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18

Sie überlegte lange, was nun zu tun war. Endlich ging sie hinaus und telephonierte von einem anderen Apparat aus ein Krankenhaus an und bestellte eine Krankenschwester, die sofort kommen sollte.

Die Zeit des stillen, tatenlosen Wartens war schrecklich lang, und Litte Friese war wehrlose Beute ihrer widerstrebenden Gedanken.

Was war eigentlich geschehen? Ein zweiter Bruder, den sein Vater in einer wahnsinnigen Laune enterbt hatte, nein, schlimmer: den er seiner Familie beraubt hatte. Detlev wußte von ihm nur, daß er in jungen Jahren gestorben war; von den näheren Umständen wußte er nichts. Uhlenwoldt hatte geschwiegen, und sie wußte jetzt, warum: er hätte die Firma abgeben müssen, wenn Erik noch lebte.

Lebte er noch? Das war die Frage. Daß jener Überlebende vom »Rio Sacramento« einen anderen Namen trug, bewies nichts: Erik hatte sicher genug auf dem Kerbholz, um sich unter die hüllende Decke eines anderen Namens zu begeben. War es dieser Mensch, der Detlevs Namen mißbraucht und ihn zur Verzweiflung getrieben hatte?

Ihre Erregung ebbte einen Augenblick ab. Dann war Detlev nicht krank! Dann war er auf richtiger Fährte, als er von dem anderen sprach, dann war sein Tun gerechtfertigt! Es war nichts mit dem Doppelleben, das der gute Bendix ihr suggeriert hatte. Es gab kein Gegenbeispiel zu jenem Senator von einst. Detlev war gesund. Und er war es immer gewesen.

Ohne zu überlegen, läutete sie Dr. Bendix an. Aber das Mädchen drüben sagte, daß die Herrschaften auf dem Wege ins Theater seien, weil sie vorher noch außerhalb essen wollten. Ihr fiel ein, daß Dr. Bendix ihre eine Karte zugeschickt hatte, die sie Herma Terstiege abgetreten hatte.

Ihre aufflackernde Freude erlosch wieder. Das Schlimmste kam jetzt erst, wenn es sich herausstellte, daß der Mann, hinter dem Detlev und der lange Lesley auf Jagd waren, sein verschollener Bruder war. Ja, das war das Wichtigste. Das mußte ausgeforscht werden. Ihr Agent, nach dem sie so lange nicht mehr gefragt hatte, mußte ihn stellen.

Und dann? Aber dieses »Und dann« wagte sie nicht zu Ende zu denken.

Als die Krankenschwester kam, verließ sie das Geschäftshaus, ohne nach Detlev zu fragen. Ein paar Stunden zum mindesten mußten vergehen, ehe sie die Ruhe und den Mut fand, ihm lächelnd entgegen zu treten. Das furchtbare Dokument nahm sie mit, um es bei sich zu verwahren. Sie mußte eine Waffe gegen Uhlenwoldt haben. Als sie in der Abenddämmerung nach Hause kam, fand sie eine Botschaft Detlevs vor; er hatte sie abholen wollen und bat sie, ihn anzuläuten.

Herma Terstiege setzte sich zu ihr und las einen Brief ihres Axel vor; sie unterbrach sich nur durch Lobeshymnen auf den gebesserten Bräutigam und merkte nicht, daß ihre Freundin kein Wort zu den vielen wichtigen Nachrichten sagte.

»Und wann heiratet ihr, Litte?«

»Es sind noch einige Familienangelegenheiten zu erledigen«, antwortete Litte Friese langsam.

»Bei dir? Ich denke, du bist mit der ganzen Verwandtschaft verkracht?«

»Stimmt. Aber es handelt sich auch nicht um mich.«

»Auf wen hat dein Detlev denn Rücksicht zu nehmen? Doch nicht auf den ollen Mann?«

Glücklicherweise fiel ihr ein, daß Axel nichts von den Tapeten der Münchener Wohnung geschrieben hatte, und sie sauste hinaus, um einen Zusatz zu dem bereits geschriebenen Briefe zu verfassen.

Litte zog sich an und verließ das Haus. Sie beschloß, noch ein Stündchen zu wandern, ehe sie Detlev anläuten würde. Aber als die Frist herum war, stand sie vor seinem Hause, und sie ging hinauf.

»Du wirst noch meinen guten Ruf bei Frau Eggebrecht ruinieren«, drohte er lächelnd.

»Ist es so furchtbar unmoralisch? Du gehst nicht mit der Zeit, Liebster. Hast du noch nie was von Kameradschaftsehe und dergleichen gehört?«

Er hielt sich die Ohren zu. »Laß diese greulichen Schlagworte! Sie stehen dir gar nicht.«

»Und dann mußte ich mich doch entschuldigen, daß ich meinen Pflegeposten abgegeben habe.«

»Ich habe es gehört«, sagte er ernst werdend. »Hat es etwas Unangenehmes gegeben?«

Sie sah zum Fenster hinaus. »Nein. Deinem Onkel geht es nur besser, und er hatte nichts dagegen einzuwenden.« Bobby kam heran, schnüffelte an ihr herum, bellte vergnügt und hörte damit erst auf, als sie ihn kraulte.

Litte war dem Tier für die Unterbrechung dankbar. Detlev fragte nicht weiter, er zeigte ihr einige neue Netzkes und bedauerte, nichts in der Wohnung zu haben, womit er ihren Besuch feiern könnte.

»Weißt du was, Litte? Wir gehen irgendwohin. In einen kleinen schönen Raum und feiern.«

»Was feiern wir, Detlev?« fragte sie mit zuckenden Lippen.

»Unsere Liebe, du Eselein. Was gibt es sonst für uns?«

Sie nickte, an ihn geschmiegt. Er hatte recht. Heute noch wollte sie mit ihm feiern. Wer konnte wissen, was morgen kam?

»Und Bobby nehmen wir mit?«

»Natürlich«, erwiderte er mit einem dunklen Lachen.

»Schon, damit du mich nicht mit jenem verwechselst.«

»Detlev!« schrie sie auf.

Er sah sie forschend an. »Du bist anders als diese letzten Tage. Was ist dir?«

»Sprich nicht von diesen Dingen, bitte, wenigstens heute nicht!«

»Heute nicht. Abgemacht. Aber die Tatsache besteht noch immer, daß ein Mann zuviel in der Stadt ist.«

»Laß das, bitte. Willst du mir denn diese eine Bitte nicht erfüllen?« Sie war dem Weinen nahe.

»Verzeih! Diese Stunde soll nur dir und mir gehören. Und nun wollen wir feiern. Komm, Litte!«

Als sie das Haus verließen, trat eine Gestalt aus dem gegenüberliegenden Torweg. Aber beide waren zu sehr mit sich beschäftigt, um darauf zu achten.

Bruno Nissen hatte vor Littes Haus am Hansaplatz gestanden, er hatte sie verfolgt, ohne eine Anrede zu wagen, und hatte sie hier abgewartet. Seine Phantasie hatte ihm schwüle Bilder vorgegaukelt, während er unter dem erleuchteten Fenster gestanden hatte, die Hände in ohnmächtiger Wut geballt.

Während er den beiden in großem Abstand folgte, stieg ein böser, dunkler Plan in ihm auf. Er erwog ihn nach allen Seiten und kam zu der Überzeugung, daß er nicht gefährlicher war als Dutzende, die er ausgeführt hatte. Eigentlich hatte er diese ganze Huygens-Geschichte aufgeben wollen, in die ihn Nottebohm gedrängt. Aber nun, wo er dies Mädchen wiedersah, ging sein Blut mit ihm durch, und er vergaß seine Vorsätze. Noch ist das Spiel nicht zu Ende, Herr Huygens!

Er folgte langsam, den Hut in die Stirn gedrückt, bis das Paar in ein Weinlokal in der Nähe des Rathauses trat. Den daneben springenden Hund hatte er nicht beachtet. In zwei Stunden erst hatte er die Verabredung mit Charly. Aber in zwei Stunden konnte viel geschehen. Man konnte sich einen neuen Kragen umlegen und die kleine Querschleife binden, die der Nebenbuhler getragen hatte. Man fand wohl auch einen Freund, der einem eine kleine Gefälligkeit erwies.

Detlev und Litte saßen in einer behaglichen Ecke, die vom Duft des Blumenstraußes auf dem Tisch erfüllt war. Mildes Licht tropfte aus den Lichtschalen nieder.

»Ein Ort zum Träumen, Liebster!«

»Sag mir, was du träumst!«

Sie schloß lächelnd die Augen.

»Ich träume, daß wir beide allein auf der Welt sind, und daß du mich küßt.«

Ein diskretes Räuspern des Kellners scheuchte sie aus der Umarmung.

»Essen? Nein. Heute nicht. Höchstens ein paar kleine Toasts mit irgendetwas Schwedischem. Welchen Wein? Oh, davon verstehe ich gar nichts.«

Aber dann genoß sie doch den Sekt, der sie der Wirklichkeit entrückte, und sie trank mehr, als eigentlich gut war.

»Ich glaube, ich bin beschwipst, Detlev. Es ist nur gut, daß mich nicht der Juniorchef von Huygens & Huygens so sieht …«

Es gab eine kleine Störung, als Detlev Huygens sein Glas so heftig hinsetzte, daß es zerbrach und ihm einige Risse in die Hand schnitt. Sie kühlte die kleine Verletzung mit Eiswasser und schloß sie mit ihren Küssen.

»Für solche Medizin schneide ich mich auch gern in die andere Hand.«

»Dann bist du auch beschwipst, Detlev. Und es ist nur gut, daß dich deine Privatsekretärin nicht in diesem Zustand sieht.«

»Alle Autorität wäre dahin.«

»Vollkommen. Es wäre nicht auszudenken. Prost darauf!«

Bobby hatte wie ein ausgehungerter Wolf gefressen und es sich auf dem Seidenstoff eines Polsterstuhls bequem gemacht, was der Kellner mit einigem Stirnrunzeln bemerkte.

»Der Köter schnarcht wie ein Wachtmeister.«

»Siehst du nicht, daß es nur Takt bei ihm ist?«

»Ich sehe es ein, und wir wollen ihn nicht stören. Wir wollen sein Zartgefühl ausnützen.«

Erst das energische Räuspern des Ober trennte sie.

»Herr Huygens wird am Telephon gewünscht.«

»Das muß ein Irrtum sein. Niemand weiß, daß ich hier bin.«

Der Kellner wiederholte achselzuckend seine Bestellung.

»Vielleicht hat ein Bekannter herumtelephoniert, bis er dich ausfindig gemacht hat?«

»Bei Lesley wäre es möglich.« Plötzlich runzelte sich seine Stirn. Vielleicht war er mit dem anderen, verwechselt worden? Dann konnte hier eine Spur sein.

Ohne Litte etwas von seinem Verdacht zu sagen, ging er hinaus, dem Kellner zur Telephonzelle folgend.

Litte drehte einen der Lichtschalter aus und lehnte sich wohlig in den Sessel zurück. Der ungewohnte Sekt hatte sie müde gemacht; aber es war eine angenehme Müdigkeit, in der alle Gedanken und Sorgen versanken wie in einem stillen, tiefen Wasser.

Alles kann noch gut werden … empfand sie dunkel … alles wird noch gut werden … wir lieben uns … alles wird gut …

Das drollige Schnarchen des Hundes gab der Stunde eine heitere Note, und sie blickte aus halbgeschlossenen Lidern lächelnd dem Eintretenden entgegen.

»Pst«, machte sie. »Leise! Unser Wächter schläft.«

Sie fühlte sich vom Arm des Mannes umschlossen. Seine Küsse brannten auf ihrem Gesicht. Sie fühlte seine fiebernden Hände an ihrem Kleid entlang gleiten. Besitz heischend und ergreifend.

»Wer war der Störenfried, Liebster?« flüsterte sie.

»Pst«, machte er, und sie schwieg sofort. Jeder Laut mußte den Zauber dieser Minuten zerstören.

Allmählich verblaßte dieser Zauber. Diese Arme, die sie eng umschlossen, und diese Küsse jagten ihr eine unerklärliche Angst ein.

Ihr Lächeln schwand, und sie löste sich mit einem kräftigen Ruck aus der Umarmung, die mehr eine Umklammerung war.

»Nicht so, Detlev. Vernünftig sein. Genug. Verstehst du nun?«

Als sie die Augen aufschlug, lenkte das Knurren des Hundes ihre Aufmerksamkeit dorthin. Er war erwacht, vom Stuhl gesprungen und näherte sich nun knurrend und witternd.

»Verdammter Köter!« hörte sie hinter sich murmeln.

Was war nur mit dem Hund? Ihre beruhigenden Worte verfingen nicht, sie schienen ihn nur noch mehr aufzureizen. Sein kurzes, hartes Gekläff schlug an ihr Ohr. War er eifersüchtig? Nun mußte sie trotz ihrer Verwirrung doch lächeln.

»Bobby, pfui! Gleich ruhig sein!«

Aber der Hund ließ nicht locker. Er fletschte die Zähne und stand sprungbereit. War er toll geworden?

Hilfesuchend tastete sie nach der Hand des Mannes. Sie faßte vorsichtig zu, um die wunde Stelle nicht zu drücken. Aber hier war gar keine Verletzung! War es die andere Hand gewesen? Nein, Detlev hatte das Glas natürlich in der Rechten gehalten.

Verwirrt suchte sie die Risse an der anderen Hand. Mit Entsetzen sah sie, daß sie nicht vorhanden waren.

Mit einem Schlage fühlte sie sich ernüchtert, als hätte ihr jemand den Eiskübel hier jäh über den Kopf gegossen.

Der Mann, der sie eben in den Armen gehalten hatte, war nicht Detlev!

Sie sprang auf. Aber ehe sie ihn gepackt hatte, war der Eindringling schon verschwunden.

Der Hund raste ihm bis zum Eingang nach, bellte weiter und blickte von Zeit zu Zeit zu ihr herüber. Bleib' nur da! Ich wache – sagte sein Blick.

Litte sank in den Sessel zurück. Der Hund hat mich gerettet, empfand sie dunkel.

Das Bellen des Hundes nahm eine andere Tonlage an; es wurde freudig erregt.

Und da hatte Litte ihren ersten klaren Gedanken in dieser Stunde: Detlev durfte nichts hiervon erfahren! Er durfte nicht.

Was hier geschehen war, würde kein Mann dem anderen verzeihen, wer er auch war … und wer dieser andere auch war …

Detlev Huygens trat ein und knipste ärgerlich das Licht an.

»Eine Dummheit oder ein Unfug. Natürlich nicht Lesley. Ein Mensch, den ich nicht kenne, und der seinen Namen einstweilen nicht nennen kann, will mich auf die Spur des Doppelgängers bringen, von dem er gehört hat. Er handelte um die Summe für das Preisgeben seiner Entdeckung, er handelte Mark für Mark. Schließlich wurde es mir zu dumm, und ich habe ihn für morgen ins Kontor bestellt.« Er wird kommen, dachte Litte, es war ein gemeines, abgekartetes Spiel. Aber Detlev durfte nichts wissen. Zum mindesten nicht, bis sie wußte, wer dieser andere war.

Während Detlev die Gläser füllte, sah sie die Risse auf seiner Hand. Sie fühlte sich von wilder Zärtlichkeit erschüttert. Sie hätte ihren Kopf auf diese Hand legen und mit ihren Küssen bedecken mögen.

Aber ihr Mund war beschmutzt und entweiht. Ihr ganzer Leib war es, über den seine gierigen Hände getastet hatten … Am besten wäre es, in ein Bad zu stürzen und alles wegzuwaschen und die Erinnerung dazu.

»Was ist dir, Liebste?« fragte er plötzlich. »Du bist ganz blaß?«

»Nichts, Detlev, ich bin nur ein wenig müde. Es ist für mich doch ungewohnt. Ich bin schrecklich müde.«

Sie beugte sich zu dem Hund herunter, der sie verständnisvoll ansah.


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