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Vorwort

Diese Sammlung von Erzählungen aus Asien und Afrika will in erster Linie ein Unterhaltungsbuch sein. Sie ist eine bunte Auslese aus Werken deutscher, französischer, englischer und italienischer Forscher, Missionare und Folkloristen, aus Büchern also, die einem größeren Leserkreis unbekannt bleiben. Es gibt in Deutschland selbst unter den Gebildeten heute noch viele Leute, die da meinen, die Kunst der Erzählung sei eine Kulturerrungenschaft, von welcher wilde Völker wenig Ahnung hätten; sie wissen nichts davon, daß Poesie auch in Steppe und Urwald lebt und webt, daß sie am Wärmfeuer des sibirischen Nomadenzeltes, der Jurte, ebenso heimisch ist wie im Hottentottendorf, dem heckenumzäunten Kraal, und daß, wie auf dem ganzen Erdball, auch in den weiten Gebieten zwischen Sibirien und Südafrika keine menschliche Ansiedelung liegt, in der Lieder, Mythen, Märchen, Fabeln und andere poesievolle Äußerungen des »Volksmundes« unbekannt wären.

Aus der Tatsache, daß Engländer und Franzosen eine stattliche Reihe populärer Geschichtensammlungen aller Völker besitzen, während unsere derartigen Bücher fast an den Fingern einer Hand abzuzählen sind, könnte man schließen, daß in Deutschland weniger Interesse herrsche für fremde Volksliteratur. Aber gewiß wäre das ein Trugschluß. Engländer und Franzosen sind alte Kolonisten; als solche kamen sie schon vor Jahrhunderten mit den Völkern aller Erdgegenden in engere Fühlung und lernten deren Geistesschätze schon kennen, als in Deutschland noch niemand an Kolonialbesitz dachte. Jetzt aber hat sich auch der deutsche Adler in fernen Ländern Nistplätze gesichert und schwarze und gelbe Menschen untertänig gemacht; unsere zivilisatorischen und volkswirtschaftlichen Aufgaben machen es uns zur ernsten Pflicht, immer mehr und besser die fremden und fernen Mitmenschen kennen und verstehen zu lernen, und allein darum schon tut es not, daß auch das deutsche Volk – vor allem die Jugend, die dereinst reiche Erbschaft zu verwalten und zu erhalten haben wird – sich mit dem Gefühls- und Geistesleben fremder Völker mehr und mehr vertraut macht. Möge dieses Buch mit dazu anregen und beitragen!

Aber nicht nur in dieser Absicht sind die hier vereinigten Erzählungen herausgegeben; sie sind inmitten unserer einheimischen Erzählungskunst durchaus daseinsberechtigt durch ihren oft erstaunlich hohen poetischen Wert und brauchen sich vor Europäeraugen wahrlich nicht zu schämen. Es ist wundersam, wie diese in Stoff und Aufbau eigenartigen Geschichten, Märchen, Fabeln, Mythen und Schwänke unsere einheimische Volksdichtung an phantastischem Flug und schalkhaftem Humor oft übertreffen. Auch wenn man den besonderen Reiz in Abzug bringt, den das Fremdländische in Ort, Personen und Handlung auf uns ausübt, bleibt z. B. eine Erzählung wie das aus Kleinasien kommende armenische Märchen »König Fuchs« eine poetische Leistung, die der Volksliteratur jeder europäischen Kulturnation zur Zierde gereichen würde. Allerdings blicken die Armenier ja auch auf eine alte Kultur zurück, so daß man an ihre Volkserzählungen, ebenso wie an die der Inder, Chinesen, Japaner und Araber berechtigte höhere Anforderungen stellen darf. Auch in den Erzählungen anderer asiatischer Volksstämme sind Einflüsse benachbarter oder europäischer Kulturvölker so deutlich erkennbar, daß es oft recht schwer fällt, zu entscheiden, was von den Ahnen ererbt und was später von außen hinzugenommen worden ist. Durchaus europäisch beeinflußt erscheint uns z. B. die prächtige humorvolle Tamulen-Erzählung von den »Abenteuern des Guru-Gimpel«; tatsächlich verdankt diese in der Fassung, wie sie uns vorliegt, einem Europäer ihr Dasein. Vor zwei oder drei Jahrhunderten wirkte unter den Tamulen, einem verhältnismäßig kultivierten Volksstamm Vorderindiens und Ceylons, ein gelehrter und dichterisch begabter italienischer Missionar, der alte tamulische Geschichten mit Fabel- und Schwankstoffen seiner europäischen Heimat zu jenem Guru-Gimpel-Buch verarbeitete, das seinen Missionsbrüdern als Übungsbuch zum Erlernen der tamulischen Sprache dienen sollte. Hier also sind die europäischen Eingriffe in alte Eingeborenen-Erzählungen nachgewiesen. Unverfälschte Phantasieprodukte primitiver asiatischer Völker sind dagegen wohl die beiden Betrügergeschichten der Aino auf der nordjapanischen Insel Yezo und der sibirischen Tataren, sowie die Mongolen-Erzählung »Der Vielfraß« aus den hochasiatischen Steppen; letztere ist einem umfangreichen mongolischen Erzählungskreis, den sog. Siddhi-Kür-Geschichten, entnommen.

Weit mehr wirklich »Eingeborenes« als die asiatischen Geschichten bieten die afrikanischen, vor allem die aus Mittel- und Südafrika (Nr. 23 bis 34 des Inhaltsverzeichnisses), während die nord- und ostafrikanischen Erzählungen (Nr. 16 bis 22) arabischen Einfluß zeigen und die Mauritius-Geschichten (Nr. 35 bis 41) zumeist solche der dortigen Kreolen sind, also der Nachkommen eingewanderter weißer Kolonisten; diese Kreolen arbeiten sogar schon mit der Satire, wofür Nr. 40 ein hervorragend gelungenes Beispiel ist.

Eine merkwürdige Erscheinung ist es, daß eine große Reihe von Erzählungsstoffen weit voneinander getrennten Völkern gemeinsam sind. Dieses Buch, das möglichst vielseitig sein will, war nicht der geeignete Platz, um viele einander auffallend ähnliche Geschichten zur Vergleichung zu vereinigen. Immerhin hat sich auch hier, ohne daß die Absicht vorlag, manches Ähnliche zusammengefunden. Man vergleiche nur, was die Aino in ihrem Geschichtchen Nr. 9 erzählen, mit dem Schelmenstück Nr. 34 aus Madagaskar und beide Erzählungen mit Andersens bekanntem Märchen vom großen Klaus und vom kleinen Klaus; die Tunisier haben ein ähnliches, hier nicht vorgeführtes Geschichtchen. Oder man vergleiche den ersten Streich in vorerwähnter Madagaskar-Erzählung mit dem Tataren-Stückchen Nr. 5; der gleiche Gaunerkniff findet sich auch in alten deutschen Volksschwänken. Der aufmerksame Leser und Literaturkenner wird noch manche andere Stoffe finden, die ihn an Bekanntes erinnern. So wird er bei einigen Negerfabeln (Nr. 20, 29, 30) an »Reineke Fuchs«, bei der hindostanischen Lull-Geschichte (Nr. 14) an ähnliche französische und deutsche Fabeln, bei einer Erzählung der Schilcha-Berber (Nr. 18) an Rabelais' Pantagruel-Schwank von den Papifeigen und dem Teufel denken.

Was den inneren Kern der asiatischen und afrikanischen Volkserzählungen betrifft, so fällt vor allem auf, daß der Begriff der Moral in dem Sinne, wie wir ihn haben, fast gänzlich fehlt. Die Idee der Pflicht, der objektiven Gerechtigkeit, der Ehre spielt keine Rolle. Vorherrschend dagegen ist der Triumph der List über die brutale Kraft; gegen die Gewalttätigkeit der Starken bedient sich der Schwache rücksichtslos der Lüge als der einzig erfolgreichen Waffe. Bei Völkern, bei denen Recht und Gerechtigkeit auf schwachen Füßen stehen, ist das Hochstellen der Schlauheit und Schelmerei durchaus begreiflich. In Deutschland war das einmal ebenso, das beweisen uns die alten Volksbücher. Im selben Maße aber, wie man die List feiert, verspottet man natürlich die Dummheit. So begegnet man, wie in allen Volksliteraturen, auch bei Asiaten und Afrikanern immer wieder typischen Vertretern der List wie auch der Einfalt. Eulenspiegel, Schildbürger und Genossen sind auf dem ganzen Erdball zu Hause. So haben die Japaner ihren dummen Tempo (Nr. 11), die Hindu ihren Lull (Nr. 14), die Tamulen ihren Guru-Gimpel (Nr. 16), die Tunisier ihren Dschuha (Nr. 17), die Suaheli ihren Abunawas, die Basuto ihren Hubeana, die Nama-Hottentotten ihren unverbesserlichen Hirtenjungen. Von allen diesen Typen gibt es zahlreiche Schwänke. Auch Kotofetsy und Mahaka von Madagaskar (Nr. 33 und 34) gehören hierhin; ihre Namen bedeuten in der Sprache der Hovas, der Bewohner der Ostküste Madagaskars, »listiger Mann« und »Einer der täuscht«; sie waren zwei gewöhnliche Räuber, manchmal witzig, immer aber faul und boshaft und ohne die ritterliche Seite, die uns so häufig unsere europäischen sagenhaften Banditen so sympathisch macht.

Auch in den zahlreichen Tiergeschichten der Afrikaner treten solche immer wiederkehrende Typen auf. Der listigste ist meistens der Hase, der in Nr. 26 »das allerboshafteste Geschöpf auf Erden« genannt wird. Wer aber mit ihm um die Palme der Verschlagenheit wetteifert, das ist die Schildkröte; sie besiegt sogar den Hasen (Nr. 38) und den gleichfalls nicht wenig schlauen Affen (Nr. 36). An den Küsten Guineas ist die Spinne die Vertreterin der List. Der Elefant spielt dagegen die blöde Rolle des Löwen und sogar des Isegrim in unserer Historie vom Reineke Fuchs. Er wird das Opfer des Hasen (Nr. 37, 40 und 41) und der Schildkröte, sogar des Hahnes (Nr. 22). Das Tier aber, das am meisten Widerwillen erregt und am meisten hereinfällt, ist die Hyäne (Nr. 20, 29 und 30).

Erstaunlich ist es, wie vollkommen in den afrikanischen Geschichten die Tiere den Platz des Menschen einnehmen. Erklärlich wird dies durch die von Prof. v. d. Steinen bei den Eingeborenen Zentralbrasiliens nachgewiesene Tatsache, daß Naturvölker nicht in unserem Sinne Mensch und Tier als weit voneinander getrennte Wesen anschauen, sondern, unter Verneinung eines Wesensunterschiedes, in beiden nur verschieden ausgestattete Personen erblicken. Diese Wilden sind fest davon überzeugt, daß sich alles einmal genau so zugetragen habe, wie es in den altererbten Geschichten berichtet wird. Zweifelsohne darf man solche Anschauungsweise auch bei den Tiergeschichten afrikanischer Naturvölker zugrundelegen; die Anmerkungen zu Nr. 23 und 28 liefern dafür den Beweis.

Der Inhalt dieses Sammelwerkchens besteht zum größten Teil aus eigenen Übersetzungen nach älteren französischen und englischen Werken; einiges andere ist aus älteren deutschen Büchern entnommen, die wohl längst nicht mehr im Buchhandel sind. Außerdem sind noch folgende Quellen benutzt worden: »Anthologie aus der asiatischen Volksliteratur« von A. Seidel, Verlag Emil Felder, Weimar 1898; »Japanische Märchen und Sagen« von P. Brauns, Verlag Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885; »Globus«, Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Band 69, Verlag Friedrich Vieweg & Sohn, Braunschweig 1896; »Geschichten und Lieder der Afrikaner« von A. Seidel, Verlag Schall & Grand, Berlin 1896; »Die Somalisprache« von A. W. Schleicher, Berlin 1892; »Lieder und Geschichten der Suaheli« von C. G. Büttner, Verlag Emil Felder, Berlin 1894; »Märchen der Schluh von Tázerwalt« und »Tunisische Märchen und Geschichten«, beides von Dr. Hans Stumme, Verlag J. C. Hinrichs, Leipzig 1893 und 1895; »Zehn Jahre in Äquatoria und die Rückkehr mit Emin Pascha« von Casati (übersetzt von Reinhardstoettner); »Reineke Fuchs in Afrika« von Bleek, Verlag Hermann Böhlau, Weimar 1870.

München, den 31. März 1911.

Gisela Etzel


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