Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

John Lesley saß beim Morgentee und blickte nachdenklich in den Regen hinaus. Er war noch im Schlafanzug, obwohl es fast elf Uhr war.

Die Sitzung war gestern schwer gewesen, und er konnte es sich leisten, in den Tag hinein zu schlafen. Die Hapag würde kein Prozent Dividende verlieren, weil der Volontär Lesley blauen Montag machte. Womöglich gewann sie dadurch.

Er reckte seine lange, magere Gestalt, daß die Knochen knackten. Die Welt war unausstehlich langweilig geworden, die »Daily News«, die zusammengeknüllt am Boden lag, genau so langweilig wie der Brief seines Vaters. William Lesley, der einmal, in aschgrauer Vorzeit, in Heidelberg und Tübingen studiert hatte, behielt immer eine sentimentale Neigung für Deutschland, die gar nicht zu seiner fischnüchternen Natur paßte. Auch in diesem Brief kamen Sätze vor wie: »Es ist keine Kunst, es als Engländer zu etwas zu bringen; das ganze Land, seine Geschichte, sein Reichtum, seine Weltstellung arbeiten für ihn. Aber Deutschland, das aus dem Minus ein Plus zu machen beginnt, das ist bewundernswert.«

Richtig; aber nun kam die praktische Nutzanwendung auf den Sohn: »Ich wünschte einen Sohn, der nichts vom Vater haben will, und der aus eigener Kraft seine Stellung im Leben erringt.«

John Lesley grinste und dachte, es sei gut, daß das Fernsehen noch nicht erfunden sei. William Lesley pflegte einen altmodischen Respekt vor seinen Ermahnungen zu fordern und vorauszusetzen.

Nur in einem war er dem Vater nachgeschlagen: in einer kleinen Pedanterie, die über den verflossenen Tag Rechenschaft forderte und ablegte. Während ihn die blauen Wölkchen der Capstanzigaretten umflatterten, notierte er die kleinen Ereignisse auf, wo es ging, nach Stunde und Minute.

»Die Buchführung meines Lebens« nannte er das. »Und dann, wer weiß, ob ich nicht einmal ein großer Kerl werde und hier meinen Biographen entgegenkomme? Northcliffe und Macdonald haben ihren Aufstieg auch nicht voraussehen können.«

Als er die Ereignisse im Babylonischen Klub aufnotierte, stockte sein Füllfederhalter.

Was war da vorgestern mit Huygens los gewesen? Es war eine merkwürdige Geschichte, daß ein so sachlicher, patenter Mensch vergessen haben sollte, daß er Geld geborgt hatte. Sie war nicht geeignet, die Sympathie der Klubgenossen für ihn zu stärken; man war sehr genau in diesen Dingen.

Quitzau und die anderen hatten es, wie es schien, für einen Bluff, für einen schlecht inszenierten Scherz gehalten – und allzu viel Witz traute keiner dem schwerblütigen Huygens zu – aber dann war eine kleine Mißstimmung fühlbar geworden, die sich verdichtete.

Lesley gab sich einen Ruck. Hier war ein Problem, das ihn anzog. Alle Müdigkeit fiel plötzlich von ihm ab.

Daß Huygens keinen Scherz gemacht hatte, war ihm sofort klar gewesen. Aber was war es dann? Die paar Mark spielten für ihn keine Rolle. Vergeßlichkeit? Unwahrscheinlich. Und warum dann diese nervöse Erregung? Eine Tatsache stand jedenfalls fest: Huygens hatte sich bezecht. Und diese Tatsache erschütterte das Bild des Klubfreundes: er war nicht mehr der alte Detlev Huygens. Eine halbe Stunde später schlenderte Lesley die Straßen entlang, durch die Brandstwiete dem Hafen zu. Bevor er in den Butenfleeth einbog, kehrte er in einer kleinen Wirtschaft ein und telephonierte. Es war wohl nicht angebracht, ihn zu überraschen.

»Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie besuche? Aber sagen Sie ganz aufrichtig, wenn ich störe.«

»Gar nicht. Im Gegenteil. Ich erwarte Sie eigentlich schon.«

Huygens erwartete ihn? Gedankenübertragung? Oder steckte eine neue rätselhafte Teufelei dahinter?

Lesley trank an der Theke, mit dem Blick auf Frikandellen, belegte Rundstücke, Rollmöpse und Eisbeine, einen Kümmel, der einen öligen, brennenden Geschmack hinterließ, ehe er sich zum Weitergehen entschloß.

Im zweiten Stock des dunklen Gebäudes zeigte ihm ein Lehrbub den Weg. »Dritte Tür rechts. Sie können gar nicht fehlgehen.«

Lesley öffnete dennoch eine falsche Türe und stand Litte Friese gegenüber. Er erkannte sie sofort. Die schöne Sekretärin bei Huygens & Huygens war im Klub öfter Gesprächsthema gewesen, als es Detlev Huygens lieb gewesen wäre.

So selbstsicher er sonst auftrat, diesen kühlen, fast feindlich prüfenden Blicken gegenüber fühlte er sich irgendwie geniert.

»Verzeihung, ich suche Herrn Huygens.« Er kam sich reichlich blöde vor, daß er das sagte, anstatt ihre Bekanntschaft zu machen. Nicht einmal sein Einglas hatte er eingeklemmt. Aber dazu war es nun zu spät. Sie sah nicht aus, als ob er ihr damit imponieren könnte.

»Sind Sie angemeldet?«

»Telephonisch und durch einen kleinen Lehrbuben, wie ich annehme. Einen Revolver habe ich übrigens nicht bei mir, und ein Gläubiger bin ich auch nicht.«

Aber Litte Friese war nicht zu Scherzen aufgelegt. Sie sah an ihm vorüber, als sie tadelnd bemerkte: »In Zukunft sollten Sie an der Türe klopfen, an der Herr Huygens' Name steht.«

»Ich werde es nicht wieder tun«, sagte er kläglich. »Übrigens habe ich wohl das Vergnügen mit Fräulein Friese?«

Sie nickte kühl und abweisend; daß er seinen Namen nannte, schien sie gar nicht zu bemerken.

»Soll ich nun wieder hinausgehen?«

»Nicht nötig. Sie können durch diese Türe eintreten.«

Sie ging zu der seitlichen Türe voran und wollte anklopfen, als er sie aufhielt. »Bitte, einen Augenblick müssen Sie mir noch Gehör schenken.«

»Sie wünschen?«

»Finden Sie nicht auch, daß sich Herr Huygens in letzter Zeit stark verändert hat?«

Mit einem energischen Kopfschütteln antwortete sie: »Ich habe zu solchen Beobachtungen keine Zeit.«

Lesley sah sie aufmerksam an; eigentlich schien sie weniger abweisend als erbittert. Ungefähr so wie Huygens beim letzten Zusammensein.

Auch hier schien etwas in Scherben gegangen …

Da es gar keinen Grund mehr gab, sich noch länger aufzuhalten, trat er bei Huygens ein.

»Ihr Haus gefällt mir«, begann er, als er am Schreibtisch, Huygens gegenüber, Platz genommen hatte. »Es erinnert mich an liebe Romane von Dickens.«

»Das ist eine liebenswürdige Umschreibung für diese veraltete und verräucherte Bude.«

»Und Fräulein Friese nebenan ist so etwas wie Klein-Dorrit, wie?«

Das war eine taktlose Bemerkung – er wußte es selber. Aber er wollte nun einmal Klarheit über diese Dinge bekommen.

Huygens fiel ihm hastig ins Wort. »Es wäre mir lieb, wenn wir das Thema wechseln würden, lieber Lesley. Die Dame ist eine fleißige, unentbehrliche Mitarbeiterin, auf die kein Schatten fallen soll.«

»Ich habe sie nicht anders als eine Dame betrachtet.«

»Ich weiß, aber man kann in diesen Dingen nicht vorsichtig genug sein. Was darf ich Ihnen zum Rauchen anbieten?«

»Wenn ich darf, bleibe ich bei meinem Capstan. Ist Ihnen übrigens der Abend neulich gut bekommen?«

»Danke. Es war ein bißchen heftig. Ganz gegen meine Gewohnheit. Aber wie soll man auch den Alkohol verachten lernen, wenn man ihn nicht kennt?«

Der Scherz kam recht gequält heraus, und Huygens' Gesicht blieb ernst. Es sah müde und verfallen aus.

Einige Minuten herrschte Schweigen. Man hörte deutlich aus anderen Zimmern das Klappern von Schreibmaschinen, das Schlagen einer Uhr und das Schrillen einer Klingel. Ganz aus weiter Ferne kam das stöhnende Tuten eines Dampfers.

Huygens spielte mit einem Bleistift, warf ihn jäh beiseite und fragte, sich vorbeugend: »Sie kommen in einer bestimmten Angelegenheit. Ist es nicht so?«

»Ich kam, um mit Ihnen zu plaudern.«

Huygens' Stirn krauste sich. »Kürzen Sie die Prozedur ab, Lesley. Sie tun mir damit einen Gefallen. Sie kommen doch in einem Auftrag her?«

»In einem Auftrag?«

»Ja. Vom Klub.«

Lesley hätte vor Schreck beinahe seine Zigarette verloren. Also darum war er erwartet worden. Mein Gott, wohin hatte sich das Grübeln dieses Mannes schon verirrt!

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß das nicht der Fall ist.«

Huygens' Gesicht entspannte sich. »Ich muß auch darüber froh sein; ich war nämlich schon auf sowas gefaßt. Ich bin nachgerade auf alles gefaßt.«

Lesley beobachtete ihn einen Augenblick; dann erhob er sich und ging um den Tisch herum. Er legte Huygens die Hand auf die Schulter. »Ich habe im Klub genau auf sie acht gegeben, Huygens. Sie sind nie auf diesem Rennen gewesen. Sie haben nie Geld von Quitzau geborgt.«

Huygens fuhr zusammen. Seine eben noch so trüben Augen leuchteten dankbar auf, und seine Rechte griff nach des anderen Hand.

»Sie also glauben mir? Sie befreien mich damit von einem furchtbaren Druck.«

»Haben Sie es denn nötig, daß einer an Sie glaubt?«

»Zum Teufel, ja, das habe ich. Ist diese Geldgeschichte nicht abscheulich? Was soll man im Klub von mir denken? Ich war nahe daran, auszutreten.«

»Sie scheinen in einem Zustand zu sein, in dem man immer das Verkehrte tut.«

»Sicher. Aber ich bin gar nicht mehr imstande, etwas Vernünftiges zu denken.«

»Nerven?«

»Ja. Wer sollte sie in meinem Falle nicht verlieren?«

»Man sollte die Nerven immer in der Hand behalten, sonst ist man von vornherein verloren. Sie sollten Sport treiben. Boxen, Golf, Rudern, Reiten, Schwimmen – –« »– Tennis, Polo usw. Danke für das Rezept. Jetzt hätte ich nur Sinn und Verständnis für einen bestimmten Sport. Für den Jagdsport.«

»In dieser Jahreszeit?«

»Eine besondere Abart. Jagd auf Menschen, Lesley, begreifen Sie das? Jagd auf einen Menschen.« Seine Faust schlug hart auf den Tisch.

Das Telephon schnarrte mehrere Male, ehe Huygens es ärgerlich ergriff und einige kurze Weisungen in die Muschel rief. Er widersprach sich mehrere Male und schrie zum Schluß wütend hinein. Das alles paßte nicht zu dem Bilde, das Lesley von ihm hatte.

Er ging zu seinem Platz zurück und hatte einige Züge geraucht, als der andere sich ihm wieder zuwandte.

»Es klang wohl ein bißchen pathetisch, was ich sagte. Es ist sonst nicht meine Art.«

»Es war recht plastisch.«

»Aber nun müssen Sie hören, was geschehen ist. Diese Zweihundert Mark waren noch das wenigste. Hören Sie.« Er berichtete, sich mühsam sammelnd, die verwirrenden Geschehnisse der letzten Tage bis zum Besuch in seinem Hause.

»Ein Verbrecher, der ein Naturspiel, die Ähnlichkeit mit Ihnen, ausnützt. Ein Mensch von Fleisch und Blut, den man jagen und fassen kann. Setzen Sie Hunde auf seine Spur. – Das macht jeder Jäger.«

»Detektive? Ausgeschlossen. Meinen Sie, daß ich das alles nicht bedacht habe? Ich will kein Aufsehen. Das muß ich allein durchfechten.«

»Höchst einfach! Wissen Sie nebenbei, daß Hamburg über eine Million Einwohner hat und daß es über glänzende Verbindungen zu Land, zu Wasser und zur Luft nach auswärts verfügt?«

»Ja, aber ich bin ihm auf der Spur. Der Faden ist im Augenblick entglitten, ich werde ihn wieder finden. Und dann gnade ihm Gott!«

»Machen Sie keine Dummheiten. Wir sind nicht in Wildwest.«

»Was würden Sie an meiner Stelle tun?« höhnte Huygens.

»Goddam, ich würde ihn so zusammenboxen, daß er auch nicht die geringste Ähnlichkeit mehr mit mir haben sollte.«

Huygens mußte lachen. »Immerhin sind wir in der Lage der Nürnberger, die keinen hängen, den sie nicht haben.« »Wir müssen die Filmaufnahme haben. Sie wird nicht teuer sein, da es sich um ein inzwischen abgespieltes Füllsel handelt. Wir lassen die kritische Stelle herausschneiden und vergrößern.«

»Um Himmels willen, wollen Sie einen Anschlag an den Litfaßsäulen? Ich wäre vor der ganzen Stadt blamiert, und die Wirkung wäre nur eine Reklame für diese unternehmungslustige Dame.«

»Ist nicht nötig. Vielleicht ergibt die Vergrößerung eine Spur oder ein Merkmal, etwa eine Narbe. Daran konnte man sich dann halten.«

»Das wäre etwas, aber nicht viel.«

»Wir müssen auch mit wenigem zufrieden sein. Dann ist da diese Lolotte. Ihre Adresse wird nicht stimmen, außer sie hätte im Wein einen Wahrheitsanfall bekommen. Immerhin werden die Vergnügungsstätten stimmen, und da wird man sie mit ihrem Galan ablauern können. Die Jagd kann beginnen. Und ich mache mit, nicht wahr?«

»Sie wollten wirklich?«

»Natürlich will ich. Ich fürchte, wir werden in nächster Zeit unsolide sein müssen, so schwer es auch fällt, und auf nächtlichen Bummel gehen. Nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Kopf hoch, Huygens!«

»Warum tun Sie das eigentlich für mich, Lesley? Mein Schicksal geht Sie doch nichts an?«

Lesley lächelte. »Nehmen Sie an, daß es eine hübsche Sensation für mich ist. Wissen Sie, was Langeweile ist?«

»Nein. Dafür habe ich die Arbeit.«

»Sie Glücklicher«, sagte der lange Lesley seufzend, »in meiner Familie ist die Arbeitslust von meinem Vater vollkommen aufgesogen, so daß für mich nichts übrig geblieben ist.«

Detlev Huygens stimmte in sein Lachen ein, und es klang schon viel freier. »Und das ist wirklich der einzige Grund?«

»Der einzige. Und ich hole Sie heute abend ab. Aber Sie müssen mich zuerst beim Namen anreden; sonst weiß ich nicht, ob dieser andere vor mir steht.«

Huygens' Blicke verdunkelten sich. »Dieser Gedanke ist unerträglich, und ich fürchte, es endet nicht gut.«

»Unsinn. Wir suchen und schütteln ihn, bis ihm die Lust zu seinen Streichen vergeht.«

Lesley ging auf den Korridor hinaus. An der nächsten Tür blieb er stehen, um zu lauschen. Als er keine Stimme hörte, klinkte er, ohne anzuklopfen, auf.

Er ging schnell zum Schreibtisch, ohne sich um Litte Frieses empörtes Gesicht zu kümmern, und sagte leise und eindringlich: »Glauben Sie nicht an Dinge, die das Bild Ihres Chefs verwirren können. Er ist zum Beispiel nie auf dieser Rennbahn gewesen und hat nie diese 3000 Mark abgeholt.«

Sie wollte auffahren, aber er machte »Pst« und legte seine Karte hin. »Sie können mich jederzeit anläuten, wenn Ihnen daran liegt, die Wahrheit zu hören. Sie können es ruhig. Ich bin sein Freund. Seit heute erst. Aber Freundschaft hat ja keinen zeitlichen Tarif.«

Als er an der Türe war, wandte er sich noch einmal ihr zu: »Ich glaube, Detlev Huygens kann jetzt Freunde gebrauchen.«

Ehe das verblüffte Mädchen etwas erwidern konnte, war er schon draußen.


 << zurück weiter >>