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7

Litte Friese atmete auf, als sie ihr Kontor verließ.

Endlich war diese Woche zu Ende, die länger gewesen war als sonst Monate, und die ihre Nerven zermürbt hatte. Sie war entschlossen, sich am Montag durch Krankheit entschuldigen zu lassen und nicht mehr zurückzukehren. Die Luft im Hause Huygens & Huygens war unerträglich und wie elektrisch geladen. Fast jeden Tag hatte es Zusammenstöße zwischen Detlev Huygens und dem alten Uhlenwoldt gegeben; das ganze Personal nahm daran Anteil. Seit der Seniorchef wieder auf einer seiner geheimnisvollen Reisen abwesend war – die für sie kein Geheimnis waren – war Huygens um so unzugänglicher geworden.

Seit jenem lächerlichen Telephongespräch vermied er es, mit ihr mehr als das Notwendigste zu besprechen, und er sah sie kaum noch an. Hatte er ein schlechtes Gewissen? War sie ihm plötzlich nur die Angestellte geworden?

Als sie um 2 Uhr das düstere Haus verließ, war sie so müde und abgespannt, daß sie nicht einmal der Anblick der sonnenhellen Straßen wie sonst erfrischte. Sie kam sich gedemütigt und überflüssig vor.

Zum ersten Male behandelte sie Langelüddecke unfreundlich, als er sie bis zur nächsten Ecke begleitete, und es war ihr ganz gleichgültig, als der kleine Herr gekränkt abzog. Aber als sie die Straße überquerte, hätte sie lieber gewünscht, sie wäre mit ihm zusammen geblieben.

Vor ihr stand ein langer Herr, der sie mit Ergebenheit begrüßte; der Engländer, der gestern so sonderbare Dinge gesagt hatte.

Es war ihm sofort anzumerken, daß er hier auf sie gewartet hatte, und das erste flüchtige Lächeln seit langer Zeit huschte über ihr Gesicht: es geschähe Detlev Huygens ganz recht, wenn er sähe, wie sein Freund – so hatte er sich doch genannt – ihr auflauere und seine Begleitung antrage.

Aber dann setzte sie ihre hochmütigste Miene auf. »Sie treffen Herrn Huygens noch im Geschäft.«

»Weiß ich. Aber laufen Sie bitte nicht fort. Üben Sie Gnade und schenken Sie mir eine Viertelstunde. Daß wir zusammen irgendwo essen, darf ich wohl nicht vorschlagen?«

»Nein. Schon, weil ich heute zu Hause esse. Ich wirtschafte mit einer Freundin zusammen. Aber bis dahin dürfen Sie mich begleiten.«

Er gefiel ihr gut. Sein Plaudern lenkte sie ab, auch wenn es um Dinge ging, die sie eigentlich nicht interessierten, wie die Tennismeisterschaft, die Hamburg zugefallen war.

»Spielen Sie?«

»Früher mal. Es ist wohl schon ein Jahrhundert her. Jetzt muß ich meine Zeit zum Geldverdienen verwenden.«

»Ich bin dagegen, daß eine Dame Geld verdienen muß.«

»Aber wenn sie nun keins hat?« Wenn er jetzt galant wurde oder vom Heiraten sprach, würde sie ihn glatt stehen lassen.

»Wenn ich Gesetzgeber werde – und vielleicht werde ich's bei mir zu Hause mal – auf die Dauer kann man sich dem nicht entziehen – dann bringe ich ein Gesetz ein, das allen Frauen, die zu schade zur Tagesarbeit sind, eine Existenz schenkt. Das müßte doch zu machen sein.«

»Viel Glück. Aber erstens bin ich nicht zu schade zur Arbeit, und zweitens will ich mir nichts schenken lassen.«

Sie hatte die ganze Zeit über das sichere Gefühl, daß er ihr etwas Bestimmtes sagen wollte und nur nicht den Anschluß fand; aber da es sicherlich mit Detlev Huygens zusammenhing, erleichterte sie es ihm nicht.

»Heute abend ist Lampionkorso auf der Alster, wissen Sie schon? 80 Boote im Wettbewerb, 40 wegen verspäteter Meldung außer Wettbewerb, darunter Kanadier von Ihrem Schwimmverein. Neun silberne Becher hat der Senat gestiftet, und ein leibhaftiger Bürgermeister wird im Uhlenhorster Fährhaus die Preise verteilen. Man sollte dabei sein, finden Sie nicht auch?«

»Wahrscheinlich muß man. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß ich nur noch fünf Minuten bis zu meinem Hause habe.«

John Lesley verstand sofort. »Ich habe das Gefühl, daß mein Freund Huygens in letzter Zeit falsch beurteilt wird.«

»Etwas Ähnliches sagten Sie mir bereits. Das Geld hat nicht erhoben, und nicht er war auf dem Rennplatz und so weiter.« Ihre Stimme klang ungeduldig. »Wollen Sie mir noch anderes erzählen?«

»Eine Menge. Zunächst nur: es war ein anderer.«

»Und auf der Filmaufnahme auch?«

»Auch dort.«

»Und diese Dame, über die ich übrigens mehr weiß als Sie, und die bei uns anrief?« Sie fühlte, daß sie in ihrer Erregung ihm ihr Geheimnis preisgab; aber sie konnte den Einwurf nicht unterdrücken.

»Ein anderer hat sich für Herrn Huygens ausgegeben. Sowas kommt öfter vor, als Sie glauben.«

»Ich glaube Ihnen das aufs Wort. Die Rechnung hat nur einen Fehler; man kann sich wohl einen anderen Namen beilegen, aber nicht gleichzeitig das Aussehen dieses anderen. Wissen Sie sonst noch etwas, Herr Lesley?«

»Sie bezweifeln die Möglichkeit solcher Ähnlichkeiten?«

»O nein!« spottete sie. »Bei Shakespeare kommt es ja schon vor. Oder ist es Goldoni?«

»Lassen wir mal den Schwan von Avon schwimmen, und halten wir uns an das Leben. Ich habe allerlei Fälle gesammelt. Lasen Sie nicht neulich im Fremdenblatt von dem Doppelgänger Fords? Er ist ihm so ähnlich, daß sogar Bankiers stundenlang ihre Zeit opferten, um ihn für ein Kunstkautschuk-Patent oder sowas zu interessieren. Ein Wiener sieht dem verstorbenen Präsidenten Wilson ähnlich wie ein Ei dem anderen, und Mister Wilson hat es bestätigt, als er ihn im Film sah.«

»Im Film ist viel möglich. Jannings kann dort Heinrich VIII. sein. Aber im Leben?«

»Auch im Leben. König Georg und der letzte Zar waren nur durch ihre Uniformen zu unterscheiden. Ich habe von zwei süddeutschen Abgeordneten gelesen, die ihre Parteifreunde zu täuschen vermochten. Neulich war sogar ein junger Mann abgebildet, der Henny Porten wie aus dem Gesicht geschnitten ist.«

»Verzeihung, Herr Lesley, aber riechen Ihre Geschichten nicht ein bißchen nach Feuilleton?«

»Ich habe Bilder zu Hause. Darf ich sie Ihnen bringen?«

Sie blieb plötzlich stehen, der merkwürdigen Situation bewußt. Was ging es diesen Herrn mit dem Einglas an, was sie von Detlev Huygens denken sollte?

»Warum erzählen Sie das alles eigentlich?«

»Weil Sie wissen sollen, mit wem Sie zusammen arbeiten. Vielleicht ist es mir auch nicht gleich, was andere über meinen Freund denken.«

»Die Freundschaft scheint recht intensiv zu sein«, höhnte sie, »wenigstens in Anbetracht der kurzen Zeit.«

»Wir kennen uns schon lange; aber ich muß gestehen, daß er mich erst seit kurzem wirklich interessiert.«

»Interesse und Freundschaft – das ist im Englischen wohl gleichbedeutend, wie?«

Lesley antwortete ruhig, ohne gekränkt zu sein: »Nun, sagen wir: sein Fall interessiert mich, und seine Beunruhigung hat mir einen so anständigen Charakter enthüllt, daß ich seine Freundschaft suchte. Unter Männern verläuft sowas eben anders. Übrigens ahnt er noch gar nichts von seinem Glück; vielleicht ist er nicht damit einverstanden. Er ist ein sehr einsamer Mensch.«

Sie wollte sagen: das hat sich geändert, und zwar gründlich. Aber da war ein Unterton in der Stimme ihres Begleiters, der sie verstummen ließ. Es war kein Zweifel, daß er an Detlev Huygens glaubte, und fast beneidete sie ihn darum.

Eine Weile schwieg sie verwirrt. Aber dann sah sie – zum dritten Male auf diesem Heimweg – ihr Haus vor sich.

»Ich muß nun hinauf. Meine Freundin wartet schon lange und sicher schmerzlich auf mich. Sie ist erst heute früh zurückgekommen, und ich habe sie noch nicht begrüßt.«

Er sah so niedergedrückt aus, daß sie sich zu einer Freundlichkeit zwang. »Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mir soviel Interessantes erzählten. Schade nur, daß mich das Schicksal Ihres Freundes bald nichts mehr angehen wird.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Weil ich wohl kaum mehr in die Firma zurückkehre.«

Das hatte sie mit allem Aufwand von Mut hervorgebracht, und nun, wo sie es gesagt hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als in das Haus zu laufen, ohne Lesley noch ein Wort des Abschieds zu sagen.

Oben empfing sie Herma Terstiege, robust und strahlend. Sie wurde von den kräftigen Armen der Freundin umfaßt und im Zimmer herumgewirbelt. »Siehst du mir nichts an, Lüttje Söte?«

»Nein, Herma. Ich bin greulich herunter, und du weißt, daß ich dann ein dummes Luderchen bin.«

»Ich bin verlobt. Und im Herbst gibt's Hochzeit.«

»Wie heißt's bei Klaus Groth? ›Nun geht das Elend an – nun kriegst du eenen Mann …‹ Sei nicht böse!«

»Das ist purer Neid. Du weißt, daß ich Hals über Kopf ausriß. Ich hörte nämlich, daß Axel Dummheiten machte. Gott, München ist weit und voller Versuchungen wie Sodom. Ich hatte es dir nur angedeutet.«

»Ich ahnte alles.«

»Und was hättest du dann an meiner Stelle gemacht?«

»Ich?« Litte Friese wandte sich ab. »Ich kann mich da nicht hineindenken.«

»Blech. Da kann sich jedes Frauenzimmer hineindenken.«

»Ich hätte ihn nicht gehalten.«

»Schaf. Warum denn? Ich hatte ihn doch lieb. Ich fuhr hin, habe ihm ordentlich die Leviten gelesen – und dann habe ich mich mit ihm verlobt.«

»Du dich mit ihm? Sieh mal an.«

»Hätte ich noch warten sollen? Es ist auch für ihn das beste. Glaub mir, er ist jetzt heidenfroh.«

Also so etwas gab es! Man verzichtete nicht, – man kämpfte um sein Glück, man griff zu und scheute nicht das »Sie-ist-ihm-nachgelaufen«! Wie beneidenswert waren Frauen wie Herma Terstiege!

»Die Zeiten sind vorbei«, hörte sie die Freundin schwatzen, »wo die Jungfrau mit schüchternen, verschämten Wangen wartet, bis es dem Jüngling gefällig ist. Und das ist gut so.«

»Für den, der es kann, gewiß.« Sie ließ sich am Eßtisch nieder, müde und zerschlagen, während Herma deckte.

Das ganze Zimmer war ausgefüllt von ihrer Lebenslust und ihrem Selbstbewußtsein. Litte Friese fühlte etwas wie Erbitterung über so viel lärmendem Glücksgefühl in sich aufsteigen.

Herma Terstiege und sie hatten sich immer gut verstanden, und in ihrem fast einjährigen Zusammenleben hatte es kaum einen Streit gegeben. Nun ging auch dies in die Brüche.

»Wann heiratet ihr?«

Herma lachte. »Du schläfst wohl? Ich sagte doch schon, im Herbst. Oktober oder so. Ist es nicht das Richtigste, sich in ein molliges Nest zu setzen, wenn es draußen zu stürmen beginnt?«

»Es ist zweifellos das Richtigste – wie alles, was du tust.«

Herma blieb die Bratkartoffel im Munde stecken; so hatte sie der scharfe Ton in Littes Stimme erschreckt. »Habe ich dich geärgert?« fragte sie unsicher.

»Wie solltest du mich wohl ärgern?«

Herma schluckte energisch die Kartoffel herunter. »Übrigens werden wir zwei gar nicht auseinander zu gehen brauchen. Ich habe das schon mit Axel besprochen, und er ist ganz meiner Meinung. Du mietest uns einfach ein Zimmer ab.«

»Ich soll hier fort?« Sie dachte: es wäre das beste, aber ich werde es nie können … ich bin nicht wie Herma.

»Warum nicht? Du kommst überall fort. Und wenn es zu Anfang schief geht, pumpen wir dir. Warum lachst du nicht? Und essen tust du wie ein Spatz.«

»Ich habe schon im Geschäft gefrühstückt«, log sie. »Aber hier kann ich nicht weg. Ich liebe diese Stadt.«

Für einen Augenblick vergaß Herma Terstiege ihr eigenes Leben. »Es kommt mir vor, als ob du nicht nur die Stadt liebst?«

Litte Friese konnte nicht antworten; es fehlte nicht mehr viel, und sie würde losweinen.

»Solche Augen macht man nur, wenn man verliebt ist«, entschied die Freundin. »Soll ich raten?«

»Ich bitte dich, laß diese Scherze.« Sie stand auf und wich den fragenden Blicken Hermas aus.

»Axel läßt dich natürlich vielmals grüßen.«

»Danke.«

»Und hier ist sein neuestes Konterfei.«

Litte sah acht kleine Aufnahmen des Verlobten, feierlich, verlegen, dann schmunzelnd und grinsend. Ein hübscher, bißchen schwammiger Durchschnittskopf, in dem kein beschwerendes Problem Platz hatte.

»Er sieht aus, als ob er dich glücklich machen könnte.«

»Wird er. Soll er. Muß er. Und nun lade ich dich zu einem Verlobungskaffee mit Schlagsahne ein. Wie wär's mit dem Fährhaus?«

»Es ist lieb von dir, Herma, aber ich bin nicht ganz auf Deck. Laß mich erst etwas schlafen.«

Sie atmete auf, als sie endlich in ihrem Stübchen allein war. Das Geschwätz der glücklichen Braut hatte sie tiefer getroffen, als jene ahnen konnte.

So einfach war es also, zum Glück zu kommen, wenn man Hermas Natur hatte? Aber sie hatte diese Natur nicht. Sie konnte nicht zu dem geliebten Mann gehen und sagen: »Ziehst du mir wirklich andere Frauen vor? Sieh mich doch an, ob du es dann noch fertig bekommst!«

An Schlaf war nicht zu denken, und sie versuchte es mit Lesen. Als sie auf's Geratewohl in das Bücherregal griff, kam ihr ein kleines Buch in die Hände, das die Übersetzung japanischer Gedichte enthielt.

Sie lächelte traurig über den Zufall: es war ein Geschenk von Detlev Huygens. Sie hatte das Bändchen auf seinem Arbeitstisch liegen sehen und ihn erstaunt gefragt, ob er denn Gedichte läse. Eine Weile hatten sie über japanische Kunst gesprochen, und am Ende hatte er ihr mit einer hübschen, verlegenen Gebärde das Buch geschenkt.

Als sie es in der Mitte aufschlug, stieß sie auf Verse: »Spuren im Schnee«:

Am Berg von Miyosino
In kahler Höh'
Entdeckt' ich seine Spuren
Im Flimmerschnee.
Beim Sternenlicht überschritt er
Den Felsengrat.
... Und in Gedanken schritt ich
Mit ihm den Pfad …

Das hatte vor 700 Jahren eine Frau geschrieben. Sidzuka Gozen, die so schön gewesen war, daß sie auch den Gegner ihres Geliebten Yositsune in sich verliebt machte. Und sie war so stark in ihrer Liebe gewesen, daß sie bei der Verteidigung Yositsunes mehrere seiner Schergen tötete und dabei selber den Tod fand.

Sie warf den Band beiseite und lief ans Fenster und starrte hinaus. Nur nicht immer an das eine denken!

Viel war draußen nicht zu sehen. Das Leben floß langsam und zögernd über den stillen Platz. Einige Autos, wenige Passanten, denen die Freude am Wochenende auf den entspannten Gesichtern geschrieben stand, Kinder auf »Holländern«. Wenn sie genau acht gab, konnte sie vom Steindamm das Läuten der Elektrischen hören.

Die Gedanken kamen wieder und kreisten um den gleichen Punkt. Was hatte dieser lange Engländer gesagt? Und warum vertraute er ihr das über Detlev Huygens an? Geschickt worden war er von ihm nicht – das sah jenem nicht ähnlich. Warum brachte er ihr Schicksal überhaupt mit dem Detlevs in Zusammenhang?

Sie errötete bei dem Wort »Detlev«, das sie nur gedacht hatte. Nie wieder durfte das vorkommen. Es war alles aus, ganz gleich, was dieser Lesley gesagt hatte. Er nannte sich selber seinen »Freund«, ein Kronzeuge war er also nicht. Und sie brauchte auch keine Zeugen.

Eine kleine Falte grub sich senkrecht in ihre Stirne. Herma hatte recht, es war das beste, sich am Hauptbahnhof auf den nächsten Zug zu setzen und zu flüchten. Eines Tages würde es mit Huygens & Huygens doch aus sein. Kein Schiff und keine Mannschaft war so sicher, daß zwei gegeneinander kommandieren konnten, ohne den Untergang zu beschleunigen. Wollte sie warten, bis man ihr kündigte?

Gerade, als sie sich schmerzlich in diesen bitteren Gedanken vergrub, kam eine Gestalt über den Platz, deren Gang ihr schon von weitem bekannt vorkam. Beinahe hätte sie aufgeschrieen: Detlev Huygens ging dort auf ihr Haus zu. Sie wischte sich über die Augen, aber das Bild blieb. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse.

Er ging den gleichmäßigen, ruhigen Schritt des fest in sich gegründeten Menschen. Aber jetzt, wo er zu den Fensterreihen der Häuser emporsah, trat dies neue in ihm in Erscheinung: die Unruhe im Blick, dies nervöse Suchen, diese Verstörtheit.

Sie fühlte eine heiße Welle des Mitleids über sich strömen, und sie kämpfte nicht dagegen an.

Und dann: was auch geschehen war, – er ging über den Hansaplatz und suchte ihr Fenster. Ja, er suchte sie, sie, sie. Was hatte er hier sonst zu tun?

Ihre Knie zitterten, als sie ihr heißes Gesicht an das Fenster preßte. Sah er sie denn nicht? Mußte er sie hier oben nicht fühlen?

Nun entschwand er ihrem Blick: er mußte unter ihr vor dem Hause stehen. Trat er ein? Fragte er nach ihr? Kam er herauf?

Nichts im Hause rührte sich. Kein Schritt knarrte auf der Treppe.

Sie drückte die Hände auf die Brust. Alles würde gut werden, wenn sie ihn jetzt sprechen konnte. Alles würde gut sein, wenn er zu ihr kam.

Sie ertrug das Warten nicht und riß das Fenster auf.

Eben wandte er sich von ihrem Hause fort, dem Steindamm zu. Und sie rief, ohne zu überlegen, seinen Namen.

Aber der Lärm eines knatternden Motorrads erschlug ihre Stimme, und sie wagte nicht, zum zweiten Male zu rufen. Warum blickte er sich nicht nach ihr um? Spürte er denn nicht, wie nahe sie ihm in diesem Augenblick war?

Huygens ging langsam bis zur Ecke. Nun würde er umkehren, unschlüssig und überlegend. Nun – –

Sie setzte schnell den Hut auf, griff nach dem Handtäschchen und lief hinaus. Nie war sie so schnell die beiden Treppen hinabgekommen. Im Hausflur stand ein Dienstmann, der sie nach einem Namen fragte.

Litte Friese hörte nichts und lief an dem brummigen Mann vorüber; ein paar grobe Worte in unverfälschtem »Hamborger« Platt flogen ihr nach.

Als sie draußen auf dem Bürgersteig war, sah sie, wie Detlev Huygens ein Auto heranwinkte. Sie lief ihm nach, aber er stieg schon ein. Es gab dort einen kleinen Aufenthalt, als sein Terrier ungeschickt aufsprang und von ihm hineingeschoben werden mußte.

Sie war froh, als sie eine andere Taxe an der Steindammecke erwischte. »Fahren Sie diesem Wagen dort nach!«

Der Chauffeur verzog keine Miene, und der Wagen setzte sich nach einer Pause, die ihr unendlich lang schien, in Bewegung.

Hauptbahnhof, die Mönckebergstraße, die Haltestelle Barkhof, das Rathaus, der Große Burstah, über den Rödingsmarkt auf die Michaelskirche zu. Sie glaubte, im gleichen Abstand geblieben zu sein; aber von allen Seiten kamen Wagen, die dem verfolgten gleich sahen, und hinter dem Millerntor stauten sie sich so, daß sie überzeugt war, ihn verfehlt zu haben.

Dennoch fuhr sie weiter. In Altona würde es übersichtlicher werden, und auf der Elbchaussee, der er zugestrebt war, wollte sie ihn überholen. Aber als sie auf die freiere Straße gelangte, war im Augenblick kein Taxi zu sehen. Stattliche Limousinen rollten und flinke kleine Opelwagen. Es war, als hätten sich alle Taxichauffeure Hamburgs verschworen, diese Straße zu meiden.

Endlich gab sie das Rennen auf. Es belastete ihre Kasse ohnehin genug. Sie ließ halten, zahlte und ging weiter. Hier in der Nähe, unweit der Himmelsleiter, war eine kleine Konditorei, dicht über dem Badestrand.

In den Gärtchen leuchteten die Blumen, die Bäume rauschten. Fähnchen flatterten von den Vergnügungsdampfern, die nach Blankenese und wohl noch weiter, nach der »Alten Liebe« fuhren. Junge Paare gingen langsam, eng verbunden, genießerisch die Helle des Sommertags und ihr bißchen Liebe schlürfend.

Litte Friese spürte das alles nicht. Sie spürte nicht einmal die begehrenden Blicke, die sie trafen. Warum waren diese Menschen alle so fröhlich? War es denn so herrlich, für ein paar Stunden aus dem Joch zu sein, daß sie übermorgen doch wieder überfiel? Genügte ein bißchen Sommersonne schon, in den Tag hineinzulachen? Wie einfach hatten sie es doch!

Sie flüchtete in das kleine Kaffee und bestellte irgend etwas. Die beiden kleinen Zimmer waren schwach besetzt, so daß sie einen Fensterplatz bekam.

Als sie, um aus ihren Gedanken herauszukommen, in der Mappe mit den illustrierten Zeitschriften blätterte, stieß sie auf Bilder von jenem Rennen, und sie warf die Mappe auf den nächsten Tisch.

Unerträglich war die Behaglichkeit des Raums, unmöglich die kleine, sentimentale Melodie des Grammophons, zu der ein Tenor sang. Am schlimmsten aber war dies Alleinhocken.

Sie rief das Fräulein heran und bezahlte ihren Tee, von dem sie kaum zwei Schlucke getrunken hatte. Es war noch besser, zu Herma Terstiege zu eilen, die sicher noch auf sie wartete.

Sie ging eiliger durch die schmale Straße mit den sauberen Häuschen, in denen die Kapitänsfrauen auf die Heimkehr ihrer Männer warteten, wo sie die Flaggen auf dem Dach hißten, wenn das Schiff gemeldet war.

Plötzlich blieb sie stehen. Vor ihr ging Detlev Huygens, und er war nicht allein. Neben ihm schritt eine kleine, flachsblonde Person, die von Zeit zu Zeit zu ihm emporlachte. Und er ging einen anderen Schritt als noch vor einer Stunde auf dem Hansaplatz, fast tänzelnd und leichtsinnig.

Von drüben klang sein übermütiges Lachen zu ihr herüber, wenn er sich zu dem Mädchen neigte und ihr etwas erzählte, was sie nicht verstand. Dies Lachen war heiser und fremd – aber was war ihr nicht an Detlev Huygens fremd geworden?

Ihre erste Regung war, ihn anzurufen; aber ihre Stimme versagte. Kaum konnte sie ihre Füße weiter bewegen. Aber sie mußte ihm folgen; sie stand unter einem bedrückenden Zwang.

Vor der Türe einer kleinen Wirtschaft hielten sie an, und wieder hörte sie sein vergnügtes, spitzbübisches Lachen. Nie hätte sie gedacht, daß Detlev Huygens so lachen konnte.

Als er die Türe der Wirtschaft öffnete – »Zum fröhlichen Wandsbecker« stand darüber –, wandte er sich einen Augenblick nach ihr um, und sie sah, wie sich sein lachendes Gesicht mit einem Schlage veränderte. Es straffte sich und wurde ernst, fast finster und drohend.

Nun ging er, ohne sich um das Mädchen zu kümmern, hinein. Es war deutlich, daß er sie erkannt hatte und ihr entgehen wollte.

»Bruno!« rief das fremde Mädchen erstaunt, um ihm dann mit einem ärgerlichen Achselzucken zu folgen.


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