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Das Land der Zeugnisse

Als ich ein Schulbube war, hatte ich – neben manchen schwankenden – stets drei festbestimmte kritische Tage im Jahr: einen vor Weihnachten, einen vor Ostern und einen vor den Sommerferien. Das waren die Tage, an denen die Zeugnisse kamen – die pflegten grauenhaft zu sein. Besonders über meine Leistungen im Rechnen, in Religion und im Betragen waren meine Herren Professoren durchaus anderer Meinung wie ich selbst und gaben, schamlos genug, dieser privaten Ansicht durch das unsympathische Wort »Mangelhaft« stets kräftigen Ausdruck.

Ich habe mir immer vorgenommen, einmal ein besserer Mensch zu werden als sie; und ich darf wohl sagen, daß mir das gelungen ist. Besonders was das »Zeugnisschreiben« anbelangt, kann ich heute voller Verachtung auf sie herabblicken: ich habe heuer siebzehntausenddreihundertundsiebenundzwanzig Zeugnisse geschrieben und eines immer glänzender als das andere! Und dazu kommt noch: meine Professoren schrieben dummen Jungen ganz gegen deren Willen Zwangszeugnisse, ich aber stellte fast nur Erwachsenen auf deren ausdrücklichen Wunsch Zeugnisse aus. Wie stehe ich nun da?

Indien ist das Land der Zeugnisse. Deutsche Bürger sammeln Orden, die Indianer sammeln Skalpe, die biederen Bewohner der Nicobaren sammeln stolz die Schädel der Schweine, die sie aufgegessen haben – – der sanfte Hindu aber sammelt Zeugnisse. Mein Führer in Trichinopoly hatte elf schön gebundene dicke Quartbände, und auf jedem stand in großen goldenen Lettern: »Zeugnisse, erworben und erhalten von Daniel Samuel Pillay.« Ich glaube, er war beim vierzigsten Tausend angelangt, und alle Zeugnisse besagten, daß er die Krone aller Führer in Indien sei. Ich schrieb ihm in Band XI, pag. 876: »Daniel ist eine Perle, er ist der Elefant unter den Führern der Stadt. Er ist die Lotosblume und der dreifach leuchtende Glühwurm Indiens; glücklich, wer unter seiner Leitung durch Wischnus Heiligtum wandelt.« – Daniel Samuel, um die Wahrheit zu sagen, war ein unerträglicher alter Schwätzer und erzählte, wenn man nicht immerzu ihm befahl, den Mund zu halten, einen Blödsinn nach dem andern. Trotzdem hat er eine prächtige Sammlung von vierzigtausend wundervollen Zeugnissen – und noch ein besonders schönes dazu – von mir.

Aber Samuel Daniel Pillay ist ein einziger Sammler unter den dreihundert Millionen, die in Indien leben! Und jeder von allen diesen träumt nur von Zeugnissen. Gott sei Dank war es heiße Zeit und die allertoteste Saison, als ich in Indien war. So war ich allein in jedem Hotel und die ganze Dienerschaft war nur für mich da. Wenn ich abfuhr, kam die ganze Gesellschaft an: die rechte Hand offen für den Backschisch, in der linken Hand den Bleistift und das Zeugnisbuch. Erst kam der Manager, dann der Untermanager, dann der Babu. Dann sechs Tischboys und ebensoviel Zimmerboys. Dann zwei, die mein Bad besorgt hatten, und zwei, die das Wasser dazu getragen hatten. Vier, die abwechselnd den Punka gezogen hatten, und drei, die das Zimmer aufgewischt hatten. Zwei waren da, die behaupteten, sie hätten die Insekten weggefangen, und sechs Kulis hoben mein Gepäck in den Wagen. Dann zwei Gärtner, ein Kutscher, ein Mann, der neben ihm sitzt, und einer, der hintenauf steht. Und endlich noch ein gutes Dutzend, über deren Tätigkeit nichts Näheres festzustellen war. Aber die Seele von einem Menschen – das bin ich – gab allen Backschisch und schrieb allen Zeugnisse. Sie schrieb: »Dasaswamedh Munshi ist der beste Wanzenfänger in Benares.« Oder: »Amrita Nandat ist als Wagenhintenaufsteher unübertrefflich.«

Ich schrieb, bis der Wagen fuhr, und dann weiter im Wagen zum Bahnhof. Und im Zuge – bis er glücklich hinausfuhr. Erschöpft sank ich dann in die Kissen, schellte und bestellte einen Whiskysoda. Ich trank ihn, zahlte, gab Backschisch und schrieb dem Boy in sein Zeugnisbuch: »So wie Ramnagar Patna serviert, kann es keiner in der ganzen Welt.« Ich wollte etwas schlummern, aber es ging nicht. Khandala Karli kam und putzte die Lampen, und ich schrieb ihm in sein Buch, er sei der König der indischen Laternenputzer. Lanauli Pippal staubte die Kissen, und ich mußte ihm bestätigen, daß er ein wahres Wunder der Reinemacherei sei!

Ein ganzes Füllhorn von guten Zeugnissen habe ich über die Händler ausgeschüttet. Ein vierjähriger Bube verkaufte mir in Allahabad einen Fächer, für den ich zwei Pfennige bezahlte. Ich gab noch einen Pfennig Backschisch, um ihn loszuwerden, aber es half nichts: er gab nicht nach, bis ich ihm Namen und Adresse aufschrieb und ihm bestätigte, wie außerordentlich ich mit dem Kauf zufrieden sei. Jede dumme Bronze, jeden alten Seidenlappen habe ich bezeugnissen müssen: die Kerls, die mich am meisten betrogen, erhielten gewiß die besten Zeugnisse. Einmal stahl mir in Agra, während ich einem Brokathändler ein wundervolles Zeugnis schrieb, der Lump derweil die Hälfte der Lappen. Ich merkte es zum Glück und gab ihm ein paar Ohrfeigen – aber ich schrieb ihm doch in sein Buch: »Abdul ben Shalimar ist ein Berg der Ehrlichkeit.« Man lasse sich also dadurch – oder durch eines der vielen andern Zeugnisse nicht allzusehr bestechen: ein großer Gauner bleibt darum doch ein jeder Händler im heiligen Indien, das ist eben die ganz selbstverständliche Voraussetzung.

Die Übung macht es. Im Anfang war ich nur ein mäßiger Zeugnisschreiber; ich schrieb, daß ich »sehr zufrieden« sei, und daß der, der gerade daran war, ein ausgezeichneter Vertreter seines Faches sei. Aber ich habe sehr bald gelernt, und heute bin ich für Zeugnisse geradezu ein Virtuos. Besonders stolz bin ich auf folgendes Zeugnis, das ich ein paarmal an jedem Tage auszustellen Gelegenheit fand: »Mahabalipuram Bitragunta« – – oder »Godavery Amararshnaraswami« oder wie er sonst gerade hieß – – »ist die Seele aller brahmanischen Priester. Er ist der Liebling und der Augapfel Schiwas« (oder Ganeschas oder Kalis oder Krischnas oder sonst eines der Millionen indischer Götter). »Er ist ein Dreimalgeborener, und seine Heiligkeit ist die Freude Indras. Im Betteln ist er ein Kaiser, und ich selbst habe ihm vier Kupferpeis geschenkt.«

Aber man glaube nicht, daß sich meine Zeugnisse nur in Händen von Führern, Händlern, Dienern und bettelnden Priestern befänden! O nein, meine Tätigkeit war eine weit ausgedehntere. Ich habe Teppichfabrikanten und Elefantenführern, Musikern und Schlangenbeschwörern Zeugnisse ausgestellt. Kaveri Naujagund, einem Leichenverbrenner am Manikarnika-Ghat in Benares, habe ich bestätigt, daß kein Mensch stromauf und stromab an der heiligen Ganga so schön und knusperig Leichen rösten könne wie er, und ein Ghat weiter schrieb ich dem frommen Yogin Ramigani ins Stammbuch, daß er der edelste Büßer des Ostens sei, und daß keiner so graziös wie er Tag und Nacht auf dem Nagelbrett liegen könne. Maharadschas habe ich bestätigt, daß sie regieren könnten wie Friedrich und Napoleon, die Großen, und auf ganz besondern Wunsch habe ich dem Oberpriester des berühmten Affentempels es schriftlich gegeben, daß er als Ziegenschlächter seinesgleichen nicht kenne, daß seine Göttin Durga das Non-plusultra aller Göttinnen sei, und daß seine heiligen Hum-man-affen wahre Muster an Gelehrsamkeit seien.

In Simla war ich beim Vizekönig zu Gast geladen. Das ist nicht so wie bei uns, wo man bei irgendeinem kleinen deutschen Fürsten oder Herzog zu Mittag speist, der ebensowenig zu sagen hat wie man selber. O nein, der Vizekönig herrscht über fünfmal soviel Menschen, als in ganz Deutschland leben, und er ist wirklich ein großer Herr. Und doch war er so nett zu mir und so schlicht und einfach – – ich wußte immer gar nicht recht, was er eigentlich wollte. Beim Dessert aber kam es heraus. Er fragte, scheinbar ganz ohne Absicht: »How do you like India?« Ich antwortete harmlos: »Very nice place indeed.« – Da war ich gefangen! Seine Exzellenz griff mit schnellem Griff in die Brusttasche, holte sein Zeugnisbuch hervor und bat, ihm das doch schriftlich zu bestätigen und zugleich meine Ansicht über die englische Regierung niederzulegen. Was sollte ich tun? Ich hatte reichlich und wirklich sehr gut gegessen. Ich hatte noch reichlicher und wirklich noch besser getrunken – ich bin außerdem ein Gentleman und ein sehr höflicher dazu. Ich schrieb also in das goldene Zeugnisbuch des indischen Kaiserreiches: »Indien ist sehr nett. Ich bin mit der Regierung des Vizekönigs zufrieden.« Lord Minto las es; er zerdrückte eine Träne und preßte mir gerührt die Hand. Es war ein historischer Moment. Ich glaube, ich habe der deutsch-britischen Annäherung einen unschätzbaren Dienst geleistet.

* * *

Aber die besten von all meinen Zeugnissen habe ich doch in Delhi geschrieben. Da kam auf der breiten Silberstraße ein Mensch zu mir und zupfte mich geheimnisvoll am Ärmel. Er war einäugig und sah aus wie eine halbtote Kobra, wenn sie in halbstündigem Kampfe von einem flinken Mungo zugerichtet worden ist. Er zischte und zischelte, und ich verstand erst gar nicht, was er mit mir vorhatte. Aber endlich fand ich es doch heraus: er war ein Menschenfreund und wollte mich zu einem türkischen Bade führen, wo die schönsten Houris Indiens mich bei Tanz und Gesang erwarteten. Ich bin ein schwacher Mensch, und ich folgte dem Lockruf des Lasters. Der Menschenfreund führte mich, und durch unglaublich enge und krumme Gassen kamen wir endlich zum Tore des Paradieses. Wir pochten geheimnisvoll siebenmal, dann schoben sich die schweren Riegel zurück. Wir sagten Salam, und ich trat ein. Ein alter, ehrwürdiger Mann geleitete mich und zeigte mir die Räume. Es war wirklich ein türkisches Bad; Dampfzelle, Schwimmzelle, Badezelle, alles war richtig da. Nur war alles von einem zähen, schleimigen Dreck beklebt, und das Wasser hatte eine ganz eigentümliche braungrüne Mischfarbe, trug große Blasen und sah aus wie Krötenbäuche. Dann kamen die Houris. Eine war triefäugig, die andere war bucklig und schien noch dazu die Lepra zu haben, die dritte endlich hatte einen Doppelkropf und dazu die Elefantiasis auf beiden Beinen, so daß sie wie ein Mammut daherhüpfte. Alle drei stanken – schlimmer wie die heilige Ganga. Ich schüttelte den Kopf – da lachte der Alte verständnisinnig und klatschte dreimal in die Hände. Ein Vorhang wich zurück, und es erschienen drei holde Knaben; mit einladender Gebärde wies sie der Alte mir zu. Aber der eine Knabe hatte einen großen Höcker, der zweite war bedeckt mit Skrofelnarben, und der dritte – – ich weiß nicht, was der hatte! Aber das weiß ich, daß die drei Jünglinge noch schmutziger waren und noch mehr stanken als ihre weiblichen Nebenbuhlerinnen. Ich drehte um und machte einen verzweifelten Versuch, zur Türe zu gelangen. Da rief der Alte: »Oi! Oi! Ah!« Er lachte wieder ganz verschmitzt, diesmal glaubte er meinen Geschmack sicher getroffen zu haben. Er hielt mich fest und klatschte wieder – da kamen ein paar Kulis herein. Sie brachten drei große Enten und drei weiße Ziegen. Die Ziegen waren schön, und die Enten waren auch schön, das kann ich nicht leugnen. Aber ich bin nun einmal ein westlicher Barbar, und ich konnte in keiner Weise eine Begeisterung für Enten in mir erwecken und ebensowenig für Ziegen. Ich mußte sehr grob werden, um dem Alten begreiflich zu machen, daß ich verzichtete – er konnte es gar nicht verstehen, wie man all diese Genüsse verachtete. Ich verteilte Backschisch nach allen Seiten, aber ehe ich noch zur Türe hinaus war, kam der Alte mit seinem Zeugnisbuche. Ich schrieb: »Das türkische Bad des Abdul Nakkar ist die größte Sehenswürdigkeit Delhis, es ist das wahre Eden auf Erden.« Dann kamen die drei Damen und nach ihnen die drei Jünglinge, und ich bestätigte einem jeden, daß in seinen Armen die höchste Wonne des Paradieses sei. Dem Menschenfreunde aber, der draußen auf mich wartete, schrieb ich in sein Buch, daß er der beste Galeotto der Welt sei, der mir die herrlichsten Stunden meines Lebens verschafft habe.

Nur die armen Enten und Ziegen bekamen keinen Backschisch, erhielten kein Zeugnis – und es waren doch wirklich so sehr schöne Ziegen und so prächtige Enten!!


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