wollten. Man mußte das dem Schwarzmann lassen: Was er in die Hand nahm, hatte Hand und Fuß, und nach der Nachfeier zum Gesellenschmaus des jungen Berblinger konnte er darauf rechnen, daß bei der nächsten Wahl in den Kleinen Rat, der freilich nicht mehr viel zu sagen hatte, obgleich er jetzt Magistratsrat hieß, alle Stimmen, über die die Schneiderzunft verfügen konnte, auf den Oberzunftmeister der Schiffer fallen würden.

Schuld an dieser Wendung in Berblingers Lebenslage war eigentlich eine untergeordnete Persönlichkeit: der alte Pestilenziarius. Er war in jener Nacht, in der Gotthilf gestorben war, ohne einen Augenblick zu verlieren herbeigeeilt, hatte für Gretle Worte gefunden, die wie Balsam in ihr wundes Herz fielen, hatte die Bockelhardts zur Vernunft gebracht, die zuerst in lautes Jammern und Schimpfen über die Ungebührlichkeit ausbrechen wollten, in ihrem Hühnerstall zu sterben, und stand dann Brechtle zur Seite – für ihn verblieb Berblinger ›Brechtle‹ zeit seines Lebens –, bis sein Leidensgenosse still und friedlich in trockener Erde gebettet war. Nicht ganz passend erschien es dem teilnehmenden Taubengäßchen, daß sich zu den drei Leidtragenden, die dem ärmlichen Sarge folgten, ein vierter gesellte: der Schirmmacher, der tiefgebeugt und schluchzend hinterherlief. Er hatte sich für den schweren Gang zwar reichlich zu stärken gesucht, war aber trotzdem durch den, wie er meinte, ganz unerwarteten Tod seines Lehrlings so erschüttert, daß ihn der Pestilenziarius vom Grabe wegführen und an die Kirchhofmauer lehnen mußte. Nur so konnten die wenigen Worte und das kurze Gebet über dem Grabe des Dahingegangenen ungestört gesprochen werden, das ein junger Vikar fast allzu eilig und geschäftsmäßig vortrug. Den Sarg und die Sporteln bezahlte das Fundelhaus, das die Taxe nicht um einen Heller zu überschreiten pflegte. Dafür konnte man nicht viele Worte machen.

Von diesem Tag an hatte Berblinger seinen väterlichen Freund wiedergefunden und dieser eine Aufgabe, nach der er sich schon längst heimlich sehnte. Er begann ihre Lösung mit einer großen Tat, indem er sich einen neuen Rock bei Bockelhardt bestellte, und brachte es dahin, daß Berblinger sein Gesellenstück daraus machen durfte. Sowohl wegen der zahlreichen und eigenartigen Taschen, die der Magister verlangte, als auch wegen seines nicht ganz normalen Wunsches erklärten die drei Aufsichtsmeister das Ergebnis für zwar nicht ganz zunftgemäß, aber trotzdem für genügend. Dann aber ließ der Pestilenziarius dem Herrn Rat keine Ruhe mehr, bis sich dieser in Anbetracht der musterhaften Führung des mißratenen Neffen bereit erklärte, sämtliche Kosten seiner Freisprechung zu berichtigen, und so wurde Berblinger vor offener Lade ehrlicher Schneidergeselle und ein freier Mann.

Es ging ihm zunächst wie dem Enderle. Er hätte nach Handwerksgebrauch nunmehr die Wanderschaft antreten und sich mindestens drei Jahre lang arbeitend, lernend und wandernd in der Welt umsehen sollen; eine Sitte, die, wie man heute sagen würde, ihre große soziale Bedeutung hatte und dem Handwerk seinerzeit nicht nur seine Geschlossenheit, sondern auch eine Weitsichtigkeit und ein Machtgefühl gegeben hat, die ihm heute trotz aller Verkehrsmittel verlorengegangen sind und vielleicht nie wiederhergestellt werden können. Aber Berblinger blieb vorläufig in Ulm, blieb sogar bei seinem alten Meister Bockelhardt; aus vielen Gründen, wie er sich selbst und andern vorlog, aus nur einem, wenn er die Wahrheit hätte gestehen wollen. Anfänglich war der Meister wohl damit zufrieden, denn der Geselle Berblinger war nicht weniger brauchbar als der Lehrjunge. Im Lauf des Sommers aber begann aus unerklärlichen Gründen, wie Bockelhardt meinte, sein und in der Tat alles Geschäft in der Stadt schlechter zu gehen, so daß drei Gesellen zuviel wurden. Draußen aber stand es nach den Berichten zugewanderter Kunden zum mindesten ebenso schlecht, weil niemand dem morgigen Tag traute. Wozu also ohne Zwang nach dem Wanderstab greifen? Das hatte keinen Sinn.

Dazu war das tägliche Leben ganz erträglich geworden. Selbst bei der langweiligsten Arbeit, wenn er eine Weste oder das Rückenstück eines Staatskleids, wie es jetzt Mode geworden war, pikierte, unterhielt ihn das halblaute Geflüster François' und des Österreichers, die sich über die Weltlage stritten, so daß der gutmütige Kalbfell und der heißblütige Halbfranzose oft genug zu den Ellen gegriffen hätten, wenn der Altgeselle dies nicht zuvor und in unzweideutigerer Weise als die beiden andern getan hätte. Der Österreicher ließ seinem Kaiser und seiner Kaiserstadt nichts geschehen, der Franzose pochte laut auf den Helden des Jahrhunderts, auf den Befreier Europas, den Vernichter der alten Tyrannei und der hundert Tyrannen, die sich gegen ihn erhoben. »Was wollt ihr denn?« fragte er ärgerlich. »War nicht Ulm auch eine Art von Republik, und was seid ihr jetzt? Es wird schlimmer statt besser, wenn euch der große Kaiser nicht erlöst.« Kalbfell und Joseph wollten davon nichts wissen. Ordnung müsse sein, und eine Kaiserstadt wie das alte Wien werde Paris noch lange nicht, wenn auch die Schneider dort mehr gälten als hier. Leben und leben lassen, das sei die Hauptsache, und Gemütlichkeit. Vom Geschrei könne niemand leben. François' Zunge bewährte jedoch ihre Überlegenheit, und auch in der Gesellenherberge hatte der Elsässer mehr als die Hälfte der Kunden hinter sich. Das war im ›Goldenen Hecht‹. Was in der Spelunke ›Zur roten Lade‹ vorging, wußte Berblinger nicht. Er hatte François zwei- oder dreimal begleitet. Dann wurde ihm das wirre Geschwätz der ›Patrioten‹ zu langweilig. Er glaubte seine freie Zeit besser verwerten zu können.

Da war Krummacher. Manche Stunde nach Feierabend oder an Sonntagen saß er wieder in dem kleinen Stübchen am Münster, dem Magister gegenüber, die grüne Studierlampe zwischen beiden. Berblinger las in einem alten Physikbuch, das ihm sein Freund aus dem Stadtarchiv verschafft hatte, während dieser an seiner Chronik schrieb und mühsam feststellte, wieviel Speck und Grütze den Gesellen in den alten Bauhütten zugemessen wurde oder ob der dritte Baumeister am Münsterturm in Straßburg oder Regensburg gelernt habe. Auch suchte Berblinger seinen Euklid wieder hervor und löste auf Fetzchen halbverschriebenen Papiers Aufgaben, von denen sich der alte Grieche nicht hatte träumen lassen, da sie sich in fast genialer Weise an das Aufzeichnen eines Rocks oder einer Hose anschlossen. Kürzlich, zum erstenmal wieder seit drei Jahren, skizzierte er einen Ballon mit Flügeln, die ein Mann mittels eines Tretrads in Bewegung setzte. Wer weiß, fiel ihm plötzlich ein, ob sich nicht nach Art von Gotthilfs Schirmen ein guter Flügel anfertigen ließe. Vielleicht ein fliegendes Tretrad! Mit heißem Kopf und fast ohne Abschiedsgruß verließ er diesmal den Pestilenziarius, der ihm kopfschüttelnd nachsah.

Wunderlich erschien ihm, wie oft ihn der Magister mit sichtlicher Ängstlichkeit bat, den Turmwart nicht zu besuchen. »Noch nicht!« Er sei krank und wolle niemanden sehen. Dabei deutete Krummacher an den Kopf und legte seine Stirne in so krause Falten, daß Berblinger wohl sah, wie ernst es ihm war. Ärgern, betrüben aber wollte er seinen väterlichen Freund nicht und hatte deshalb dem Drang, den Mann aufzusuchen, der ihn behext hatte, wie der Pestilenziarius es nannte, bis jetzt widerstanden. Es mußte sich ja doch wieder einmal fügen.

Aber all das war es nicht, was ihn vom Wandern abhielt; das war natürlich Gretle. Sie sprach kein Wort darüber, fragte nie: Wann willst du gehen? Wirst du bleiben? Aber sie hielt ihn fest mit Banden, die sich in der bittersten Stunde ihres Lebens um beide geschlungen hatten. Es war keine stürmische Jugendliebe, die den achtzehnjährigen Jungen und das sechzehnjährige Mädchen zueinander zog: Es war ein stilles glückliches Gefühl der Zusammengehörigkeit in einer fremden, freudlosen Welt. Jedes fühlte sich wie geschützt in Gegenwart des andern; geschützt und schützend. Sie bedurften vorderhand nichts weiter, selbst kein Liebesgeflüster. Es schien alles so selbstverständlich, und in dieser Selbstverständlichkeit lag ein tiefes, warmes Genügen. Sie hatten und machten keine Pläne; als ob sie wüßten, daß sich alles von selbst machen mußte, wie es sich von selbst gemacht hatte. Der Schatten des toten Bruders und Freundes lag über dem Paar, wehmütig und freundlich. Zwei Gräber auf dem Kirchhof vor dem Frauentor waren in diesem Sommer sorgfältiger gepflegt als alle andern. Es war, als ob sie nichts weiter bedürften. Daß Gretle hübsch wurde, sah Berblinger manchmal mit plötzlich aufleuchtenden Augen. Sie fuhr ihm dann lächelnd mit der Hand über die Augen und nahm die schon fast zu großen Zwillinge auf den Schoß, die stürmisch nach ihrer »Geschichte« schrien. – Manchmal, selten genug, sah er wohl auch aus der Ferne die zierliche Gestalt Lucindens. Dann klopfte sein Herz heftig und er ärgerte sich. Das war vorüber, diese Torheit!

Die Weltgeschichte aber ging ihren blutigen Gang und nahm den Weg diesmal in geradester Richtung über Ulm. – Armes Ulm; arme Gesellen, die nicht zu rechter Zeit nach dem Wanderstab gegriffen hatten!

 

Man sprach in Gassen und Gäßchen davon. Die rabiatesten Stammtischgäste im ›Wilden Mann‹ und im ›Goldenen Hecht‹, in der ›oberen‹ und der ›unteren‹ Stube wurden ängstlich. Die Geschäfte gingen immer schlechter, als ob kein Mensch mehr einen Anzug brauchte. Die Meisterin, die mit der ganzen Nachbarschaft auf dem Kriegsfuß zu leben pflegte, wobei die Verteidigung der Zwillinge eine große Rolle spielte, knüpfte freundschaftliche Verbindungen an und machte mit sämtlichen Nachbarinnen nach beiden Seiten, gegen Österreich und Frankreich hin, Front. Man sei nun einmal bayrisch und wolle in Ruhe bleiben. Der Pestilenziarius, der sich sonst wenig genug um Politik und Welthandel kümmerte, vernachlässigte seine Münsterchronik und begann ein Tagebuch zu führen.

Am Montag den 23. September machte François einen Blauen. Nachmittags blieb auch Kalbfell weg. Ein französischer General sei im Baumstark abgestiegen, habe ganz ungeniert die Festungswerke besichtigt und sich sehr unzufrieden darüber ausgesprochen, daß sie noch nicht völlig geschleift seien, wie es doch schon vor fünf Jahren vereinbart gewesen sei. – In Stuttgart sei das Gerücht verbreitet, Napoleon habe seinen Plan aufgegeben, die Engländer anzugreifen. Seine Armee sei in vollem Anmarsch gegen den Rhein. Dort werde er nicht stehenbleiben. Man sehe das an dem General im Baumstark. »Jetzt kann's bös werden!« sagten die einen. – »Jetzt geht's den Tyrannen an den Kragen«, flüsterten die andern. – »Seht euch nur den neuen Bürgermeister an! Sie zittern schon in ihren Schuhen.« – »Aber mit wem wird's unser Kurfürst halten?« fragten alle. – ›Wenn man nur wenigstens wüßte, wer's gewinnt!‹ dachte mit hundert andern verstörten Geistes der Rat Schwarzmann und suchte dem General Berthier im Baumstark einen Besuch abzustatten, wurde aber nicht vorgelassen. Exzellenz seien im Begriff wieder abzureisen.

Am folgenden Tag erschien eine Proklamation des Generallandeskommissariats, welche die sofortige Ziehung und Aushebung der Rekruten für das Jahr 1805 anordnete. In derselben erklärte der Kurfürst, seine landesväterliche Fürsorge für das Wohl seiner getreuen Untertanen veranlasse ihn, zu bestimmen, daß niemand unter achtzehn noch über sechsunddreißig Jahren heranzuziehen sei und daß die Dienstzeit von zehn auf acht Jahre herabgesetzt werde. Die Dankbarkeit der getreuen Untertanen war mäßig, der Schrecken groß. Man hatte die Aushebung nicht vor Ende Oktober erwartet. Es wurde ernst. Und der dumme Berblinger! hieß es im Taubengäßchen. Warum ist der Schafskopf nicht gelaufen, als es noch Zeit war? Konnte er nicht an Enderle sehen, wohin das führt?

Schon acht Tage später mußten die Leute auf das Schwörhaus zum Losziehen. Einige der jüngsten heulten laut, als sie ihre Nummer aus dem verhängnisvollen Beutel zogen. Auch Berblinger – es muß gesagt sein – griff zitternd in den Sack, brachte aber eine so hohe Nummer zum Vorschein, daß er ohne weiteres heimgeschickt wurde. Als sie nach dem Abendessen beisammensaßen – man war geselliger in diesen bösen Zeiten als früher – und ihm François lächelnd Glück wünschte, daß er kein Vaterland zu verteidigen habe, drückte er unter dem Tisch Gretles Hand und sagte: »Österreicher oder Franzosen – ich werde mich schon wehren und weiß für wen.«

Auch den andern ging es besser, als sie gefürchtet hatten. Am Nachmittag des nächsten Tages marschierten alle bayrischen Truppen, die in der Stadt lagen, ab, um in Franken zum Heer des Kurfürsten zu stoßen, das sich dort zu sammeln begann. An die neuen Rekruten dachte in der Verwirrung niemand mehr. Der Kurfürst, flüsterte man sich heimlich zu, denn es war ja keinem Menschen mehr zu trauen, sei aus München geflohen und ziehe mit seinen Truppen den Franzosen entgegen, die aus Hannover kämen. Nun wußte man erst recht nicht, wer Freund oder Feind war. Jedenfalls überließ er die Ulmer ihrem Schicksal und wollte mit der Verteidigung der Stadt nichts zu tun haben.

Mit den Österreichern kam der junge Erzherzog Ferdinand als Höchstbefehlender und der Feldmarschall von Mack. Jedes Haus füllte sich mit Soldaten. Bockelhardt bekam vier Infanteristen vom Regiment Reisch und drei Dragoner ins Quartier. Die Dragoner schliefen auf dem Arbeitstisch, die Infanterie in des Meisters Schlafstube. Dieser wanderte zu den Gesellen hinauf, die Meisterin richtete sich in Gretles kleiner Kammer ein. Die Zwillinge waren außer sich vor Vergnügen. Aber selbst Kalbfell, der sich anfänglich seiner Landsleute gefreut hatte, kam nach zwei Tagen mit ihnen nicht mehr zurecht. Zwei von der Infanterie sprachen nur kroatisch und einer zerschlug am dritten Tag der Meisterin beste Bratpfanne, um sich verständlich zu machen.

Nun wurde es auch den Ulmern klar, auf wessen Seite der Landesherr stand. Die Requisitionen begannen in bitterem Ernst. Zuerst Pferde, dann Heu und Stroh, dann Korn, Mehl, Fleisch. Man mußte das Kirchle am Münster in ein Heumagazin umwandeln. Es half nichts, zu versichern, daß die verlangten Pferde im ganzen Ulmer Gebiet nicht aufzutreiben seien. Man stellte den kurfürstlichen Rentamtmann Mauer und den Herrn Bürgermeister Sautter so lange unter Arrest, bis die Pferde da waren, und bezahlte mit Wiener Banknoten, die kein Mensch nahm. Auch wurden sofort aus den benachbarten Dörfern viertausend Bauern und zweihundert Gespanne zusammengeholt, die Tag und Nacht arbeiten mußten, um neue Schanzen aufzuwerfen und die alten, soweit es möglich war, wiederherzustellen. Bei schwerer Strafe sollten die Müller nur für das Militär mahlen, die Bäcker für die Soldaten backen. Die Schuster desgleichen. Nur Kleider brauchte niemand, obgleich die Leute in Fetzen umherliefen. Alles sah schon danach aus, als ob man mitten in einem Kriegslager lebte, und der Krieg war noch nicht einmal erklärt!

Das kam jedoch am 23. September, und schon fünf Tage später hörten die Ulmer, daß Napoleon über den Rhein gegangen sei. Viele dachten daran, sich auf die Flucht zu machen. Aber wohin? Von Osten her wälzten sich österreichische und russische Truppen, von Westen und Norden her die Franzosen. Wo die Bayern hingekommen waren, wußte niemand zu sagen; ebensowenig mit Bestimmtheit, wer Freund, wer Feind war. Schwarzmann war in der größten Not, abgesehen davon, daß er dreißig Mann im Quartier hatte.

So stand's nach Krummachers Tagebuch am 28. September. Am 29. rückten die Franzosen schon in Stuttgart ein und man hörte, der Kurfürst von Württemberg habe sich zu Ludwigsburg mit dem Kaiser Napoleon verständigt und ihm zehntausend Mann zugesagt. Da werde den Bayern wohl nichts andres übrigbleiben, meinten die klügsten Politiker der Stadt, und damit sei Ulm eigentlich schon in Feindeshänden. Einen Vorteil habe es immerhin, daß der Feind wenigstens Deutsch spreche. François, der nur noch zum Essen nach Hause kam, weil es in den Herbergen nichts mehr zu nagen und zu beißen gab, machte ein vergnügtes Gesicht und tröstete die Meisterin, die Franzosen würden alles bald genug befreien und in kurzer Zeit zum besten wenden.

Nun folgten einige Tage voll wirrer Gerüchte. Man wußte auch von den Franzosen nichts, der Schneider Bockelhardt so wenig als der General Mack und der arme junge Erzherzog, den man mit einem prächtigen Federbusch und einem sehr langen Gesicht durch die Gassen reiten sah. Seitdem er in Ulm war, hatte sich wenigstens die weibliche Hälfte des Taubengäßchens mit großer Einmütigkeit auf die österreichische Seite geschlagen. Nur Berblinger arbeitete noch von Zeit zu Zeit, um seiner eignen Ungeduld Herr zu werden. Böse Kindererinnerungen stiegen in ihm auf, und auch er wußte nicht, ob er den dumpfen Zorn, der in ihm arbeitete, gegen die Österreicher oder gegen die Franzosen zu kehren habe. Niemand sah in diesen vaterlandslosen Zeiten einen Lichtblick, und die Besten trieben untätig einem sinnlosen Untergang entgegen.

Am 8. Oktober glaubte man in Ulm zum erstenmal wieder, allerdings aus weiter Ferne, Kanonenschläge zu hören. Alles lief auf die Gassen und die halb abgetragenen Wälle und Schanzen. Es kam nicht von Westen, wie erwartet, sondern von der entgegengesetzten Richtung, von Günzburg her. Dort hatte, von Norden kommend, General Ney Österreicher angegriffen, die, übel zugerichtet, am folgenden Morgen auf Ulm zurückgingen. Es hieß jetzt, der Kaiser sei in Donauwörth. Das war ja ganz verkehrt, sagten die Ulmer entrüstet. Er müsse noch in Ludwigsburg bei seinem Freund von Württemberg sein, wenn er nicht schon den Rückzug angetreten habe, was man in der Umgebung des Herrn Feldmarschalls mit Bestimmtheit versichere. Noch am Abend erhielt Bockelhardt weitere vier Mann ins Quartier, einen mit einer abgeschossenen Hand, der die ganze Nacht stöhnte, daß kein Mensch zur Ruhe kommen konnte. Dann aber hörte das Einquartieren in den überfüllten Wohnungen auf, obgleich noch immer neue Truppen an den beiden Ufern der Donau heraufkamen. Die Soldaten biwakierten in den Straßen und auf den Wällen, bettelten drohend von Haus zu Haus und nahmen, was eßbar war, ohne lange zu fragen. In der Herbelgasse fingen sie an, Türen und Fensterläden abzureißen, um Wachtfeuer zu unterhalten, denn das Wetter war naß und kalt und die Montur der Leute in entsetzlichem Zustand.

Nun aber kam ein Tag, an dem halb Ulm wieder Mut schöpfte, der 11. Oktober. Der Kanonendonner von Nordosten, von Albeck und Jungingen her kommend, war lauter geworden. Am Abend aber wurden neunhundert gefangene Franzosen durchs Frauentor gebracht, und man erfuhr, daß der Feind, der von Norden her gegen Elchingen vorzudringen versuchte, zurückgeschlagen und besiegt worden sei. Etwas mußte wohl wahr dran sein, denn am andern Morgen, es war Freitag, erhielt der größte Teil der in Ulm liegenden Truppen Befehl, sich marschbereit zu halten, um gegen Elchingen zu marschieren, das allerdings von den Franzosen schon besetzt sei, die dort von Süden her zu kommen schienen. Es galt, sie wieder hinauszuwerfen wie aus Jungingen und Albeck. Das hatte Kalbfell von seinen Landsleuten, die eifrig ihre Tornister mit allem bepackten, was sie an Eßbarem ergattern konnten. Es war wenig genug.

Er erzählte es François mit dem behaglichen Gefühl kommender sicherer Triumphe. Ungewöhnlich still hörte ihm der Elsässer zu und verschwand nach dem Abendessen. Man sah ihn drei Tage lang nicht wieder. Später rühmte er sich ohne Scheu, er habe die Schlacht von Elchingen gewonnen, denn er sei es gewesen, der dem Kaiser die Nachricht gebracht habe, was die Österreicher im Schild führten, und sei um ein Haar dafür gehängt worden. Daraus mache er sich nichts. Er habe den größten Helden des Jahrhunderts Auge in Auge gesehen. Das sei einen Strick wert. Anfänglich tat er sich viel darauf zugute, daß er seine Besprechung mit dem Kapitän eines Infanterieregiments nicht in eine unmittelbare Begegnung mit dem Kaiser umdichtete, sondern nur den General Ney einführte. Später glaubte er selbst, daß die Besprechung mit dem Sieger von Elchingen stattgefunden und er schon deshalb Grund genug habe, auf die erste Schlacht, bei der er persönlich beteiligt war, mit ungemessenem Stolz zurückzublicken.

Seine Mitwirkung bestand im wesentlichen allerdings nur darin, daß er zwischen den sich bekämpfenden Truppenteilen in großer Verwirrung hin und her floh, um schließlich im Wald von Talfingen die rettende Nacht abzuwarten und sich dem Rückzug der Österreicher anzuschließen.

Was er miterlebt hatte, ohne die Vorgänge des Tages im entferntesten zu begreifen, war kurz folgendes. Die Österreicher erreichten Elchingen am Abend des Unglückssonntags den 13. Oktober, teilweise aber auch erst am folgenden Morgen, da ihre Artillerie in den grundlosen Wegen entlang der Donau steckengeblieben war, und machten am Morgen des Montags einen Versuch, den Marsch gegen Langenau in östlicher Richtung fortzusetzen. Hierbei stieß ihre Vorhut auf französische Regimenter, mit denen sie sich in ein Gefecht verwickelten, während man in Elchingen rechtzeitig bemerkte, daß die Hauptarmee des Kaisers im Begriff war, von Süden her die Donau zu überschreiten und ihnen in die Flanke zu fallen. Der Vormarsch wurde deshalb aufgegeben und zunächst der Übergang über die Donau verteidigt, den Marschall Ney, der künftige Herzog von Elchingen, auf der notdürftig hergestellten Brücke mit stürmischer Tapferkeit erzwang. Jetzt gelang es den Franzosen, trotz hartnäckiger Verteidigung Dorf und Kloster Elchingen zu erstürmen, während sich die Österreicher gleichzeitig von Norden her im Rücken bedroht sahen. Dies veranlaßte den allgemeinen Rückzug ihres Heeres auf Ulm, der in Verwirrung und mit schweren Verlusten ausgeführt wurde. Der größere Teil ihrer Artillerie, die das Schlachtfeld überhaupt nicht erreicht hatte, stak noch immer in den schmalen versumpften Wegen zwischen der Donau und den Höhen bei Talfingen und wurde dort die leichte Beute des nachdrängenden Feindes. Mit der völligen Einschließung Ulms endete einer der ruhmvollen Tage der französischen Armee, an dem sich die Tapferkeit der Truppen und das Feldherrngenie ihres Kaisers gleich bewundernswert gezeigt hatten.

Noch in derselben Nacht verließ der Höchstkommandierende des österreichischen Heeres, Erzherzog Ferdinand, mit General Fürst Schwarzenberg und zweitausend Reitern die Stadt und erreichte ›glücklich‹ über Nördlingen und Nürnberg sein heimatliches Böhmen.

Entsetzt brachte Gretle am folgenden Morgen vom Bäcker in der Frauengasse statt eines Brotlaibs die Proklamation des Feldmarschalls von Mack, der seinen Soldaten und den Bürgern von Ulm mitteilte, daß er die wiederhergestellte Festung bis auf den letzten Blutstropfen verteidigen und der erste sein werde, sich bei der zu erwartenden langen Belagerung mit Pferdefleisch zu begnügen. Als sie das hörten, brachen die Zwillinge, die bis jetzt die Schrecken des Kriegs heiteren Gemüts getragen hatten, in lautes Weinen aus und protestierten einmütig gegen eine derartig unmenschliche Fortsetzung des Kampfs. Sie beruhigten sich jedoch, als Gretle weiterlas und sich zeigte, daß bei strenger Strafe den Bürgern anbefohlen wurde, jedem Soldaten täglich gute Hausmannskost sowie ein Maß Bier oder ein halbes Maß Wein zu verabreichen. Da konnten sie ja mitessen, bis der böse Feind abzog, was, wie die Proklamation zuversichtlich versprach, in wenigen Tagen der Fall sein müsse.

Zu Mittag wollte die gute Hausmannskost noch nicht eintreffen. Dagegen erschienen fünf von den sieben Quartiersleuten der Bockelhardts. Sie sahen entsetzlich aus: schwarz von Pulver und über und über mit Schmutz bedeckt, denn sie hatten zwei Nächte auf dem nassen Boden geschlafen. Zwei fehlten; sie seien tot oder gefangen. Die Überlebenden wollten jetzt etwas zu essen und Ruhe haben, Belagerung oder nicht! Gleichzeitig mit dieser Erklärung meldeten sich sechs Jäger, Tiroler, und verlangten Unterkunft. Die alten Quartiersleute machten zwar Anstalt, ihr Haus mit Waffengewalt zu verteidigen, doch kam es zu keinem Zusammenstoß, denn eben als derbe Worte und Flüche am hitzigsten hin und her flogen, krachten Schüsse vom Michelsberg her, Trompeten bliesen selbst im Taubengäßchen, und die sechs Jäger stürzten schimpfend zum Haus hinaus. Von der Frauenstraße her hörte man gleich darauf ein furchtbares Geschrei. Dort hatte die erste Kugel eingeschlagen und lag, nachdem sie aus der Ecke des Baldingerschen Hauses ein Mauerstück herausgeschlagen hatte, mitten auf der Straße, neben einem heulenden Jungen, der von einem Stein getroffen worden war. Überall flüchteten jetzt die Leute über Hals und Kopf in die Keller, und auch im Taubengäßchen wurden die Schrecken des Tags von Kellerloch zu Kellerloch über die Gasse weg besprochen. Eine Stunde später hörte die Beschießung auf, begann aber um fünf Uhr abends aufs neue, so daß die Bockelhardtsche Familie, wie hundert andere, zum zweitenmal den Keller beziehen mußte. Sie begannen jetzt, sich drunten häuslich einzurichten.

Berblinger, der sich in begreiflicher Aufregung in der Stadt herumgetrieben hatte, kam gegen acht Uhr nach Hause, voll von gruseligen Nachrichten: Die Herbelbrücke stehe in hellen Flammen, und die Brücke am Frauentor werde noch heute gesprengt werden, denn alle neuen Schanzen auf dem Michelsberg seien schon jetzt in den Händen der Franzosen. Die Österreicher hätten ihr möglichstes getan und sich glücklich in die Stadt gerettet. Eine Abordnung, an der Spitze der Herr Bürgermeister, sei vom Rathaus zu General Mack abgegangen, um ihn anzuflehen, Leben und Eigentum der Bürger nicht völlig preiszugeben. Der Seifensieder Naumann erzähle, sie hätten den Herrn Feldmarschall bei Tisch getroffen, aber noch kein Pferdefleisch bemerkt. Dagegen sei er sehr verstört gewesen und habe ihnen erlaubt, morgen eine Deputation an den Kaiser Napoleon zu senden und um Schonung zu bitten. Man habe sich deshalb sofort an den Gymnasiallehrer und Zeichenmeister Schreiber gewendet, der von Amts wegen der französischen Sprache mächtig sei. Er weigere sich aber vorläufig mitzugehen, mit der Begründung, daß er wohl in friedlichen Zeiten französischen Unterricht erteile, für den Kriegsfall hingegen nicht angestellt sei.

Der Zeichenmeister ging schließlich doch; die Deputation aber erreichte den Kaiser nicht, da er noch in Elchingen war, sondern wurde auf der Frauensteige von General Ney abgefertigt. Dieser sagte ihnen mit unerwarteter Höflichkeit: Man erwarte, daß sich die österreichische Armee morgen ergeben werde. Die Verhandlungen seien im besten Gang, und da die Stadt, wie der Kaiser wohl wisse, seinem Freund und Verbündeten, dem Kurfürsten Max Joseph von Bayern, gehöre, so habe sie nicht nur nichts zu befürchten, könne im Gegenteil auf möglichste Berücksichtigung ihrer Lage rechnen. Dies war ein großer Trost für die geängstigte Bürgerschaft. Bockelhardt und der ganze Keller konnten nicht begreifen, wie Berblinger diese guten Nachrichten mit allen Anzeichen eines unvernünftigen Zorns nach Hause bringen konnte.

In der Tat verlief der Mittwoch ruhig, abgesehen von dem häßlichen Freudengeschrei, das da und dort die Soldaten ausstießen, wenn sie wieder einen Laib Brot gefunden oder einen Weinkeller aufgebrochen hatten. Man konnte es ihnen kaum verargen; die Leute sahen zu jammervoll aus, und obgleich der Bürgermeister Sautter und der Rentamtmann Mauer wieder Stubenarrest hatten, war es unmöglich gewesen, die verlangten Rationen bis Mittag zu liefern. Es fehlte jetzt so ziemlich an allem, und wer noch etwas zu verstecken hatte, versteckte es. Bei dieser Gelegenheit lernte Bockelhardt den Wert seiner Frau schätzen. Der Tag war für ihr späteres eheliches Leben von dauerndem Einfluß. Er wußte seitdem, daß Kapitulieren unter Umständen eine Pflicht kluger Menschlichkeit sein könne; auch Frauen gegenüber.

Zum größten Erstaunen der Ulmer rückten am folgenden Tag gegen Mittag etliche tausend Franzosen ein, besetzten drei Tore und die Hauptwache und gingen ohne Verzug an die Arbeit, die halbverbrannte Brücke am Herbeltor wiederherzustellen. Auch die Österreicher kamen von den Wällen in die Stadt und suchten ihre alten Quartiere wieder auf. Namentlich machten sich die sechs Jäger, die sich mit den Dragonern verständigt hatten, bei Bockelhardts bequem und ermahnten die Familie, die Wohnung im Keller nicht zu verlassen, da das Schießen mit jedem Augenblick wieder beginnen könne. Die Werkstatt wurde von drei Franzosen besetzt, die den Dragonern lachend die Tür wiesen und sofort freundschaftliche Beziehung zu Gretle anzuknüpfen suchten. Jeder Winkel im Haus war belegt und bildete eine kleine Festung mit feindlicher Besatzung. Berblinger ging mit finsterer Miene aus und ein und wagte nicht, sich weit vom Haus zu entfernen. Er verstand die Franzosen nicht. Etwas Gutes aber war es jedenfalls nicht, was sie an Gretle hinparlierten.

Am Freitag abend wußte man in der Stadt, daß die Übergabe vereinbart war und die ganze österreichische Armee die Waffen strecken werde. General Berthier und Feldmarschall Mack hatten die Bedingungen geregelt und unterschrieben. Man konnte aufatmen, aber es war noch lange ein qualvolles Atmen.

Über die notdürftig wiederhergestellte Brücke am Herbeltor marschierten vom frühen Morgen des 20. Oktober an Regiment um Regiment der Franzosen in die Stadt und durch das Frauen- und Neue Tor nach dem Michelsberg. Dort, entlang dem kahlen Hang des die Stadt beherrschenden Hügels, stellten sie sich auf. Dann erschien der Kaiser, den die österreichischen Offiziere auf der felsigen Anhöhe des Kienlesbergs, einem Vorsprung an der Westseite des Michelsbergs, erwarten mußten. Halb Ulm strömte hinaus, um das unerhörte Schauspiel mit anzusehen. Auch Berblinger, begleitet von seinem Freund, dem Magister Krummacher, folgte dem Zug. Bleich vor Erregung sah er den kleinen großen Mann im einfachen grünen Rock, weißen Beinkleidern und hohen Stiefeln, ein Hütchen auf dem Kopf, umgeben von den ordengeschmückten, goldstrotzenden Generalen von Österreich, hinter ihm die höchsten Offiziere der französischen Armee.

Unmittelbar nach dem letzten französischen Regiment, das durch das Frauentor passierte und rechts nach dem Gaisberg abschwenkte, kam das erste der Österreicher, das Regiment Manfredini, und wandte sich wie alle folgenden nach links, indem es an der langen Reihe der französischen Reiterei hinmarschierte, die ihnen den Rücken zukehrte. Am Fuß des Kienlesbergs legten sie ihre Waffen nieder und marschierten dann durch das Neue Tor in die Stadt zurück, ein unordentlicher jammervoller Zug von vierundzwanzigtausend Menschen. Regiment um Regiment folgten sich und legten bis gegen Abend nicht weniger als fünfzig Fahnen dem Kaiser zu Füßen.

Der Pestilenziarius, der jeden Stein und Strauch auf dem Michelsberg kannte, hatte Berblinger an der Westseite des Hügels hinauf zu einem Punkt geführt, von dem sie hinter einer Baumgruppe verborgen das ganze Bild fast in nächster Nähe übersehen konnten. Nur mußten sie jetzt ausharren, bis das traurige Schauspiel zu Ende war, weil ihnen durch die Aufstellung des französischen Heers die Rückkehr in die Stadt abgeschnitten war. Bebend wie im Fieber verfolgte Berblinger den weltgeschichtlichen Vorgang. Erinnerungen an Worte seines Vaters, der in der Stille seiner Träume ein echt deutscher Mann gewesen war, stiegen mit aller Macht in ihm auf. Waren sie alle tot, diese Männer? Er hätte weinen können.

Dahin also war es mit Deutschland gekommen. Waren sie auch Österreicher, es waren doch fast alle Deutsche, die dort unten mit leeren Händen, mit schlotternden Knien und gesenkten Köpfen nach der Stadt zurückgingen, und ihr Herr war der Kaiser des deutschen Reichs. Und der andre, der Sieger, stand dort, dem alten deutschen Münster, der alten freien Reichsstadt gegenüber, mit seinem kecken höflichen Lächeln, mit seiner spitzen, scharfen Zunge, mit seinem eisernen Willen und seiner siegreichen Macht. So, rettungslos, ruhmlos mußte das Alte sterben, und wir – wir – wir waren die Alten!

Auch in Krummacher regte sich etwas: alte Erinnerungen an eine vergangene Zeit; doch röteten sie seine gelben Wangen nicht mehr. Wenn etwas, so lag in den müden, schlaffen Zügen Wehmut und Entsagung. Er war ja einer von den ganz Alten und wußte, daß er mit seiner Zeit zu sterben hatte. Dort unten begruben sie auch ihn mit aller militärischen – Schmach.

Sie sprachen während des langen trüben Tags nur wenige ernste Worte. Der Alte sah keinen andern Ausweg, der Junge wollte noch nicht sterben. Aber auch er sah keine Rettung vor den blitzenden Bajonetten, vor den funkelnden Säbeln und Kürassen, die dort unten in fast unübersehbaren Reihen paradierten. Und es war nicht einmal das; es war der kleine Mann, der dort auf dem weißen Pferd saß. Aus war es mit dem großen Vaterland, von dem seit einem Jahrtausend da und dort ein großer Deutscher geträumt, das hier und da seine mächtige Gestalt über alle Völker erhoben hatte. Es war dahin; ein Schatten ohne Blut.

Dort unten stand er noch immer neben dem Kaiser, der Feldmarschall von Mack, in seiner goldstrotzenden Uniform, trüben Blicks und bleich genug.

Dabei schoß es dem armen Schneidergesellen mehr als einmal heiß in die Schläfe, wenn wieder ein halbes Dutzend Fahnen sich gleichzeitig vor dem kleinen Mann neben dem General neigten. Wie es dann pochte!

Hatte der Schatten wirklich kein Blut mehr?

 

Endlich hatte der letzte Trainsoldat Säbel und Muskete abgelegt und war seinen Kameraden nachgehumpelt. Sobald es möglich war durchzukommen, verließen die beiden ihren wohlversteckten Spähwinkel und gingen ungehindert durch das Neue Tor in die Stadt. Alle entwaffneten Österreicher und die französischen Regimenter des linken Flügels waren bereits abmarschiert und suchten ihre Quartiere auf, soweit sie solche bekommen konnten. Langsam und trübselig gingen Krummacher und Berblinger über den Münsterplatz, als ob sie selbst die Gewehre gestreckt hätten. Vorwurfsvoll sah der Junge an dem Münsterturm empor, der von den Wachtfeuern auf dem Platz gespenstisch beleuchtet war. Der Magister begleitete den Gesellen bis an die Tür seines Hauses und drückte ihm dort schweigend die Hand. Die des Jungen war fieberheiß und zitterte. Der Pestilenziarius sagte, er solle sich's nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Menschen und Völker entgingen ihrem Lose nicht, und der Tod sei der Sünde Sold. Gott werde wissen, was er damit wolle. Wir hier unten hätten uns zu bescheiden und das Unabwendbare zu tragen.

War das ein Trost?

Ohne zu antworten schlüpfte Berblinger in das Haus.

Auf der Treppe hörte er plötzlich lautes Schreien – das waren die Zwillinge! – Dann ein Schrei – und noch einer! – Das waren die Zwillinge nicht.

In drei Sätzen war er oben und riß die Stubentür auf. Nur der matte Schein der Küchenlampe erhellte das Zimmer. Im ersten Augenblick sah er nichts; dann dort hinten am Arbeitstisch Gretle, die sich in den Armen eines der französischen Jäger wand. Der Mann drückte sie gegen den Tisch. Es schwamm Berblinger rot vor den Augen, und die alte Erinnerung, die ihn den ganzen Tag verfolgt hatte: seine Mutter gegen die Wand der Bretterhütte gedrückt, um ihr Leben, um ihr alles ringend, stieg wieder in ihm auf, als sei es gestern geschehen, als geschehe es jetzt – jetzt vor seinen Augen. Ohne zu denken, was er tat ohne zu wissen, was geschah, sprang er vorwärts. Im Sprung faßte er eines der drei Bügeleisen, die wie immer auf dem Ofen standen, an dem er vorüberflog. Das Aufreißen der Türe, ein Schrei wie der eines wilden Tieres hatten den Soldaten aufgeschreckt. Er wandte sich um mit sprühenden Augen, mit dem von Leidenschaft geröteten Gesicht. Aber schon flog das schwere Eisen durch die Luft und traf ihn mitten auf die Stirne.

Er stürzte vorwärts und zu Boden. Da lag er wie ein gefällter Stier, regungslos, ohne zu zucken.

Auch Berblinger stand da, ohne sich zu rühren, und starrte auf den großen leblosen Mann zu seinen Füßen. Die Zwillinge, die am Tisch vor ihrem Haferbrei saßen, waren vor Schrecken wie versteinert. Die Tür stand weit offen. Unten auf der Treppe hörte man jetzt Leute reden und das Öffnen und Schließen des Haustors.

Gretle, die auf einen Stuhl am Arbeitstisch gesunken war, sprang auf.

»Fort!« flüsterte sie. »Um Gottes Barmherzigkeit willen: fort! Ich habe keine Angst. Fort!«

Sie drängte ihn nach der Türe, hinaus auf die finstere Flur bis an die Treppe. Von unten kam es herauf: langsame, schwere Tritte.

»Fort, fort!« bebte es von ihren Lippen, die ein letzter heißer Kuß zu schließen suchte. So hatten sie sich noch nie geküßt.

»Gott schütze dich! Gott schützt uns alle!« klang es leise und heiß in seinen Ohren.

Dann glitt er die Treppe hinunter, fast unhörbar, vorbei an vier von den Österreichern, die schweigend und waffenlos in ihr Quartier zurückkehrten. Sie bemerkten ihn kaum.

»Gott sei Dank!« flüsterte er inbrünstig, während er die Haustür hinter sich schloß. »Es waren wenigstens die Tiroler. Es sind Deutsche!«


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