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20

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Huygens!«

»Danke.«

Kriminalkommissar Ortmann blätterte einen Augenblick in dem dünnen Aktenband, der vor ihm lag. Einem guten Beobachter wäre es aufgefallen, daß er gar nicht darin las. Seine Blicke huschten über die Seiten und irrten dann scheinbar zufällig über das Gesicht des vor ihm Sitzenden. Detlev Huygens hatte aber nicht die geringste Stimmung zum beobachten. Er betrachtete das gut geschnittene, etwas leere Gesicht des Beamten und den jungen Protokollführer, einen sommersprossigen Jüngling mit rotem, aufgebürsteten Haar. Das Paar Handschuhe, das er lose in den Händen hielt, wurde erbarmungslos zusammengeballt und zerdrückt.

Plötzlich sprang ihn die Frage Ortmanns an: »Was denken Sie über den Tod Ihres Onkels, Herrn Uhlenwoldt?«

»Ich weiß nichts.«

»Wann erfuhren Sie davon?«

»Heute früh. Ich wollte gerade mein Morgenbad nehmen.«

»Die Beamten waren bereits um 6 Uhr bei Ihnen. Stehen Sie immer zu so früher Stunde auf?«

»Immer.«

»Das ist eine gute Gewohnheit«, meinte der Kommissar lächelnd. »Ich habe sie leider nicht. Stehen Sie übrigens auch dann so früh auf, wenn Sie abends spät nach Hause gekommen sind? Wenn Sie zum Beispiel etwas gebummelt haben?«

»Auch dann. Es kommt aber selten bei mir vor.«

»Sie scheinen wirklich der Typus des soliden Mannes zu sein.«

»Ist das strafbar?« fragte Detlev Huygens scharf.

Ortmann steckte sich lachend eine Zigarre an. »Eine lustige Frage. Rauchen Sie übrigens nicht auch? Bitte, bedienen Sie sich.« Er reichte ein ledernes, etwas altmodisches Etui herüber.

»Danke. Ich möchte jetzt lieber verzichten.«

»Solidität ist wirklich nicht strafbar, nämlich, wenn sie tatsächlich vorhanden ist, Herr Huygens. Ob das bei Ihnen vorhanden ist, wage ich zu bezweifeln, denken Sie mal!«

»Und worauf gründen Sie Ihre Zweifel?«

»Auf Beobachtungen anderer. Wir wissen allerlei über Sie.«

»Davon bin ich überzeugt. Ein Mann in meiner Stellung lebt sozusagen in einem Glaskasten. Aber Sie haben mich doch sicherlich nicht vorladen lassen, um mit mir über meinen Lebenswandel zu plaudern?«

»Natürlich nicht. Lassen wir also mal diesen Punkt beiseite.« Er beugte sich über den Tisch. »Sie haben mir immer noch nicht meine Frage beantwortet.«

»Meines «Wissens habe ich schon eine ganze Menge Fragen beantwortet«, gab Huygens kühl zurück.

»Ja, aber die wichtigste nicht. Ich wiederhole sie also: Was wissen Sie vom Tode Ihres Onkels?«

»Ich weiß nichts. Sie haben mir nicht einmal Zeit gelassen, seine Leiche zu sehen.«

»Aber Sie werden sich doch Gedanken darüber gemacht haben?«

»Ich war erschüttert, als ich es erfuhr, wie Sie sich denken können. Aber ich sehe vollkommen ins Dunkle.«

»Hatte Ihr Onkel Feinde, von denen Sie wissen?« Huygens überlegte. »Mein Onkel ist immer ein herrischer Mann gewesen. Er war bei unserem Personal und wohl auch anderswo mehr gefürchtet als beliebt.«

»Er hatte recht rauhe Manieren, nicht wahr?«

»Dafür war er in ganz Hamburg bekannt. Aber daß er Feinde gehabt hätte, kann ich mir kaum denken. Er kam auch nur mit wenigen Leuten zusammen.«

»Hat er Drohbriefe bekommen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wir wissen es aber. Es sind auch Erpresserbriefe gefunden worden.«

»Die bekommt wohl jeder Reiche mal.«

»Möglich. Aber dann wendet man sich wohl doch gewöhnlich an die Behörden.«

Huygens zuckte die Achseln. »Mein Onkel war ein furchtloser Mann und hat über sowas wahrscheinlich nur gesagt, was Bismarck in einem ähnlichen Falle sagte: ›Da lach ick öwer!‹ Das wird auch wohl jeder tun, der ein gutes Gewissen hat.«

»Man könnte auch an andere Möglichkeiten denken. Jedenfalls sind wir hier auf einem Punkt, der aufgeklärt werden muß. Herr Uhlenwoldt war stark an dem Spritschmuggel nach Finnland beteiligt. Er soll sogar der führende Kopf gewesen sein.«

»Leider.«

»Bei solchen immerhin ungewöhnlichen kaufmännischen Transaktionen hat man es doch mit allerlei lichtscheuem Gesindel zu tun, wie?«

»Ich bin darüber nicht orientiert.«

»Sie haben sich an diesen Geschäften nicht beteiligt?«

»Nein, ich war von Anfang an dagegen.«

»Wie ist Herr Uhlenwoldt denn eigentlich darauf gekommen?«

»Die Firma hatte bei dem Zusammenbruch des Stern-Konzerns erhebliche Verluste erlitten. Ich wollte die Firma auf eine kleinere Basis stellen, aber mein Onkel war dagegen. Er griff sofort zu, als ihm das Spritgeschäft angeboten wurde. Er sagte mir damals: Wenn es durchaus mit offenen Karten nicht geht, spielen wir eben mit verdeckten Karten.«

»Damit sagte er, daß es sich um lichtscheue Geschäfte handelte, nicht wahr?«

»Natürlich.«

»Wenn Sie nun auch die Sache nicht mitmachten, und das wissen wir, dann mußten Sie als klar denkender Mann doch wissen, daß sich nicht die besten Elemente an solchem Geschäft beteiligen.«

»Das war auch der Grund für meinen damaligen Widerspruch.«

»Sehr vernünftig von Ihnen. Ich könnte mir vorstellen, daß da allerlei Desperados am Werk waren, die um des hohen Gewinns willen das Risiko auf sich nahmen. Und wie groß das Risiko war, haben wir bei der Geschichte mit dem ›Pikbuben‹ gesehen.«

»Ich war froh, daß die Sache aufhörte, wenn der Ruf der Firma dadurch auch nicht besser wurde.«

»Aber besteht nicht die Möglichkeit, daß Herr Uhlenwoldt mit einem oder mehreren seiner Mitverschworenen in Streit geraten wäre? Etwa um den Anteil an der Beute?«

»Davon ist mir nichts bekannt.«

»Es könnte zum Beispiel sein, daß ihn so ein Mensch, ob mit Recht oder Unrecht, gestellt hätte, und daß bei dieser gewiß nicht sehr liebenswürdigen Auseinandersetzung ein Streit entstanden wäre, der zu Gewalttätigkeiten führte?«

Huygens sann nach. Die Fragen schienen ihm sinnlos. »Ich kann mir nicht denken«, sagte er endlich, »daß mein Onkel ausgerechnet solch einen Menschen zu so später Stunde zu sich kommen ließ.«

»Vielleicht gerade zu solcher Stunde. Wer kann das wissen?«

»Es wäre ganz und gar gegen seine Gewohnheiten gewesen. Er war sehr vorsichtig und im übrigen fast menschenscheu.«

»Das würde einander nicht ausschließen. Wie kam es eigentlich, daß die Krankenschwester, die Sie engagiert hatten, nicht bei ihm Nachtwache hielt?«

»Er befand sich bereits auf dem Wege der Besserung, und er haßte es, fremde Menschen um sich zu haben.«

»Er hat sie also selber weggeschickt?«

»Das nehme ich an. Es sähe ganz nach ihm aus.« »Nun, das wird sich leicht feststellen lassen. Jedenfalls steht fest, daß er in dieser Nacht allein war, und der Täter keinen unbequemen Zeugen zu gewärtigen hatte.«

»Vorausgesetzt, daß er es gewußt hat.«

»Können Sie sich wirklich niemand vorstellen, der darum gewußt hat? Vielleicht einer der Besucher des letzten Tages?«

»Nein.«

»Schade. Unter diesen ist sicher der Mörder zu suchen.« Huygens fuhr zusammen. »Steht denn fest, daß ein Mord begangen wurde?«

»Herr Uhlenwoldt ist durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand getötet worden. Der Tod scheint sofort eingetreten zu sein. Die Untersuchung hierüber ist noch nicht abgeschlossen – das kann ich Ihnen ruhig anvertrauen.«

»Warum auch nicht?« fragte Huygens verwundert.

»Strengen Sie nun bitte Ihre Phantasie an, Herr Huygens! Können Sie niemand nennen, der einen solchen Zorn auf Ihren Onkel hatte, daß er ihn erschlug?«

»Niemand.«

»Es braucht nicht gerade ein Mord im Sinne des Gesetzes gewesen zu sein. Vielleicht handelte es sich nur um ein Zuschlagen in einem erregten Stadium. Vielleicht war es nur Notwehr. Herr Uhlenwoldt war ein stämmiger, kräftiger Mann, wenn ihn die Krankheit auch etwas geschwächt haben mochte. Denken Sie noch einmal nach.« Es kam Huygens dunkel zu Bewußtsein, daß ihm mit diesen Fragen eine Falle gestellt war. Aber er konnte den Zweck nicht einsehen.

»Es ist natürlich alles möglich«, antwortete er unruhig. »Aber auf eine bestimmte Person kann ich nicht kommen.«

»Vielleicht ein entlassener Angestellter?« drängte der Kommissar.

»Bei uns ist seit Jahresfrist niemand entlassen worden. Ein Herr und eine Dame haben von sich aus gekündigt.« Der Kommissar wurde ernst. Seine Stimme klang fast herzlich, als er fortfuhr: »Ich meine es gut mit Ihnen, Herr Huygens. Ich baue Ihnen wahrscheinlich mehr Brücken, als sich mit meinem Amt verträgt. Ich möchte alle Möglichkeiten eines solchen Zusammenstoßes erwägen. Erschweren Sie mir doch diese Aufgabe nicht!«

»Tue ich das denn?«

»Sie sind bemüht, ich möchte fast sagen, Sie sind ängstlich bemüht, jeden zu entlasten, der etwa für die verbrecherische Tat in Frage kommen könnte.«

»Weil ich nur die Wahrheit sagen will.«

Ortmann lehnte sich mit einem kleinen Seufzer zurück und nahm wieder die Akten zur Hand. Diesmal schlug er eine bestimmte Seite auf, die durch einen Zettel markiert war. »Sie haben oft Streit mit Ihrem Onkel gehabt?«

»Ja.«

»Es soll bisweilen zu recht heftigen Szenen gekommen sein.«

»Wir sind beide nicht ohne Temperament.«

»Und diese Zwistigkeiten waren nur geschäftlicher Natur? Solche privater Natur gab es nicht?«

»Ich wüßte keine, außer, daß ich mich mit ihm von Jugend an nicht gutstand.«

»Er hatte keine Freunde?«

»Freunde? Wer ihn gekannt hat, würde diese Frage nicht stellen.«

»Hatten Sie beide nicht auch Streit wegen Ihrer Privatsekretärin?«

Huygens schlug mit dem Handschuhpaar auf seine Knie.

»Ich muß sehr bitten, Herr Kommissar.«

»Es genügt ein ja oder nein«, unterbrach Ortmann ihn kühl.

»Unsere Sekretärin, Fräulein Friese, ist meine Braut.«

»Das ist eine andere Sache. Und Herr Uhlenwoldt wußte davon?«

»Ja.«

Huygens war dicht daran, aufzustehen und fortzugehen; aber in diesem Augenblick traf ihn die Frage: »Wo waren Sie in jener Stunde, als die Tat geschah?«

»Ich weiß doch nicht einmal, wann sie geschah«, erwiderte er in schroffem Ton.

Der Kommissar zündete sich ein Streichholz an, obwohl die Zigarre noch brannte. Als er es wieder ausgeblasen hatte, las er aus einem Aktenblatt: »Die Tat wurde wenige Minuten nach 11 Uhr begangen. Die Zeitspanne beträgt 10 Minuten. Von 11.05 Uhr bis 11.15 Uhr. Oder wenn Sie lieber wollen: 23 Uhr.«

»Weiß man das so genau?« fragte Huygens erstaunt, und er fühlte im gleichen Augenblick, daß diese überflüssige Frage eine Dummheit gewesen war.

Ohne, wie es schien, diese Zwischenfrage zu beachten, fuhr Ortmann fort: »Der Wächter der Schließgesellschaft, ein vertrauenswürdiger Mann, hat um 11.05 Uhr die Haupttüre noch verschlossen gefunden. Als er zehn Minuten später zurückkam, stand die Türe auf. Er betrat, im Gefühl, daß hier etwas nicht in Ordnung sei, das Haus und fand die Tür zum Arbeits- und Schlafzimmer auf und dahinter den Toten.«

»Dann muß es wohl stimmen«, fiel Huygens mit erwachendem Trotz ein. Er begann, diesen Menschen zu hassen.

»Ja, es stimmt. Darauf können Sie sich verlassen. Selten ist eine so genaue Zeitbestimmung möglich. Die Herren Verbrecher machen uns die Arbeit recht schwer.«

»Das gehört wohl zu ihrem Beruf«, sagte Huygens mit einem mißglückten Versuch, zu lächeln.

»Es freut mich, daß Sie soviel Humor haben, Herr Huygens. Das wird unsere Aussprache bedeutend erleichtern. Wo waren Sie eigentlich in der fraglichen Zeit? Schliefen Sie schon?«

»Um 11 Uhr? Nein. Soviel ich weiß, war ich in meinem Klub in der Johnsallee.«

»Soviel Sie wissen?« wiederholte der andere. »Das ist keine sehr genaue Angabe.«

»Nein«, gab Huygens gereizt zu. »Ich habe nämlich die Uhr nicht in der Hand gehabt.«

Der Kommissar tat, also ob er den Ausfall nicht bemerkte. »Und die Herren, mit denen Sie sprachen, werden auch kaum genauere Angaben machen können.«

»Es fehlte auch jede Notwendigkeit dazu.«

»Und wo waren Sie vorher?«

»Ich habe Einkäufe gemacht und bin spazieren gegangen –«

»Herr Huygens!« unterbrach Ortmann. »Es regnete stark in dieser Zeit. Es war kein Grund zum Spazierengehen.« »Ich bin ein Hamburger Kind; ein bißchen Regen erschreckt mich nicht.«

»Hm –«, machte der Kommissar, »dann werden Sie sicher beschreiben können, wo Sie lang gegangen sind. Getroffen haben Sie natürlich niemand?«

»Nein, natürlich niemand!« Huygens äffte beinahe dem Kommissar nach. Er war jetzt ehrlich wütend. Er war mit tausend Gedanken im Kopf durch die regnerischen Straßen geschlendert. Jetzt sollte er plötzlich sagen, welche Straßen das waren. Wozu eigentlich? Und was ging das schließlich diesen Menschen an? »Genaueres kann ich Ihnen nicht angeben«, schloß er trotzig.

»Sie scheinen nicht zu wollen. Und das ist schade. Für Sie.«

Das Wort hing einige Minuten in der Stille des Raumes. Huygens fühlte ein Netz niedergleiten, in das er sich mit jedem neuen Wort mehr verstrickte. Seine ratlosen Blicke glitten durch den nüchternen Raum über die sachlich ernsten Gesichter der Beamten.

»Ich kann es im Augenblick wirklich nicht sagen«, begann er verwirrt. »Vielleicht später. Morgen. Ist es denn so bedeutungsvoll?«

Der rothaarige Protokollführer warf seinem Vorgesetzten einen verblüfften Blick hinüber, den Huygens auffing.

»Was soll das alles? Soll ich etwa mein Alibi nachweisen?« Ortmann schlug, ohne zu antworten, eine neue Seite auf. »Es ist der sonderbarste Fall meiner Praxis. Dem Verbrecher ist ein Malheur passiert, und zwar ein ganz ungewöhnliches, mit dem er kaum rechnen konnte. Ihr Onkel hatte nämlich in seinem Arbeitszimmer einen Photoapparat aufgestellt. Sie kennen doch diese netten, kleinen Apparate, mit denen man sich selber photographieren kann?«

»Blitzlicht?«

»Ja, aber hier war eine kleine Verbesserung, einen kleinen Trick kann man es nennen. Ein Draht, der von der Tür zum Apparat ging, löste den Verschluß aus, wenn eine ungeschickte Hand ihn berührte und – er wurde photographiert. Herr Uhlenwoldt war ein kluger Mann, leider letzten Endes doch nicht klug genug.«

»Ich wußte nichts von solchem Apparat.«

»Leicht möglich«, erwiderte Ortmann, mit einem leichten Hüsteln, in das der Protokollführer sofort einstimmte. »Es war die geschickte Maßregel eines vorsichtigen Mannes.«

»Und was ist nun das Malheur des Täters?«

Der Kommissar sah ihn groß an. »Sagte ich es noch nicht? Er hat diesen Kontakt berührt, und er ist photographiert worden!«

Huygens sprang auf. »Aber dann haben wir doch den Täter«, rief er glücklich.

»Die Platte ist noch nicht entwickelt«, entgegnete Ortmann vorsichtig. »Ich erwarte sie jeden Augenblick.«

»Gott sei dank. Hoffentlich ist sie gelungen.« Huygens lachte befreit auf. Alle Last dieser Stunde glitt ab und versank. »Jetzt bitte ich Sie doch um eine Zigarre, Herr Kommissar.«

»Bitte.« Ortmann betrachtete ihn aufmerksam. Dieser Mann gab ihm immer neue Rätsel auf.

Als Huygens die Zigarre entzündet hatte, nahm er wieder Platz und blies ein paar Rauchringe in die Luft. »Sie haben mir beinahe einen gehörigen Schreck eingejagt«, sagte er lachend.

»Habe ich das?«

»Na, hören Sie mal, Ihr Verhör war nicht von Pappe. Und ein bißchen ungewohnt ist sowas für unsereinen denn doch. Die ganze Umgebung hier ist nicht gerade ermunternd. Bißchen zu nüchtern, zu sachlich. Könnte man sowas nicht behaglicher ausgestalten?«

»Ich fürchte, unsere Behörde hat wenig Verständnis für Komfort.«

»Warum nicht?« plauderte Detlev Huygens vergnügt. Ein gemütlicherer Raum würde manchen Angeklagten vielleicht in größere Sicherheit wiegen.«

»Das wäre ein Gesichtspunkt, der zu bedenken wäre«, sagte der Kommissar mit einem kurzen Auflachen.

»Nicht wahr? Hier sieht gleich alles so scheußlich nach Verhör aus? Beinahe hätte ich gesagt: nach Folter und Fragerei.«

»Aus den Zeiten sind wir längst heraus.«

»Ich weiß nicht, ob die zeitgemäße Art des Verhörs der Folter von einst viel nachsteht. Schließlich sind unsere Nerven im Laufe der Jahrhunderte verfeinert worden. Sie sind empfindlicher und reagieren schneller.«

»Auffassungssache, Herr Huygens. Die Mehrzahl unserer Angeklagten verfügt über recht robuste Nerven.«

»Sicherlich nur die Gewohnheitsverbrecher.«

»Die gelegentlichen Verbrecher geben uns meist viel mehr Rätsel auf«, sagte Ortmann mit einem sonderbaren Blick, der den anderen irgendwie ernüchterte.

Ein Druck auf einen Knopf rief einen Beamten ins Zimmer.

»Ist die Platte schon entwickelt?«

»Ich frage sofort nach, Herr Kommissar.«

»Ich warte darauf.«

Nach wenigen Minuten eines merkwürdig beklemmenden Schweigens kam der Beamte zurück und legte ein Papier auf den Tisch vor seinen Vorgesetzten hin.

Dieser nahm den noch feuchten Abzug auf und reichte ihn dem Protokollführer, der Huygens darauf ungeniert betrachtete.

»Sie können gehen, Kästner!«

Er wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, und wandte sich Huygens zu, ohne ihm das Bild zu zeigen.

»Sie sagten vorhin, Sie könnten Ihr Alibi für die fragliche Zeit nicht angeben. Darf ich Ihrem Gedächtnis etwas nachhelfen?«

Huygens fiel sofort der veränderte Ton Ortmanns auf.

»Ich bitte darum«, entgegnete er bedrückt.

»Sie sind zu dieser Stunde in der Straße Butenfleeth gewesen. Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Daß es ganz ausgeschlossen ist«, rief Huygens aufgebracht. »Es ist heller Irrsinn. Was sollte ich da zu dieser Stunde?«

»Das eben möchten wir auch gern wissen. Aber« – und nun betonte er jedes Wort – »Sie sind um diese Stunde dort gesehen worden.«

»Wer will mich gesehen haben?«

»Der Wächter der Schließgesellschaft, der Sie kannte. Er hat Sie trotz Ihrer Verkleidung und trotz des starken Regens erkannt.«

»Der Mann muß betrunken gewesen sein.«

»Das kommt nicht in Frage. Die Gesellschaft kennt den Mann als einen verläßlichen, nüchternen Menschen.« Seine Stimme war scharf und abweisend; nichts von dem gemütlichen Plauderton lag mehr darin.

Huygens fühlte sich von eisernen Klammern umfaßt, die kein Entrinnen zuließen. Es war ein schwerer Absturz von seinem Befreiungsgefühl. Klar denken! Nur klar denken! Irgendwo mußte doch ein Fehler in der Beweisführung des Gegners sein, der ganz bestimmten Gedankengängen nachzugehen schien.

»Sie haben doch die Photographie? Ist sie denn nicht geglückt?«

»Sie ist ausgezeichnet herausgekommen. Wollen Sie sie sehen?«

Er reichte das Blatt herüber, und Huygens starrte in ein Gesicht, das dem seinen auf's Haar glich; trotz der schiefen Mütze, der angeklebten Haare war es sein Gesicht – wie jenes, das ihn von der Filmleinwand angelacht hatte.

Und im gleichen Augenblick wußte er, daß es »der andere« war, den er in den letzten Wochen, die soviel Glück und so wenig Aufregung gebracht hatten, fast vergessen hatte. Das Papier entglitt seiner Hand. Es kostete ihn große Anstrengung, sich zu bücken und es aufzuheben.

»Nun, was sagen Sie zu diesem Bild?«

»Es ist dieser Kerl«, keuchte Huygens, »dieser Elende … er ist es wieder …«

»Wer ist es?« fragte der Kommissar erstaunt.

»Es ist dieser Mensch … mein Doppelgänger …«

Beinahe hätte Ortmann aufgelacht. Auf so eine dumme Ausrede war er nicht vorbereitet gewesen. »Aber! Aber!« sagte er nur.

»Ich habe hier in der Stadt einen Doppelgänger, der mir monatelang das Leben verbittert hat. Ich schwöre es Ihnen.«

Der Kommissar winkte ab. »Geschworen wird hier nicht. Und das ist auch für manchen ganz gut so.«

»Nach englischem Recht könnte ich in diesem Stadium der Untersuchung schwören.«

»Ich weiß«, meinte der Kommissar mehr für sich. »Aber wenn man Hamburg auch Englands Vorort auf dem Festland nannte, wir sind auf deutschem Boden und richten nach deutschem Recht.«

»Aber Sie müssen mir glauben. Sie müssen. Hören Sie mich doch wenigstens an.«

»Selbstverständlich. Beruhigen Sie sich nur.«

Huygens stäubte gedankenlos die Asche auf den Boden und murmelte ein paar undeutliche Worte des Bedauerns. Endlich sammelte er sich und begann von all diesen unglaublichen Dingen zu erzählen, die dieser rätselhafte Mensch ihm angetan hatte. Von dem Betrug an seinem Privatkonto, von der peinlichen Klubaffäre, von all dem anderen.

Je länger er erzählte, desto ruhiger begann er zu werden; sein anfangs wirrer Bericht wurde klarer und reicher an Einzelheiten.

Der Kommissar beobachtete ihn aufmerksam. Dies verzweifelte Gesicht, diese ins Einzelne gehende Schilderung machte ihn stutzig. Das war kein Verbrecher, der als letzten Ausweg eine tolle Ausrede machte, oder er selber war kein Menschenkenner.

»Wir werden auch diese Aussage prüfen«, sagte er nach einer Weile. »Darauf können Sie sich verlassen. Aber eins können Sie schon jetzt sagen: haben Sie Polizei und Gericht von diesen Verbrechen unterrichtet?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Ich wollte diese Lächerlichkeit nicht vor der ganzen Stadt ausbreiten. Zunächst spielte ich dabei doch nur eine dumme Rolle. Wer setzt sich denn gerne dem allgemeinen Gelächter aus?«

»Es war ein schwerer Fehler, sich so ohne weiteres betrügen und bestehlen zu lassen. Und ich fürchte, Sie werden wenig Menschen finden, die Ihren Argumenten so bereitwillig folgen, wie es für Sie wünschenswert wäre.«

»Ich wollte ihn allein aufspüren. Ich hatte allmählich das Gefühl, daß es hier ein Duell im Dunklen geben sollte, das nur zwischen ihm und mir ausgefochten werden konnte. Ich bin auf der Jagd nach ihm gewesen, ich bin durch die Unterwelt der Stadt gestreift wie ein Jäger. Mehrere Male entdeckte ich seine Spur, aber er ist mir immer wieder entwischt.«

»Schade«, unterbrach ihn der Kommissar trocken. »Sehr schade. Aber Sie werden wohl einsehen, daß dieser – – Doppelgänger für uns nichts anderes ist als der große Unbekannte.«

»Ich kann nichts anderes aussagen.« Huygens ließ mutlos den Kopf sinken. Alles sprach gegen ihn. Wie sollte dieser Mann, dessen Amt Mißtrauen gegen seine Aussagen bedingte, ihm glauben?

»Sie meinen tatsächlich, man würde ihn fassen können?«

»Man muß es, Herr Kommissar. Ich stifte jede Belohnung, die Sie für richtig halten.«

Ortmann machte eine neue Notiz. Huygens' Augen starrten aus seinem verfallenen, aschgrauen Gesicht auf diese Finger, die ihm sein gnadenloses Urteil zu schreiben schienen.

Er zuckte unter der neuen Frage zusammen: »Nach dem Ableben Ihres Onkels Uhlenwoldt werden Sie Alleininhaber der Firma. Ist es nicht so?«

»Gewiß. Aber Sie werden doch nicht glauben, daß ein Kaufmann deswegen den Kompagnon erschlägt? Und dann – – sehen Sie mich doch einmal an. Ihr Beruf bedingt Menschenkenntnis. Sehe ich so aus, als ob ich überhaupt einer Gewalttat fähig wäre? Meine Persönlichkeit spielt am Ende doch auch eine Rolle, auch wenn im Augenblick einige Indizien gegen mich sind.«

»Sie wäre unter Umständen entscheidend. Aber auch hier sind Bedenken. Erinnern Sie sich einer Szene am Fischmarkt?«

»Was soll das für eine Szene sein? Da bin ich mit Bewußtsein jahrelang nicht gewesen.«

»Es tut mir leid, daß ich auch hier Ihr Gedächtnis auffrischen muß. Sie sind dort bei einer richtigen Straßenboxerei beobachtet worden. Und ein diensttuender Beamter hat Ihren Namen aufnotiert.«

»Dann müßte ich doch zum mindesten ein Strafmandat bekommen haben?« Huygens fühlte, daß er kämpfen müsse, aber es war ein unglaublich aussichtsloser Kampf.

»Es wird wohl in diesen Tagen fällig sein.«

»Es würde mir sehr lieb sein, Tag und Stunde dieser Feststellung zu wissen.«

Der Kommissar wurde ungeduldig. »Das wird alles zur rechten Zeit geschehen. Verlassen Sie sich darauf.«

»Aber das müssen Sie mir doch sagen, ob ich mich damals legitimiert habe?«

»Auch dieser Einwand fällt in sich zusammen. Ein uns gut bekannter Privatdetektiv hat Sie erkannt und Sie legitimiert. Übrigens brauchen Sie sich gerade dieser Tat nicht zu schämen: Sie züchtigten einen Rowdy, der ein Kind prügelte.«

»Das ist die erste anständige Tat, die ich von diesem Menschen höre.«

»Also auch hier der große Unbekannte?«

»Auch hier«, klang es verzweifelt zurück.

Ortmann blätterte in den Akten; die Aussagen dieses Detektivs machten ihn einen Augenblick stutzig. Dann glaubte er, die Taktik des Angeklagten plötzlich zu durchschauen. Alle seine Aussagen standen unter diesem Gesichtspunkt ihrer Grundidee, und die war nicht schlecht.

»Ihre Zigarre ist ausgegangen«, sagte er höflich, als befänden sie sich als Gleichberechtigte in einer Gesellschaft.

»Wollen Sie nicht eine neue?«

»Danke.« Huygens zündete sich seine ausgegangene Zigarre wieder an und dachte dabei: das ist das erstemal, daß ich sowas tue.

»Es gibt Krankheitsfälle psychischer Art«, begann der andere vorsichtig. »Dämmerungszustände oder so ähnliches. In solchen Fällen ist der Betreffende für sein Tun nur bedingt verantwortlich. Wissen Sie darüber Bescheid?«

»Gewiß. Das ist doch Allgemeingut.«

»Es gibt Naturen, die Dinge tun, von denen sie später, wenn sie klar geworden sind, nichts mehr wissen. Bei Verschütteten im Kriege zum Beispiel hat man dergleichen sonderbare Dinge festgestellt. Sie waren nicht im Krieg?«

»Ich habe als Achtzehnjähriger an der letzten Offensive an der Westfront teilgenommen, ich bin aber nicht verwundet worden.«

»Solchen Dämmernaturen stünde der bekannte Paragraph zur Seite. Darüber sind Sie doch unterrichtet?«

»Natürlich. Ich habe doch Gerichtsverhandlungen gelesen, übrigens auch Aufsätze von Kriminalisten, die gegen eine zu weitherzige Auslegung dieses Paragraphen ankämpfen. Ich bin der Meinung, daß sowas nur von Fall zu Fall entschieden werden kann.«

»Und in Ihrem Fall?«

Die Frage war ganz leicht hingeworfen. Aber Huygens, der sich durch den Ton des Verhörenden nicht mehr täuschen ließ, fühlte eine neue Falle, vielleicht die entscheidende.

Endlich richtete er sich auf. »Das kommt in meinem Falle gar nicht in Frage. Ich bin für jede meiner Taten voll verantwortlich.«

Der Kommissar räusperte sich, ehe er fortfuhr: »Bliebe dann nicht noch die Möglichkeit übrig, daß Sie wirklich unbewußt gehandelt haben?«

»Ich lehne auch diese Auslegung ab. Ich bin nur ein Opfer unmöglichster Irrtümer.«

Der Aktendeckel drüben klappte zu.

»Damit wäre unsere Unterredung für heute beendet. Oder haben Sie von sich aus noch etwas hinzuzufügen?«

Huygens hatte einen verzweifelten Ausdruck. Er grübelte jetzt ernstlich darüber nach, wo er zu der fraglichen Zeit gewesen sein konnte. Aber je angestrengter er sich zum Nachdenken zwang, desto mehr verkrampften sich seine Gedanken und schoben sich vor die Erinnerung.

Nein – es hatte keinen Zweck. Er kam so nicht weiter.

»Sie sagten vorhin selber, daß ich alle Möglichkeiten, die für dies Verbrechen in Betracht kämen, verneint habe. Glauben Sie, daß ein Schuldiger sowas tun würde? Würde er nicht vielmehr recht viele solcher Möglichkeiten offen lassen?«

Der Kommissar stand auf. »Herr Huygens, wir wollen uns doch nichts vormachen. Das kann entweder Ungeschicklichkeit eines kriminellen Anfängers sein, oder große Gewandtheit. Das müssen Sie als intelligenter Mann doch einsehen, wie?«

Huygens erhob sich nun auch. »Ja«, sagte er tonlos. »Ich sehe es ein. Ich sehe ein, daß alles gegen mich spricht, was ich auch sage. Was geschieht nun mit mir?«

»Das Protokoll wird in die Maschine übertragen und Ihnen zur Unterschrift vorgelegt werden. Bis dahin zum mindesten müssen wir Sie also schon hier behalten.«

»Also verhaftet?«

»Haben Sie etwas anderes erwartet?«

»Nein. Aber was geschieht nun mit diesem Menschen, wenn er gefaßt wird?«

»Wenn er gefaßt wird«, wiederholte der Kommissar mit einem kleinen ironischen Lächeln. »Nun, in dem Augenblick wären Sie wahrscheinlich ein freier Mann. Es liegt eigentlich in Ihrem Interesse, wenn Sie hier bleiben und ihn in Sicherheit wiegen. Die nächste Dummheit wird ihn erledigen. Dann hilft keine noch so schöne Legitimation mehr. Denn wir wissen, wo der richtige Herr Huygens ist. Trösten Sie sich einstweilen mit diesem Gedanken.«

Er drückte wieder auf den Knopf, und der Beamte von vorhin trat ein, dem er einen Wink nach Huygens zu machte.

»Ich bin bereit«, sagte dieser. »Übrigens bleibt mir auch wohl nichts anderes übrig?«

»Wenig. Ihr Rechtsbeistand wird Ihnen klar machen, daß wir wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr nicht anders konnten.«

Detlev Huygens nickte stumm und folgte dem Beamten durch den langen Korridor. Er hielt sich aufrecht und gerade.

Erst, als die schwere Zellentür zuschlug und draußen der Schlüsselbund klirrte, brach er zusammen.


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