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23

Müde folgte Litte Friese den Bewegungen des aufgeregten Anwalts am Apparat; sie war so müde, daß sie kaum seinen Worten zu folgen vermochte.

Was lag ihr an alledem? Es ging für sie um Detlev, um seine Ehre und seine Freiheit. Jede Minute, die er unter dem unsinnigen Verdacht stand, war ein Frevel an ihm. Alle Rachegefühle versanken vor diesem einen peinigenden, marternden Gedanken: Detlev war einsam und verlassen, und sie konnte ihm nicht helfen.

Einen Satz des alten Herrn fing sie auf: »Dies Mädchen ist unbedingt zu beobachten und in dem Augenblick festzunehmen, wo sie Nissen erreicht –«

Warum? dachte sie. Sie tut nichts anderes als das, was jede Frau in solcher Lage tun würde, die liebt. Und quälender als bisher überfiel sie die Frage: warum tue ich nichts? Warum sitze ich hier und überlasse alles anderen?

Langsam wurde der Gedanke stärker, der sie seit Stunden verfolgte, und den sie immer wieder verjagt hatte – aber diesmal hielt sie ihn fest.

Sie konnte etwas tun. Es war gefährlich – aber das kümmerte sie wenig – und es war schwer zu sagen, nicht weil es eine Lüge sein würde, sondern, weil sie ihre Scham überwinden mußte.

»Nicht wahr?« fragte sie Dr. Bendix, der endlich fertig war, »es kommt jetzt alles auf sein Alibi an?«

»Alles«, entgegnete er etwas gereizt. »Aber das haben wir genug durchgekaut, dächte ich. Wissen Sie vielleicht eins?«

Sie antwortete nicht. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. »Sie sehen so aus, als ob Sie die Lösung gefunden hätten«, fuhr er etwas ruhiger fort. »Aber sagen Sie sie bald. Es ist Zeit für Sie, zu Herrn Lesley zu gehen.«

»Ist es schon zwölf Uhr?« Sie stand sofort auf. Bei Lesley war noch eine Hoffnung. Er war in letzter Zeit viel mit Detlev zusammen gewesen, auf dieser entsetzlichen »Jagd«, wie sie immer sagten. Vielleicht wurde ihr das Bitterste doch noch erspart.

Der Anwalt zuckte die Achseln. »Ich will Ihnen gewiß nicht den Mut nehmen; aber es handelt sich um Minuten.«

»Es wird noch alles gut werden, Doktor.« Und damit war sie aus dem Zimmer und jagte die Treppen noch eiliger hinunter, als es Hanne Nottebohm vorhin getan hatte.

Nach schneller Fahrt langte sie vor dem Hotel an, in dessen Halle Lesley sie erwartete.

Er begrüßte sie mit einem derben Händeschütteln. »Es tat mir leid, daß ich nicht da war, als Sie telephonierten.«

»Es ist keine Zeit für Höflichkeiten«, unterbrach sie ihn hastig. »Wo kann man hier ungeniert miteinander reden?«

»Um diese Zeit am besten im Schreibzimmer.« Sie waren dort in der Tat allein, und sie erzählte, was sie für angebracht hielt.

»Wenn ich offen sein darf«, sagte Lesley, »so ist es für mich beinahe eine Genugtuung, daß es tatsächlich einen zweiten Mann gab, hinter dem wir beide her waren. Unser Freund Huygens hat also recht gehabt.«

»Ja, und niemand hätte zweifeln dürfen; aber darum handelt es sich in diesem Augenblick nicht. Wissen Sie nicht, wo er sich an diesem verhängnisvollen Abend um diese Stunde aufhielt?«

»Ich verstehe: das Alibi. Wie dumm, daß es nötig ist, daß es einen Menschen gibt, der Huygens das zutraut!«

Sie mußte sich bezwingen, um nicht von dem »anderen« Huygens zu sprechen, dem »das« schon zuzutrauen war. »Denken Sie nach!«

»Das tue ich schon die ganze Zeit. Entschuldigen Sie mal.« Er zog ein Büchlein vor. Mit etwas verlegener Miene erklärte er ihr die Bestimmung des Bandes, der die »Buchführung seines Lebens« sein sollte. Sie hörte kaum hin.

Er bemerkte es und blätterte, bis er freudig innehielt. »Wir haben es.«

Beinahe hätte sie ihn vor Freude umarmt. »Wo?«

»Hier«, erklärte er strahlend. »Hier steht es: von 11.30 Uhr an mit Huygens im Klub. Genügt das nicht?«

»Nein«, rief Litte verzweifelt. »Um 11.30 Uhr könnte er längst wieder bei Ihnen gewesen sein. Im Auto braucht er vom Butenfleeth keine zehn Minuten. Und die Tat ist zwischen 11.05 bis 11.15 Uhr begangen. Fiel Ihnen nichts an ihm auf? Irgend etwas? Sagte er nicht, wo er vorher gewesen war?«

»Er war vergnügter, als ich ihn seit der ›Pikbuben‹-Affäre sah. Richtig, er hatte sich bei einem Antiquar in Eppendorf einen kleinen japanischen Götzen für seine Sammlung gekauft. Es soll der Glücksgott sein, ein Kerlchen mit so hoher Stirn – ich weiß es, weil er noch Bemerkungen daran knüpfte.«

»Bei einem Antiquar in Eppendorf? Wie heißt er?«

»Bock. Das behält sich leicht. Und er kam geradenwegs von ihm. Wenigstens sagte er es.«

Sie sah ihn mit glänzenden Augen an. »Von ihm kam er in den Klub? Von Eppendorf zur Johnsallee? Dazu brauchte er eine halbe Stunde! Dann wäre alles geklärt!«

»Das ist das Alibi, ich verstehe. Und ich verstehe auch, warum Sie so glücklich sind.«

»Nein«, sagte sie mit abgewandtem Gesicht. »Das verstehen Sie nicht.« Sie stand auf. »Ich muß sofort in diesen Laden. Kommen Sie mit?«

Der Antiquar in der Husumer Straße war ein hundemagerer Mann mit schläfrigen Augen, in denen bisweilen ein listiges Kaufmannslächeln aufglomm.

»Ich entsinne mich gut«, erklärte er nach dem ersten Ansturm der Fragen und Erklärungen. »Wie werde ich mich nicht auf meinen besten Kunden besinnen? Er kaufte den Glücksgott.«

»Warum kam er zu so später Stunde? Hatten Sie nicht längst geschlossen?«

»Hatte ich auch. Aber Herr Huygens war schon dreimal am Tage bei mir gewesen, immer wegen dieses seltenen Stückes. Ich wollte es nicht hergeben, aber er ließ nicht locker. Als er so spät noch kam, wurde ich weich. Er bot einige schöne Farbenholzschnitte zum Tausch. Sehr schöne Hiroshiges«. setzte er mit Kennermiene hinzu. »Ich weiß nicht, ob die Herrschaften sich darin auskennen.«

»Gar nicht«, erklärte Lesley bestimmt. »Uns interessiert nur, wann er wieder ging.«

»Wann er ging? Ich habe nicht nach der Uhr gesehen. Ist das so wichtig?«

»Sogar die Minute müßten wir wissen.«

»Sie scherzen«, sagte Herr Bock. »Die Minute? Nein, wirklich, das ist zuviel verlangt. Es wird so zwischen zehn und elf gewesen sein. Ich arbeitete einige Kunstauktionskataloge durch und ging wie gewöhnlich um Mitternacht schlafen.«

Litte Friese sank in einen alten Sessel von brüchigem Leder. Das ganze kostbare Gerümpel ringsum drehte sich in einem Wirbel um sie. Minutenlang kämpfte sie gegen eine ansteigende Ohnmacht. Hier war nichts zu erhoffen. Jetzt blieb nur noch das eine …

Draußen stand noch der Wagen, der sie hergeführt hatte, und sie stieg sofort ein.

Als Lesley nachfolgen wollte, bat ihre verschleierte Stimme: »Nun müssen Sie mich schon allein lassen, lieber Freund.«

»Was wollen Sie tun?« fragte er, erschreckt in ihr starres, entschlossenes Gesicht starrend.

Sie sah an ihm vorüber. »Es wird gut sein, wenn Sie vergessen, daß wir heute nach diesem Zeitpunkt geforscht haben.«

»Ich brauche nicht in Sorge zu sein?«

Sie blickte in sein ehrlich besorgtes Gesicht und lächelte matt. »Nein. Wenigstens noch nicht … noch nicht …« Lesley hörte, wie sie dem Chauffeur befahl, geradeaus zu fahren, und er begriff, daß sie ihm ihr Ziel nicht verraten wollte.

Als Litte Friese eine halbe Stunde später vor der Tür des Kriminalkommissars Ortmann stand, war sie nahe daran, umzukehren. Sie hatte die Empfindung, daß sie kein Wort hervorbringen würde.

Aber in diesem Augenblick wurde die Türe geöffnet, und eine hohe Männergestalt erhob sich hinter einem nüchternen Arbeitstisch.

Der Kommissar sah auf den Anmeldezettel. »Nehmen Sie Platz, Fräulein Friese. Ihre Vernehmung ist auf morgen angesetzt; ich darf wohl annehmen, daß es triftige Gründe sind, die Sie schon heute herführen?«

»Ich will beweisen, daß Herr Huygens unschuldig ist«, sagte sie leise, ohne zu zögern.

Er nahm wieder Platz und sah sie mit einem flüchtigen Lächeln an. »Das wollen Sie beweisen? Wirklich beweisen?« Er blätterte in einer Akte. »Es sprechen schwerwiegende Indizien gegen ihn, das wissen Sie?«

»All diese Indizien lügen«, sagte sie fest. »Alle. Sie sind wohl von den veränderten Umständen unterrichtet?«

»Der Rechtsbeistand von Herrn Huygens hat mir Dinge mitgeteilt, die allerdings geeignet sind, die Anklage zu entkräften.« Er verbesserte sich. »Übrigens ist noch keine Anklage eröffnet.«

»Das weiß ich; es darf aber auch nicht dazu kommen. Dieser Verbrecher, der sich seine Ähnlichkeit mit Herrn Huygens zunutzte machte, muß gefaßt werden.«

Der Kommissar sagte langsam: »Ich gäbe viel darum, wenn man diesen Kerl innerhalb 24 Stunden einlieferte.«

»Das heißt«, rief sie freudig, »daß auch Sie nicht an die Schuld von Herrn Huygens glauben?«

Ortmann zuckte die Achseln. »Bis vor kurzem schien es der klarste Fall meiner Praxis; aber ich gestehe, daß ich ein gesundes Mißtrauen gegen allzu klare Fälle habe.«

»Und trotz Ihrer Zweifel an seiner Schuld bleibt er im Gefängnis?«

»Liebes Fräulein, das hängt nicht allein von mir ab. Und dann – sein Alibi. Es ist schlimm, daß er nicht genau angeben kann, wo er in jener Zeit war.«

Litte Friese erhob sich. Nun ihre Stunde gekommen war, fühlte sie sich klar und stark. »Er weiß es, Herr Kommissar.«

»Wie, bitte?« fragte er verblüfft.

Sie hielt tapfer seinen Blick aus. »Er weiß« es und wollte es nur nicht sagen. Deswegen bin ich hier. Er war in der kritischen Zeit mit mir zusammen.«

Nun spürte sie doch ihre Knie schwach werden, und sie setzte sich wieder.

»Ah«, machte der Kommissar. »Wie lange waren Sie mit Herrn Huygens zusammen?«

»Von 11 Uhr an.«

»Und wie lange?«

»Bis Mitternacht.« Ihre Antworten kamen ganz prompt; sie hatte alles genau überlegt.

»Und wo waren Sie mit Herrn Huygens zusammen? Sie begreifen, nicht wahr, daß ich nicht aus Neugierde frage?« Er machte eifrig Notizen und fragte, ohne aufzusehen: »Nun?«

Sie glaubte, ganz fest zu sein, aber ihre Stimme war plötzlich ganz heiser, als sie hervorstieß: »Ich war bei ihm. Bei ihm in seiner Wohnung.«

Einen Augenblick sah er in ihr von Röte überflutetes Gesicht. Es entstand eine Pause, eine gefährliche Pause, die wie eine Leere im Raum sichtbar war, und die an Littes Nerven zerrte.

Ortmann tippte ein paarmal mit dem Füllfederhalter auf das grüne Tuch vor ihm. »Das gibt der Sache ein anderes Gesicht«, sagte er bedächtig. »Sie wissen natürlich, daß Sie diese Aussage gegebenenfalls unter Eid wiederholen müssen?«

»Ich weiß«, erwiderte sie tonlos.

Der Kommissar sah sie flüchtig an; es war ein Blick, in dem sich Mitleid, Zweifel und Bewunderung seltsam zu mischen schienen.

Sie fühlte nur den Zweifel: dieser kühle Mann glaubte kein Wort von dem, was ich sagte. Wahrscheinlich sieht man mir die Lüge an der Stirn an.

Der Gedanke, daß alles vergeblich sein sollte, nahm ihr allen Mut. »Er hat es nicht getan«, rief sie verzweifelt. »Er ist unschuldig. Niemand weiß das besser als ich.«

»Beruhigen Sie sich, Fräulein Friese! Sie müssen sich in meine Überraschung hineinfinden. Herr Huygens hat behauptet, daß er von dieser Stunde nichts Genaues wisse.«

»Er hat es aus Ritterlichkeit verschwiegen.«

»Aber er würde es jetzt, nach Ihrer Aussage, bestätigen?«

»Nie«, rief sie außer sich. »Nie könnte er das. Begreifen Sie das denn nicht? Ich bin doch seine Verlobte.«

»Ich besinne mich, daß Herr Huygens das sagte. Wissen Sie auch, daß Sie als Braut die Aussage hätten verweigern können?«

»Es war mir wichtiger, seine Unschuld zu beweisen.«

»Natürlich verstehe ich Sie«, sagte der Kommissar aufblickend. »Aber auf eine Aussage kann ich unter diesen Umständen nun nicht verzichten. Hat Sie jemand an jenem Abend gesehen?«

»Ich glaube nicht.«

»Herr Huygens hat doch eine Haushälterin, öffnete sie Ihnen vielleicht zufällig?«

Litte fühlte ihr Herz bis an den Hals klopfen: an die Haushälterin hatte sie nicht gedacht. Sie hatte sich überlegt, daß sie kein Restaurant oder Hotel als Aufenthaltsort angeben dürfe, weil man dort leicht nachforschen könne. An die Haushälterin hatte sie nicht gedacht. Aber sie zwang ihr Angstgefühl nieder. »Um die späte Stunde schlief sie natürlich. Sie ist eine ältere Frau, die tagsüber viel zu tun hat.«

Ein Beamter betrat das Zimmer, reichte seinem Vorgesetzten ein Papier und machte flüsternd eine dienstliche Meldung. Endlich ging er, nicht ohne das schöne Mädchen mit einem prüfenden Blick zu streifen.

Jetzt werde ich verhaftet, dachte sie. Aber der Gedanke hatte mit einem Male nichts Schreckliches mehr. Detlev würde es erfahren, er würde sie nur noch mehr lieben.

Nun erhob sich der Kommissar. Nun würde er etwas von »im Namen des Gesetzes« reden? Sie hatte keine Ahnung, wie so etwas vor sich ging.

Aber die ruhige Stimme Ortmanns sagte etwas ganz anderes: »Ich werde sofort dem Untersuchungsrichter, der den Fall Uhlenwoldt unter sich hat, Bericht erstatten. Er ist um diese Stunde sonst nicht anwesend, aber er ist eben von einem Lokaltermin zurückgekehrt. Wünschen Sie sofort Bescheid zu haben?«

Sie stand auf, ihr tränennasses Tüchlein in den Händen windend. »Kann ich nicht hier warten?«

»Nein«, sagte er mit kurzem Auflachen. »Das dürfte Ihre Nerven ein bißchen anstrengen. Es kann nämlich lange dauern. Sie sind telephonisch erreichbar?«

»Natürlich … ja … gewiß …« In ihrer Verwirrung stolperte sie über falsche Zahlen, bis sie endlich ihre richtige Telephonnummer zusammenbrachte.

»Und er kommt frei?« fragte sie mit emporgehobenen Händen.

»Ich hoffe es«, antwortete Ortmann, ohne sie anzusehen. Und dann in leichterem Ton: »Nun ist Ihnen wohl etwas leichter zumute?«

Als sie draußen war, brummte er: »Mir nicht. Der Teufel hole den ganzen Fall Uhlenwoldt!«


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