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Die Juden des Ostens

 

»Schon war gesunken in den Staub der Sassaniden alter Thron,
Es plündert Mosleminenhand das schätzereiche Kteriphon:
Schon langt am Oxus Omar an nach manchem durchgekämpften Tag,
Wo Chosrus Enkel Jesdegerd auf Leichen eine Leiche lag.«

 

So besingt der Hallermünder Halbkünstler in einer seiner klingelnden ohrfälligen Balladen den Tag, an dem das geboren wurde, was man heute Parsismus nennt. Freilich hatten die Perser schon einmal das Joch der Knechtschaft getragen, als Setamgar, der blutige König, der ihnen schon in Zarathustras heiliger Schrift geweissagt war, mit seinen Mazedoniern das Land überfiel. Der jahrhundertelange Krieg war durch ihn zugunsten von Hellas entschieden: Setamgar, den wir Alexander den Großen nennen, erfüllte Zoroasters uraltes Prophetenwort. Durch ein halbes Jahrtausend herrschten seine Nachfolger, die Seleukiden, ohne daß es ihnen je gelang, zu den Göttern ihres Olympes das Perservolk zu überreden: es blieb trotz manchen leichten Druckes der Religion der Feueranbetung treu, bis endlich im dritten Jahrhundert nach Christi der Sassanide Ardeschin Babekan die Fremdlinge aus dem Lande warf. Über vierhundert Jahre herrschte seine Familie; dann schlug Omar, der Kalif, bei Naharend am Oxus ihren letzten Sprößling: Yazdijird.

Und die Streiter Allahs waren nicht so tolerant wie Hellas kluge Kinder. Küß' den Koran oder stirb – – so ward Persien eine Provinz Mohammeds. In den Wüsten und den unwegsamen Gebirgen Korassans verkrochen sich die letzten Anhänger der Zendavesta, Zarathustras heiliger Lehre. Auch von da verjagte sie endlich das grüne Halbmondbanner; sie schlugen sich durch und besetzten die Insel Ormus im Persischen Meerbusen. Man ließ sie hier eine Zeitlang unbehelligt, bis ihre aufblühende Schiffahrt und ihr Handel von neuem der Kalifen Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Und wieder hieß es: Stirb oder bekenne den Islam; und wieder wurden die letzten Anhänger Zoroasters von einem Orte zum anderen gejagt. Im achten Jahrhundert erschien das letzte Häuflein in der indischen Halbinsel Gudscherat, wo ihnen der Radja Yado Rama einen Unterschlupf gewährte. Durch achthundert Jahre hatten sie nun Ruhe, bis ihr alter Feind, der Islam, sie, von neuem aufschreckte. Längst leuchtete der Halbmond über weite Strecken in Indien, als dem Schah Mohammed von Ahmedabad es einfiel, sich auch des Gudscherat zu bemächtigen. Wieder wurden nun die Parsen verjagt und zerstreut.

Als dann später die Engländer ins Land kamen, als aus dem kleinen portugiesischen Hafenneste Bom Bahia ein gewaltiges britisches Bombay wurde, da sammelten sich die Bekenner des Feuers in dieser Stadt und fanden endlich Ruhe unter dem Schutze des Löwen und des Einhorns. Es mögen ihrer heute vielleicht 100 000 sein (darunter über zwei Drittel im Bombay), also kaum ein dreißigstel Prozent der Bevölkerung des indischen Kaiserreiches, ein lächerlicher Bruchteil, ein winziges Sandkorn in dieser gewaltigen Menschenwüste. Und doch hat dieses Sandkorn für Indien eine ungeheure Bedeutung, ähnlich der der Juden im Westen.

Denn die Parsen personifizieren im ganzen Osten, nicht nur in Indien, den Mammon. Gewiß sind da noch manche andere, die wie sie vom rollenden Gelde leben; wir haben überall reiche chinesische Kaufleute, haben die Jaina-Seth, die aristokratische Kaufmannsgilde aus Gudscherat, dann afghanische Kleinwucherer und die merkwürdigen Chetties, südindische Großwucherer, die alle aus der Nähe von Madura kommen. Aber neben den reichen Chinesen haben wir auch Hunderte von Millionen armer; die Afghanen ihrerseits sind nur lästige Wanzen, die, den Wanderstab in der Hand, durch die Länder wandeln und nur pfennigweise die Leute aussaugen. Sie finden nirgends den Schutz des Gesetzes für ihre kleinen Wuchergeschäfte und setzen sich nur dadurch durch, daß sie körperlich stärker und mutiger sind als die Völker Indiens, und daß sie bei säumigen Zahlern mit ihrem dicken Knüppel nachhelfen. Die Jaina-Seth sind ein wenig erstarrt, ihr viele Jahrhunderte alter Einfluß dringt kaum heraus über die Radschputenstaaten. Die Chetties endlich wuchern allerdings in großem Stile, arbeiten mit allen Banken, leihen sich Hunderttausende zu fünf Prozent aus und verleihen sie dann wieder zu fünfzig. Aber sie bleiben bei diesem reinen Geldgeschäfte und denken nicht daran, irgendwelchen Zweig des Handels zu ergreifen. So bleibt dem Parsi doch eine Stellung für sich: er ist der moderne Großkaufmann des ganzen Ostens und gilt mit Recht als der Mensch gewordene Geldsack. Aber als ein Geldsack, der nicht nur zum Füllen sich öffnet, sondern ebenso bereit ist, bei jeder Gelegenheit seinen Goldregen auszuschütten!

Zweifellos stehen die Parsen unter allen Rassen Indiens dem Europäer am nächsten. Sie sind genau so weiß wie er, und ihre Tracht kommt der seinigen sehr nahe. Der Mann trägt sich genau so, nur hat er einen spitzen schwarzen, unglaublich geschmacklosen Hut aus Pappe; die Tracht der Frauen ist charakteristisch durch den riesigen Parsischal, der zugleich als Rock und als Kopftuch benutzt wird, stets sehr kostbar, aber leider fast immer in äußerst abgeschmackten Farben gehalten ist. In der Gesichtsbildung gleicht der Parse völlig dem Juden, nur sind alle markanten jüdischen Züge oft bis zur Unleidlichkeit übertrieben: er ist der Jude im Superlativus. Viele Reisenden schwärmen von der außerordentlichen Schönheit parsischer Frauen – – ich muß gestehen, daß ich keine einzige schöne gesehen habe unter vielen Hunderten; im Gegenteil, die, die ich sah, waren geradezu abschreckend häßlich; auch die Körperpflege und Reinlichkeit schien mir überall recht mangelhaft zu sein.

Die Sprache des Parsi ist ein altes Gudscherati – wie die des Juden die mittelhochdeutsche; nur in seinem Rituell gebraucht er seine uralte Sprache, das Zend – so wie der Jude das Hebräisch. Und wenn dem Anhänger Mosis das Schwein Tabu ist, so ist es das Rind für Zarathustras Kinder; beide aber dürfen zur Belohnung dieser Enthaltsamkeit in ihren Himmeln einst recht viel Fisch essen: den berühmten Leviathan, der so ungeheuer gut schmecken soll. Der Parsi ist Handelsmann, Bankier, Kaufmann; wir finden ihn in Singapore wie in Hongkong, in Manila, Batavia, Bangkok, Shanghai, Yokohama, Kolombo, in Aden, Kairo, Alexandria und in allen großen Plätzen Indiens – genau so, wie jüdische Firmen überall im Westen guten Klang haben. Und haben die Juden in allen Zeiten stets die wohlklingendsten Namen der Völker angenommen, unter denen sie wohnten: Montefiore, d'Acosta, Spinoza, Guzman bei den Spaniolen, Goldmann, Silberberg, Veilchenfeld bei den deutschen Juden – – so taten die Parsen das gleiche: früher waren es indische, heute sind es englische Namen, die sie tragen. Und wie unsere Israeliten gerne Kommerzienräte, Barone und Grafen werden, genau so sehnen sich die Parsen nach solchen Titeln: wir finden Sir Cowasji Readymoney (Bargeld), Lady Redgold (Rotgold) usw. Die Briten sind praktische Leute, und man muß schon tief in den Beutel greifen, um Lord oder Baronet zu werden oder einen schönen Orden zu bekommen. So kommt es denn, daß fast ein jedes der vielen neuen Prachtgebäude Bombays mit dem Namen eines reichen Parsi verknüpft ist. Allein der Baron Readymoney hat viele Millionen für öffentliche Zwecke geopfert. Für die anglikanische St. Johnskirche stiftete er den Turm, das berühmte Elphinstone-College wurde fast nur aus seinen Mitteln errichtet, ebenso die große Universität, der mächtige Brunnen in Crawford-Market und so manches andere noch. Der Parse weiß Geld zu machen und ist manchmal wenig kritisch in den Mitteln dazu, aber er weiß es auch auszugeben – – ist es anders bei unseren Juden? Natürlich sind nicht alle Parsen Krösusse. Und da finden wir die merkwürdige Erscheinung, daß die Parsen der weniger wohlhabenden Klassen mit Vorliebe Schauspieler werden. Überall sieht man in Indien parsische Schauspielertruppen; ihre Aufführungen sind freilich für europäische Begriffe ungenießbar, sie triefen geradezu von Rührung und Tränen. In neuerer Zeit erobern sich die ärmeren Parsen auch die Presse, sie werden Redakteure – – so stellen in Europa und Amerika die Juden einen gewaltigen Prozentsatz zur Presse und zum Theater.

Etwas, was auch der wildeste Antisemit den Juden nicht absprechen kann, ist ihr außerordentlich entwickeltes Familiengefühl. Jeder gute Bürger und Christ muß das in vollstem Maße anerkennen – – ich bin keines von beiden und darf mir also erlauben, es lächerlich zu finden. Nun wohl, nur ein Volk hat noch ein gleich stark ausgeprägtes Familiengefühl – das ja in weiterem, besserem Sinne auch das Solidaritätsgefühl der Rasse in sich schließt – die Parsen.

Manche europäischen Kaufleute klagten mir, daß alle Parsen verdammte Betrüger seien. Ich zweifle keinen Augenblick daran; aber gibt es im ganzen Osten, von Europäern abgesehen, irgendeinen handelnden Menschen, der nicht nach Herzenslust zu betrügen versuchte? Handel und Betrug ist hier eines – so soll man keinen Stein auf den Parsen werfen! Zarathustras Lehre, die heute noch seine Kinder befolgen, ist durchaus nicht so naiv, wie uns Mozart in seiner Zauberflöte weismachen will, und erst recht nicht so gewaltig wie die flammenden Worte, die Nietzsche mit dem uralten Namen deckte. Sie ist am letzten Ende einfach genug: die Parsen verehren Mond und Sonne, dazu noch das Wasser, das Feuer und endlich die Kuh. Wenn man dann noch die heilige Sadra, ein Musselinhemd, und die Kusti, eine wollene Gebetschnur, erwähnt, die beide von allen Parsen getragen werden, so ist man eigentlich zu Ende. Ihre Feste sind entweder astronomische oder historische, wie das am 14. September, des Jahrestages, an dem der dritte Yazdijird, der letzte der Sassaniden, den Thron bestieg. Ein wenig appetitlicher Gebrauch ihres Kultus ist der des Nirangs, d. h. des Kuhurins, mit dem sie sich jeden Morgen während ihrer Gebete das Gesicht besprengen. Ich weiß nicht, ob dieser eigentümliche Gebrauch, der übrigens in den besseren Kreisen stark im Abnehmen ist, im Zendavesta befohlen ist, glaube es aber kaum. Er scheint mir vielmehr eine Anleihe von den Hindus zu sein, bei deren verschiedenen Kulten Kuhurin und Kuhmist stets eine besondere Rolle spielen.

Bekannt im Osten ist der Parse durch sein Geld, bekannt in der Welt aber ist er durch seine berühmten Türme des Schweigens auf Malabar-Hill. Der Malabarhügel und seine Umgebung umfassen in grünen Gärten und Parken das schöne Villenviertel Bombays: der Hügel selbst aber gehört den Parsen. Eine breite Straße führt da zu einem Tore, das die Inschrift trägt: »Nur Parsen ist der Eintritt gestattet«. Aber die Parsen sind tolerant und gebildet; jeder Europäer erhält ohne weiteres einen Besichtigungsschein zu dem weiten Parke, der die Todesstätten dieses Volkes beherbergt. Dieser Fleck allein auf der weiten Welt gehört nur ihnen, überall sonst sind sie bei Fremden zu Gaste – hier allein, wo sie ihre Toten der Vernichtung zurückgeben, hier sind sie zu Hause. Und hier, in diesem herrlichen Garten, hier allein blüht die gewaltige, grausenvolle Poesie des sonst so nüchternen, ewig rechnenden Volkes.

Ich sitze auf dem flachen Plateau des Gartenhügels, auf einer breiten Marmorbank, die der Parsen Embleme zieren – Sonne und Mond, Wasser und Feuer und endlich die geheimnisvolle Kuh. Über mir breitet ein riesiger Bobaum seine weiten Äste, schützt mich vor der glühheißen Sommermittagssonne. Gelbe und violette Orchideen hängen vom Stamm, und große Chamäleons schmiegen sich an sie, regungslos auf ein Opfer lauernd. Unter mir dehnt sich weithin die Millionenstadt, zwischen Kokospalmen und Mangobäumen die reichen Villen der Europäer und Parsen, dann die stolzen gotischen öffentlichen Gebäude der Engländer, die Moscheen der Mohammedaner und die armseligen Holzhütten der Inder. Und dahinter das blaue arabische Meer –

Die breite Straße herauf kommt ein langer Zug. Voran eine Bahre, zu ihrer Seite zwei Männer mit starken Bärten. Sie tragen Handschuhe und lange Zangen: nur so dürfen sie die unreine Leiche berühren; sie sind es, die sie hineintragen in den Ort des Grauens, ihnen allein ist der Eintritt gestattet. Hinter ihnen folgen, zu zwei und zwei, in langsamem Schritte, ein halbes Hundert Parsen.

Fünf kreisrunde, schneeweiße Mauern ragen in den Abhängen auf – das sind die Türme des Schweigens. Türme? Nein, es sind niedrige Terrassen, rings geschlossen; nur eine kleine Türe gestattet den Eintritt. Drinnen sind drei Kreise, die zur Mitte hin sich hinabneigen, und ein jeder hat eine Anzahl von Mulden. Der äußere, der größte Kreis, empfängt die Männer, der mittlere die Frauen und der kleinste in der Mitte die Kinder.

Der Zug geht zu dem dritten Turme an der Ostseite. Ich sehe ihn zwischen den Bäumen, dann verschwindet er hinter der weißen Mauer. Und während dort, vor den kleinen Pforten, die Parsen die letzten Riten üben, in monotonem Singsang zur Sonne beten und den Knoten der heiligen Wollschnur lösen und schürzen, sinne ich über Zoroasters seltsames Gesetz. Die Leiche ist unrein, lehrt er; sie darf die heiligen Elemente nicht beflecken. So darf der Tote nicht verbrannt oder in den Fluß geworfen werden wie bei den Hindu – – denn er würde Wasser und Feuer verunreinigen. Er darf auch nicht begraben werden wie bei Christen und Mohammedanern, denn er würde die heilige Erde beflecken. Noch darf er in der Luft verwesen – die heilige Luft würde unrein werden. So gibt es nur eines: das tote Wesen muß in ein anderes Wesen übergehen.

Ich höre unten die Eisentüre schlagen. Nun sind die Träger heraus, nur die nackte Leiche liegt allein in der runden Grube. Da hebt es sich aus den Tamarinden: mit schwerfälligem, fast ungeschicktem Schlage fliegen die Geier heran, kreisen herum und senken sich langsam in den Turm. Ein paar Krähen verbinden sich ihnen, sie stehlen die besten Brocken den großen Vögeln unter dem Schnabel weg – –

Dort unten klingen die eintönigen Gesänge der Trauernden. Aber durch sie hindurch glaubt mein Ohr ein Krächzen zu hören, ein Reißen und Brechen – – mitten heraus aus dem weißen, stillen Turme. Ich weiß nicht, ob es Einbildung ist. Die Zeit verrinnt; nach einer Ewigkeit flattern die satten Vögel auf, setzen sich ringsherum auf die leuchtende Mauer. Und doch waren es kaum fünf kleine Minuten – – so kurze Zeit nur brauchen ihre scharfen Schnäbel, um aus einem Menschen ein Häuflein rings verstreuter Knochen zu machen.

Da ziehen die Parsen vorbei, vom Turme her die breite Straße hinab. Voran zwei Söhne des Mannes, der nun in den Mägen von zwanzig Geiern ruht, von fetten, häßlichen, stinkenden Aasgeiern. Der eine Sohn hebt den Kopf, wirft den Blick zurück zum Turme. Aber es scheint kein gehässiger Blick auf die Vögel, scheint nur eine stumme Frage: Werdet ihr selben Geier auch einmal meine Augen ausgraben und mein Herz hacken?

Die Parsen pflegen die Vögel nicht – die Toten allein sind deren einziger Fraß. Wenn der nicht genügt, mögen sie sehen, wo sie anderes Futter finden. Aber manchmal genügen auch die Vögel nicht. Vor ein paar Jahren, als die Pest, die Bombay nie verläßt, wieder einmal besonders wild sich gebärdete, als täglich die runden Türen viele Male sich öffneten und schlossen, da war der überreiche Fraß selbst den gierigen Geiern zu viel. Und die unreinen Leichen drohten die heilige Luft zu beflecken – – so schaffte man mit vielen Kosten eine Schar neuer Geier aus dem Pundschab heran – –

Ich wandle durch den einsamen, wundervollen Park; ich trete zu dem einfachen Tempel und blicke hinein. Hier brennt das ewige heilige Feuer, das die Urahnen einst aus der Heimat brachten, und das immerzu drei Priester mit neuem, wohlriechendem Sandelholze versehen. Leise Töne in der uralten Sprache des Zend klingen an mein Ohr – –

Und es ist ein seltsames, fast wehmütiges Gefühl, das mich ergreift – fast wie ein Heimweh. Aber dies Heimweh zieht mich zu eben diesem verzauberten Garten hin. Ich fühle, daß ich ein Fremder bin hier – und ich fühle auch, daß ich dennoch heimatberechtigt bin in diesem schwülen Parke voll grauenvoller Schönheit – –


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