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19

In der Nähe des Paulsplatzes lag das uralte, wacklige Haus, in dem der Tätowierer Timmermanns seinen Laden hatte, und das in einem Hinterzimmer zwei Tage lang Bruno Nissen versteckte.

Die kleinen Fenster des unteren Stockwerks waren mit Mustern bedeckt: Liebespaare, Palmen mit und ohne Schlangen, Mädchenköpfe, Anker, Herzen, Indianer, Käfer, Neger und kunstvolle Ornamente nach exotischen Mustern.

Timmermanns, ein Künstler seines Fachs, tätowierte in zehn Farben, wie ein Schild draußen ankündigte, und er verwendete nicht mehr die altmodische Nadel, die man in chinesische Tusche tauchte, bevor man sie vorsichtig in die Haut stach, er arbeitete mit der mechanischen Nadel.

Hätte Bruno genug Stimmung gehabt, hätte er sich über die Besucher in den vorderen Räumen wohl verwundern können. Es kamen nicht nur Matrosen und Fleischer, die der alten Mode folgten, es kamen Jahrmarktskünstlerinnen, die sich für Ausstellungszwecke tätowieren ließen, und bisweilen tauchten elegante Damen auf, die, einer geheimnisvollen Mode folgend, ihre zarte Haut mit Bildchen illustrieren ließen.

Es ging bunt zu bei Vater Timmermanns, und er hätte viel erzählen können; aber er sprach als echter Hamburger knapp drei Worte. Sein eisgraues Haupt wiegte sich nur vor Verwunderung, wenn Kunden während der Operation kleine Schreie oder Flüche, je nach dem Geschlecht, ausstießen.

Grimmig wurde er nur, wenn Leute kamen, die sich ihrer Tätowierung entledigen wollten, weil sie in eine Stellung geraten waren, in der der Anker auf der Hand zu deutlich die primitiven Anfänge ihrer Laufbahn verriet. Dann gab es regelmäßig Krach, und Bruno Nissen konnte den Alten viertelstundenlang vor sich hinfauchen hören wie einen gereizten Puma.

Das waren die einzigen Augenblicke, wo er vor sich hinlachte. Sonst war es Bruno Nissen nicht zum Lachen zumute.

Er fühlte sich unbehaglich und bedrückt und zum ersten Male in seinem wirren Leben empfand er etwas wie Scham. Das Entsetzen dieses Mädchens im Weinlokal, ihr Abscheu und Zorn, das alles war zu deutlich gewesen. Wie war er nur auf den verrückten Gedanken gekommen? Nottebohm hatte ihm den Gedanken eingeblasen. Wenn alle ihn für Huygens hielten, warum nicht auch sie? Könnte er dem reichen Manne ein besseres Schnippchen schlagen? Vielleicht wollte ihn der Alte nur von seiner Enkelin fernhalten?

Alles hätte vielleicht geklappt, wenn dieser elende Köter nicht gewesen wäre. Es hatte nur an einem Haar gehangen, daß er ertappt und gefaßt worden wäre. Man konnte eben nicht alles berechnen. Hunde waren noch immer die gefährlichsten Feinde gewesen, wo immer man auf dunklen Wegen ging. Sie ließen sich selten bestechen und nie täuschen.

Er war sich bewußt, daß er das Mädchen aufs tiefste beleidigt hatte. Und wenn sie es ihrem Liebhaber erzählt hatte? Auch in seinen Kreisen würde es kein Mann straflos hingehen lassen.

Es war reiner Zufall gewesen, daß ihn der andere nicht getroffen hatte. Aber wie lange würde das dauern?

Das Mädel hatte seine Bleibe bei Nottebohm ausgekundschaftet. Sie würde nun erst recht nicht locker lassen. Wenn auch Huygens versagte, sie würde hinter ihm her sein. Er kannte diese Art Mädchen, die wie Kinder schienen und dabei die Energie von zwei Männern hatten. Die waren mehr zu fürchten als alle anderen.

Nein, es war aus mit dem Spiel, so hübsch es auch gewesen war und so viel es auch eingetragen hatte. Hier war nichts mehr für ihn zu holen. Er mußte fort.

Es gehörte Geld dazu, zu reisen und am anderen Ort zu leben. Und seine Moneten waren knapp geworden. Er hatte zuviel für Garderobe und willfährige Frauenzimmer ausgegeben, und den Rest hatten die Karten und die Rennwetten gefressen.

Am Nachmittag des ersten Tages besuchte ihn ein Freund, von dem er nichts weiter wußte, als daß man ihn Johnny nannte.

Johnny hatte allerlei Gewalttaten auf dem Kerbholz, nicht auf dem Gewissen. Diesen Luxus leistete sich der lang aufgeschossene Bursche längst nicht mehr. Es genügte ihm, daß er in seinen Kreisen eine geachtete Persönlichkeit war. Im Augenblick ging es Johnny nicht gut. Und es fiel Bruno Nissen beim Nachdenken – wozu er jetzt Zeit hatte – ein, daß es diese Leute im Grunde alle zu nichts Rechtem brachten.

Im übrigen war er viel zu sehr mit sich beschäftigt, um auf die Vorschläge des Kumpans einzugehen. Er hatte ganz einfach nicht mehr die Nerven dazu.

Johnny, der auf der haarigen Brust in Timmermanns Meisterschrift, abwechselnd grün und rot, die feierlichen Worte ›Up ewig ungedeelt‹ trug, ging ärgerlich fort und versprach, Vater Nottebohm zu schicken.

Gegen Abend ließ Timmermanns brummend ein Mädchen zu ihm ein; er liebte solche Besuche bei seinen Untermietern nicht, und er ließ es deutlich merken.

Es war Hanne Nottebohm, hochrot vom Laufen und von ihrer Erregung.

Noch ehe sie ihm die Hand gegeben hatte, stammelte sie: »Er hat gelogen, nicht wahr?«

»Sicher«, antwortete er mit dem letzten Humor, über den er verfügte. »Ich möchte immerhin wissen, wer?«

»Du weißt ganz gut, daß ich Großvater meine. Er hat gesagt, du hast dies Mädchen geküßt.«

Bruno Nissen pfiff durch die Zähne. Daher wehte der Wind? Der Alte hatte ein kluges Spiel gespielt, aber anscheinend doch nicht klug genug: diesem Mädel war die Eifersucht auf Meilenweite anzusehen.

»Dein Oller sagt manches, was er nicht verantworten kann. Du glaubst ihm?«

»Ich weiß nicht«, meinte sie zögernd; aber sie ließ es ruhig geschehen, daß er sie auf den Schoß nahm und küßte.

»Johnny war da und hat über dich geschimpft. Beide haben geschimpft. Aber ich habe mich gefreut«, setzte sie aufblickend hinzu.

»Worüber denn?«

»Ich bin so froh, daß du nicht mit dem Kerl gehen willst. Bruno, du versprichst mir, dazubleiben?«

»Wozu soll ich es dir noch groß versprechen?«

»Du läßt dich nachher doch wieder überreden … das war immer so … Schwöre mir, daß du diesmal fest bleiben wirst!«

»Warum denn gerade diesmal?«

Ihre Augen waren vor Angst geweitet.

»Ich fühle es, daß es diesmal nicht gut ausgeht. Ich fürchte mich so für dich.«

Er sah sie verwundert an. Hier war ein Mensch, der es gut mit ihm meinte. Vielleicht der erste in seinem Leben. Und sie war hübsch mit ihrem flachsblonden Haar und ihren graublauen Augen.

»Mach dir man bloß keine Sorgen, Deern«, sagte er freundlicher.

»Schwöre mir, daß du dies alles läßt. Du bist doch viel zu schade für diese Bande.«

»Mit dieser Ansicht dürftest du ziemlich allein stehen«, erwiderte er lachend.

»Und wenn's so ist! Es ist so.« Sie sprang auf und lief in der engen Kammer auf und ab, bis sie plötzlich vor ihm stehen blieb.

»Willst du dir nicht von mir helfen lassen, Bruno?«

»Helfen lassen?« fragte er verwirrt. »Wie wollte so eine kleine Deern mir wohl helfen?«

»Ich bin nicht so klein, wie Großvater immer tut. Begreifst du das nicht?«

»Ich sehe, daß du sehr hübsch bist und viel zu schade für den Bums in der Elbchaussee.«

Sie zupfte an ihrem Kleid, als ob sie es weiter über die Knie ziehen wollte. »Sieh mich nicht so an«, flüsterte sie. »Sieh mich nicht so an …«

Da wußte er, was er bisher nicht beachtet hatte; es stand kein Kind vor ihm. Da stand ein Mädchen, das ihn lieb hatte, mochte der Himmel wissen, warum.

Er zuckte die Achseln. Jetzt war keine Zeit für Weibergeschichten. Alles kam zu spät.

»Was würde wohl der Alte sagen, wenn er wüßte, was du mir eben gesagt hast?«

»Das wäre mir gleich«, sagte sie trotzig.

»Aber mir nicht, kleine Deern.« Er zog sie an sich und sagte wärmer: »Sieh mal, die Sache ist so, daß ich mal ein Weilchen aus Hamburg fort muß. Der Boden ist reichlich heiß für mich geworden. Und dazu brauche ich – –«

»Geld«, vollendete sie ruhig.

»Siehst du, jetzt bist du schon vernünftiger. Und wo soll ich's herkriegen, he?«

»Von mir.«

Er lachte laut auf.

»Wieviel kannst du mir geben? Langt es bis Wittenberge?«

Einen Augenblick sah sie sich unruhig um.

»Hört hier niemand?«

»Keine Bange. Timmermanns tätowiert gerade einen Leichtmatrosen. Da kann das Haus über seinem Kopfe brennen.«

Dennoch lief sie zur Türe, öffnete sie einen Spalt und lauschte. Dann lief sie zu ihm zurück und flüsterte in sein Ohr: »Ich weiß, wo er sein Geld versteckt hat.«

»Donnerwetter«, entfuhr es ihm.

»Ich habe es längst heraus. Er sperrt mich doch manchmal in die Kammer ein, wenn er mit seinen Kerlen was ausheckt. Er hält mich für dümmer, als ich bin.«

»Du bist ein gescheites Kerlchen.«

»Im Suff« hat er manchmal gesagt, ich brauch mich nicht irgendeinem Jan Maat an den Hals zu werfen, ich könnte den Feinsten haben. Ich täte eine Stange Geld mitkriegen.«

»Weiter!«

»Da hab' ich denn gesucht. Unter der Schifferkiste in der Kammer, du weißt doch?«

»Ich habe doch selbst draufgesessen. Also was ist da?«

»Darunter ist ein loses Stück Balken. Ich habe es zuerst nicht bemerkt. Aber gestern habe ich es aufgehoben.«

»Da liegt das Geld?« fragte er fiebernd.

Sie nickte.

»Es sind lauter kleine Pakete in Tabakspapier, weißt du. Man kann sich leicht täuschen. Aber eins war an einer Ecke aufgerissen und ich sah nach. Es sind lauter Banknoten. Soviel ich verstehe, deutsche, englische und holländische. Es können auch dänische sein. Er hat doch Pässe für diese Länder.«

Bruno Nissen atmete schwer auf.

»Und das willst du mir geben?«

»Ja«, sagte sie fest. »Es ist doch auch mein Gut. Einmal soll ich es doch erben.«

»Natürlich ist es deins«, bestätigte er. Wenn sie es dem alten Gauner nur nicht vorher beschlagnahmen, setzte er in Gedanken hinzu.

Plötzlich umarmte sie ihn.

»Ich gebe es dir«, sagte sie heiß. »Aber du mußt mich mitnehmen.«

»Dich mitnehmen?« wiederholte er abwesend.

»Wir gehen zusammen fort. Wir beide. Irgendwohin. Wir fangen wo anders was an. In Amerika oder Australien oder sonstwo. Wir beide, Bruno …«

Er schob sie sacht zurück und erhob sich. Das Geld mußte ihm gehören. Aber mit diesem noch nicht mündigen Mädchen auf die Flucht gehen? Ein Steckbrief würde sie schon in Cuxhaven packen.

»Natürlich gehen wir zusammen fort«, sagte er, da er instinktiv ihr Mißtrauen spürte. »Wir wollen ein feines Leben führen, du und ich.«

»Aber es muß bald sein, Bruno. Ich weiß nicht, was es ist, aber es liegt sowas in der Luft.«

»Wann kann ich es kriegen?« fragte er heiser.

»Morgen. Übermorgen. Wenn er weg ist.«

»Wie soll ich dir danken? Nun geh' aber. Der Alte will heute nochmal herkommen, und es ist nicht nötig, daß er dich hier trifft.«

Hanne war kaum eine Viertelstunde weg, als Nottebohm kam.

»Nette Bude hier«, knurrte er grinsend.

»Es ist nicht viel besser als im Kittchen.«

Der Alte setzte sich und stopfte sich gemütlich eine Pfeife.

»Du wirst schon vorlieb nehmen müssen, min Sön. In den Fröhlichen Wandsbecker komm man lieber nicht.«

»War schon wieder jemand da?« fragte Bruno Nissen nervös.

»Was heißt hier Jemand'? Du denkst wohl an das feine Fräulein?«

Der Jüngere hätte ihm am liebsten in das schmunzelnde Gesicht geschlagen. »Halt's Maul«, stieß er hervor.

»Man immer mit die Gemütlichkeit. Johnny hat mir erzählt, du willst nicht mitmachen. Bist du eigentlich vom blauen Affen gebissen?«

»Gib mir Geld, Nottebohm. Ich muß hier fort.«

»Das weiß niemand besser als ich.«

»Na also.«

»Und woher willst du Geld?«

»Von dir.«

Nottebohm tat, als ob er nicht verstanden hätte. »Da wäre also die feine Sache, die dir Johnny mitgeteilt hat.«

»Ich will nichts von Johnny hören.«

Der Alte paffte ein paar tiefe Züge. »Du kennst das Geschäft. Du hast nichts zu tun, als vor dem Haus zu stehen. Für alle Fälle.«

»Schmiere?«

»Was viel Feineres. Du sollst bloß den Herrn der Firma markieren, hehe, wenn jemand neugierig kommt.«

»Wenn Johnny dabei ist, gibt's immer was Gewaltsames.«

»Als ob wir dich dann mitgenommen hätten!« Der Alte zuckte die Achseln.

»Also, das versprichst du wenigstens.«

»Johnny dreht das Ding, und Gewalt ist nicht nötig. Der alte Mann liegt krank und ist froh, wenn man ihn in Ruhe läßt. Und der Wandschrank ist leicht zu finden. Ich war selbst dort und hab' mich genau umgesehen.«

Bruno Nissen sah ihn starr an. »Du warst dort?«

»Du wirst dich über Vater Nottebohm noch manchmal wundern müssen. Wir hatten da so ein kleines Geschäft zu besprechen«, fuhr er nachlässig fort, ohne den andern dabei anzusehen. »Es ist auch noch nicht fertig. Da holt man sich das Geld eben auf andere Weise.«

»Was war das für ein Geschäft?«

»Du bist bannig neugierig, min Sön. Ein andermal erzähl' ich's dir schon.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Man hörte aus dem Nebenraum einen plattdeutschen Fluch und Timmermanns Gebrumm.

»Ich mache nicht mit«, sagte Bruno Nissen plötzlich. »Ich will mit dieser verdammten Huygens-Geschichte nichts mehr zu tun haben. Sie hängt mir zum Halse heraus.«

»Tausend Mark fallen für dich ab«, meinte Nottebohm ruhig. »Damit kannst du abdampfen.«

»Ich will nicht. Ich sage dir doch, daß ich nicht will.«

»Und wie willst du hier fortkommen? Willst du warten, bis du eine Brieftasche findest?«

»Ich will jedenfalls nicht.«

»Hör' mal«, sagte der Alte argwöhnisch. »Du tust so, als ob du das Geld nicht nötig hättest?«

Bruno Nissen sah ein, daß er sich vergaloppiert hatte. Wenn der Alte mißtrauisch wurde, war alles aus. Dann half ihm auch seine Enkelin nichts. Dann blieb nichts übrig, als zur nächsten Polizeiwache zu gehen und sich zu stellen.

»Mach' keine Geschichten«, brummte er, »du weißt ganz gut, daß ich in der Klemme stecke wie noch nie.«

Nottebohm schmunzelte. »Das klingt schon besser. Und du machst mit?«

»Ja. Es ist das letztemal.«

»Das allerletztemal, versteht sich. Und eine Stunde danach hast du das Geld.«

»Und wenn es nicht klappt?«

»Es wird klappen. Es ist alles ausbaldowert.« Er klopfte die Pfeife aus und steckte sie ein. »Du bleibst, bis Johnny dich morgen abholt. Und du gehst vorher nicht aus dem Hause, kapiert? Du sagst Timmermanns einfach, du hast dir den Fuß verstaucht.«

Brunos Hoffnung, daß Hanne mit dem Gelde kommen würde, erfüllte sich nicht. Er war ein Nervenbündel, als Johnny ihn um zehn Uhr abends abholte.

»Mensch, wie siehst du denn aus? Wie Braunbier mit Spucke.«

»Halt's Maul.«

»Wir können vorher noch einen heben. Es ist noch Zeit. Ein pikfeines Wetterchen draußen für meinen Vater seinen Sohn. Es regnet Schnürsenkel.«

Bruno Nissen folgte widerstandslos.

In einer Hafenschänke, dicht an der Hochbahn, kehrten sie ein. »Es ist noch Zeit«, meinte Johnny, »und ein Köm mit Beer wird dich wieder auf den Damm bringen.«

Sie bestellten die Getränke und kalte Karbonade. An ihrem Tisch saß ein betrunkener Kerl, der ein unflätiges Lied auf englisch vor sich hingröhlte. Sein Schnapsdunst schlug ihnen betäubend ins Gesicht.

Am Nebentisch saß das ›Doktorchen‹, eine längst vertraute Gestalt. Jedem hier hatte er längst erzählt, daß er einmal bessere Tage gesehen hatte und sogar Student gewesen war. Wer daran zweifelte, bekam vergilbte, verdreckte und zerknüllte Papiere vorgelegt, die geheimnisvolle Stempel trugen. Er lebte von der Gutmütigkeit der einfachen Leute hier, die Mitleid mit dem Herabgekommenen hatten.

Er trat zu den neuen Gästen und ließ sich einen Schnaps bestellen, worauf er höflich dankte.

»Ich bin nur studienhalber hier«, bemerkte er vertraulich. »Meine Atmosphäre ist das nicht. Odi profanum vulgus et arceo. Das ist Lateinisch, meine Herren, und ich beherrschte es einmal wie meine Muttersprache. Mein Vater war Gymnasiallehrer in Flensburg und hatte mich für die Jurisprudenz ausersehen.«

»Das muß verflucht lange her sein«, fiel Johnny ein.

»Die Zeit vergeht und wir mit ihr. «Wer nicht alt werden will, muß sich in der Jugend aufhängen. Aber deswegen müssen Sie nicht so argwöhnische Augen machen, mein Herr. Es war nicht böse gemeint. Prosit. Nunc est bibendum. Das sagte ein großer Dichter vor 2000 Jahren.«

Das Geschwätz des ›Doktorchen‹ war Bruno willkommener als seinem Freund; es lenkte ab und ließ ihn die Schlinge vergessen, in der er steckte. Außerdem erfaßte auch ihn etwas von dem Respekt vor der besseren Vergangenheit des Entgleisten.

»Bekomme ich noch einen, Herr Nachbar?«

»Man tau!« stimmte Johnny zu. »Aber trink auf unser Wohl.«

Das alte Männchen schwenkte sein Glas dem Spender zu. »Maecenas atavis, edite regibus … weiter weiß ich im Augenblick nicht. Es ist lange her, daß ich mir an den Bänken des Gymnasiums den Hosenboden blank rieb. Und jetzt ist das die einzige Stelle, wo es mir glänzend geht.« Er lachte aus voller Kehle über seinen Witz und blickte sich triumphierend um.

Allmählich fühlte sich Bruno Nissen hier angeödet. Er begann das Männchen zu verachten, das er sonst bemitleidet hatte. Warum dünkt er, der von den Almosen besoffener Kerle lebte und schmarotzte, sich besser als andere? Das bißchen Bildung? Pah, Geld mußte man haben. Dann konnte man so ein Mädchen haben wie die, die ihn neulich Abend so entsetzt angesehen hatte, als er sie küßte. Dann konnte man anständig und ruhig leben und brauchte nicht zusammenzufahren, wenn sich einem eine Hand auf die Schulter legte.

Geld! Nottebohm hatte es, und es war nicht unauffindbar. Nur zehn Minuten dort allein sein können, mit oder ohne Hanne! Am besten ohne sie. Was der Alte wohl für Augen machen würde, wenn er das Versteck leer fand? Er kicherte leise vor sich hin.

»Komm. Es ist Zeit.« Johnnys Stimme weckte ihn unsanft aus seinen Träumen.

»Noch einen Köm«, sagte er, bestrebt, das Kommende hinauszuschieben.

»Du hast genug. Klaren Kopp!«

Der Regen rauschte draußen wie ein einziger Wasserfall hernieder. Er füllte den ganzen Raum vom düsteren Himmel bis zum glitschrigen Pflaster. Sie fühlten sich beide durchweicht, als sie am Butenfleeth ankamen.

Trotz der Wärme der Luft fühlte Bruno Nissen seine Zähne klappern. Unsinn, es war das letztemal, ›das allerletzemal‹, hatte Nottebohm gesagt. Was gab es hier zu fürchten?

Er blieb, der Verabredung gemäß, an der gegenüberliegenden Haustür stehen, während Johnny das Schloß drüben in wenigen Minuten kunstgerecht öffnete.

Nun verschwand der Komplize, und Bruno wartete mit aufgestelltem Rockkragen, die zitternden Hände in den Jackettaschen.

Erwartungsvoll starrte er nach oben. Dort würde bald das Lichtsignal der Blendlaterne aufscheinen, das ihn heraufrief. Aber es war fraglich, ob er es durch den strömenden Regen hindurch überhaupt bemerken würde.

Die Minuten dehnten sich endlos. Johnny mußte doch längst oben sein? Waren die Schlösser komplizierter, als sie angenommen hatten? Nottebohm hatte versichert, daß hier alles altmodisch sei. Die Sache gefiel ihm nicht.

Unruhig ging er über die Straße, um dann wieder kehrt zu machen, da ihm der Regen in den Kragen floß. Die Totenstille der nächtlichen Straße war beklemmend und bedrückend.

Es war das erstemal, daß er sich zum Gehilfen eines Schwerverbrechers machte. Was er bis dahin gemacht hatte, war wohl strafbar, streifte aber immerhin das Zuchthaus nur mit dem Ärmel. Ach was, er war gezwungen worden, und er konnte das jederzeit nachweisen. Und im übrigen konnte er jetzt noch fortgehen; er brauchte seinem Genossen nur zu sagen, daß er das verabredete Signal nicht gesehen habe.

Aber er lief nicht fort. Der Respekt vor Johnnys Fäusten war zu groß. Und dann war es das Geld, das er dringend brauchte. So oder so, morgen verschwand er aus Hamburg.

Die Zeit wurde schrecklich lang. Die Minuten dehnten sich zu Stunden, die an seinen verbrauchten Nerven zerrten. Er wartete wohl schon eine halbe Stunde. Was zum Teufel war da oben geschehen?

Endlich ertrug er dies Warten nicht mehr, und er überquerte aufs neue die Straße. Als er in den Torbogen eintrat, hörte er oben ein leichtes Knacken und das Aufgehen einer Tür. Johnny war also eben erst mit dem Türschloß fertig geworden.

Gegen die Verabredung ging er nach oben. Das Alleinsein auf der Straße war zuviel für ihn.

Die Treppe knarrte etwas unter seinen Tritten, und er pfiff leise ein paar verabredete Takte, um den Komplizen zu beruhigen.

Im Korridor des oberen Stockwerks sah er Johnnys Laterne schwach aufblitzen. Dort also war es, wo die Gelder der Huygens' lagen.

Als er in das Arbeitszimmer eintreten wollte, stieß er auf den Freund.

Er hörte einen Fluch. »Hier war schon einer vor uns, Mord.«

Bruno Nissen hatte nur halb verstanden und drängte sich an Johnny vorüber. In der Aufregung, die ihn schüttelte, kam er ins Stolpern und fiel hin. Seine Hand bekam irgend etwas wie einen Draht oder einen gespannten Faden zu fassen.

Im gleichen Augenblick sprühte eine grelle Stichflamme auf, ähnlich wie bei der Blitzlichtaufnahme neulich im Skatklub Eppendorf.

Aber in dem Bruchteil der Sekunde, da das Licht brannte, sah er etwas Entsetzliches; dort auf dem Boden am Ofen lag die schwere, massige Gestalt eines Mannes, der mit offenen, glasigen Augen emporstarrte.

Trotz der Gefahr, in der er schwebte, konnte er einen Schrei nicht unterdrücken. Er mußte alle Kräfte zusammennehmen, um hinaus zu laufen. Hier war ein Verbrechen begangen worden. Und ihn würde man verurteilen, wenn man ihn hier faßte.

Er flog die Treppe hinunter und rannte Johnny in die Arme, der schon unten stand, und den er fast vergessen hatte.

»Bist du verrückt? Langsam gehen. Was wolltest du oben? Du hast ja nicht einmal Handschuhe an.«

Bruno Nissen konnte kein Wort hervorbringen. In wahnsinniger Angst klammerte er sich an Johnnys Arm.

»Haltung. Langsam gehen. Da kommt einer.«

Der Wächter der Schließgesellschaft ging quer über die Straße, brummelte etwas vor sich hin und schritt auf das Geschäftshaus zu.

Die beiden trennten sich sofort. Johnny in der Richtung nach der Innenstadt, Bruno Nissen dem Hafen zu.

Als er an den Vorsetzen war, konnte er schon den Angetrunkenen markieren. Den Hut schief im Gesicht torkelte er an den Häusern entlang. Er pfiff ein paar Takte eines Schlagers halblaut vor sich hin, während er an dem Beamten vorüberging.

»Dem wird der Regen gut tun«, hörte er.


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