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10

Dr. Bendix blickte in grenzenloser Verlegenheit auf das weinende Mädchen, dann nach der Tür, durch die jeden Augenblick seine Frau kommen mußte, dann auf die Bücherreihen, die dunkel und ernst herüber drohten. Sie gaben ihm keine Stütze.

»Nicht weinen, Kind«, flehte er. »Bloß nicht weinen!«

Endlich ließ sie die Hände sinken. »Ich habe gar nicht geweint«, antwortete sie leise. »Es hat mich nur etwas aus der Bahn geworfen. Was müssen Sie von mir denken, Doktor!«

Ihr trostloses Lächeln rührte ihn mehr, als es Tränen vermocht hätten. »Wir wollen alles noch einmal überlegen. Ich bin am Ende nicht unfehlbar und auch kein Arzt.«

Sie sah ihn verwundert an. »Ein Arzt? Könnte da ein Arzt helfen?«

»Warum nicht? Ich halte nicht viel von den Herren der anderen Fakultät und sie von mir wohl auch nicht. Aber man könnte es doch versuchen.«

»Nein, das kann man nicht. Der Arzt müßte den Kranken doch wenigstens kennen?«

»Er müßte ihn gründlich kennen. Aber «dann ist mit Suggestionsbehandlung sicher viel zu machen.«

Sie sann eine Weile vor sich hin. »Über eins komme ich nicht hinweg, und da ist auch ein Fehler in Ihrer Rechnung. Dieser Senator stammte, wie Sie sagten, aus gedrückten Verhältnissen. Er hat in seiner Kindheit vielleicht viel Rohes erlebt und am Ende auch bewundert. Kindheit entscheidet wohl über den Menschen und taucht immer wieder auf. In Ihrem Fall war das Unbewußte nur zu mächtig geworden, vielleicht von Anfang an auch nicht genügend kontrolliert und beherrscht. Ist's nicht so?«

»Sie sind sehr klug.«

»Ich bin hellsichtig geworden, Doktor. Und Sie sollen auch wissen: was mich so klar, so überklar macht, ist …«

»Ich weiß«, wehrte Dr. Bendix ab.

»... ist Liebe«, vollendete sie tapfer. Sie sah ihn voll an und errötete nicht bei ihren Worten: »Ich liebe diesen Mann, und ich will ihm helfen.«

Er nickte, ratloser als je.

»Sie haben den Namen schon gehört, und ich will Ihnen gegenüber, meinem alten Freunde, nicht länger Versteck spielen. Nun, weil das einmal angefangen und ausgesprochen wurde, will ich auch dazu stehen. Zu Ihnen kann ich doch Vertrauen haben?«

»Sie können zu mir mit allem kommen. Auch mit Schlimmerem.«

»Ich weiß nicht, ob es Schlimmeres geben könnte.«

»Sie sprechen von dem Fehler in meiner Rechnung. Vielleicht können wir da einsetzen?«

»Ja, ja«, fiel sie eifrig ein. »Sie kennen Detlev Huygens, und Sie wissen, aus welchem Hause er stammt. Aus einem Hamburger Hause, wo es nicht viel Undurchsichtiges gibt. «Wie erklären Sie sich nun, daß ihn sein Unterbewußtsein ein zweites Leben in anderen Regionen leben läßt? Ist da nicht ein Widerspruch?«

Dr. Bendix zuckte verlegen die Achseln. Er hatte allerlei von Detlev Huygens' Vater raunen hören und wunderte sich, daß sie nichts wußte. Aber er begriff, daß er ihr davon nichts erzählen durfte. Es waren schließlich nur unbeweisbare Dinge, vielleicht Übertreibungen von ausgefallenen Handlungen eines reichen Mannes, dem man gerne schärfer auf die Finger sah; Geläster vom Jungfernstieg.

»Es gibt überall Rätsel«, entgegnete er endlich. »Solche psychischen Dinge sind nicht wie eine algebraische Reihe.«

Sie sah nach ihrer Armbanduhr. »Wir müssen ein anderes Mal darüber weitersprechen. Es ist schon spät, und ich muß bald fort.«

»Bleiben Sie heute nicht?«

»Glauben Sie selbst, daß ich so, in diesem Zustand, vor Ihre Frau treten möchte? Nein, diesmal müssen Sie mich schon entschuldigen.«

»Selbstverständlich. Ich finde schon eine Ausrede.«

»Sagen Sie die Wahrheit: daß ich zu Hause Besuch erwarte. Sie brauchen aber nicht zu sagen, daß es Detlev Huygens ist.«

Trotz seiner Beherrschung zuckte er zusammen. »Herr Huygens bei Ihnen?«

»Sie brauchen um mein Seelenheil nicht besorgt zu sein. Meine Freundin ist dabei.«

»So meinte ich es nicht, das wissen Sie wohl. Ich wußte nur nicht, daß –« Er suchte sichtlich nach Worten, und sie half ihm aus.

»Sie wußten nicht, daß wir schon soweit wären, nicht wahr?« Sie lächelte traurig. »Wir sind auch noch nicht – soweit. Wir werden wahrscheinlich nie soweit kommen.«

»Ich verstehe das nicht und will mich auch nicht in Ihr Inneres drängen. Aber ich bin ein alter Mann, das bin ich, auch wenn Sie so liebenswürdig sind, abzuwinken. Und das gibt mir das Recht zu sagen: ich warne Sie vor der Aufgabe, die Sie übernehmen wollen.«

»So wissen Sie schon, daß ich eine Aufgabe vor mir sehe?«

»Das ist nicht schwer zu merken. Jede liebende Frau an Ihrer Stelle würde so empfinden.«

»Lassen wir mich aus dem Spiel. Es geht jetzt um ihn …«

Am liebsten hätte er ihr geraten, die Finger davon zu lassen; aber das hätte den Bruch mit ihr bedeutet, so stark noch eben das Freundschaftsgefühl betont worden war. Sie jetzt allein lassen, hieße, sie in einem Wald voller Gefahren im Stich lassen.

»Was raten Sie mir?«

»Das beste wäre und zugleich das notwendigste, ihn zu beobachten und ihn, wenn er sich wieder in dies Unbewußte verliert, zu wecken.«

»Wecken? Wie sonderbar das klingt! Schläft er denn?«

»Wir müssen es wohl so nennen. Es wird wie ein Traum sein, dessen Verlauf wir nicht regeln können. Denken Sie, ein lieber Mensch neben Ihnen stöhnte schwer unter einem Alp. Würden Sie ihn nicht aufwecken?«

»Natürlich. Aber – –«

»Oder denken Sie ihn sich unter dem übermächtigen Einfluß einer Suggestion, vielleicht auch einer Autosuggestion; Sie setzen Ihre Kraft dagegen ein, um ihn davon zu befreien. So meine ich es. Die Frage ist nur, ob Sie dazu stark genug sind.«

»Ich bin es«, erwiderte sie fest. »Verlassen Sie sich darauf. Aber noch eins: ich bin nicht in der Lage, ihm zu folgen. Ich könnte es schon deshalb nicht, weil ich nicht weiß, wann dieses Entsetzliche beginnt. Und dann könnte ich ihm auch nicht in jene Regionen folgen, in der er dann zu leben scheint. Nicht alle Männer würden mich so zartfühlend behandeln wie Sie, mein Freund.«

»Das habe ich bedacht. Es bleibt nur eine Möglichkeit: wir müssen ihn beobachten lassen, und Sie müssen eingreifen, sobald Sie hören, daß er in Gefahr kommt.«

»Ihn beobachten lassen?« Ein unmutiger Blick flog zu ihm hinüber. »Durch Detektive womöglich?«

»Ich sehe keinen anderen Ausweg.«

»Das widerstrebt mir, Doktor. Es ist so häßlich. Und, denken Sie, wenn er es je erfährt!«

»Er darf es nie erfahren. Und sollte es doch der Fall sein, später einmal, dann wird er Ihnen nur dankbar sein müssen.«

»Ihn durch Fremde, durch bezahlte Männer beobachten lassen? Doktor, ich fühle Schmutz an meinen Händen.«

Dr. Bendix sah sie ernst an. »Es geschieht doch um seinetwillen. Vielleicht ist es die höchste Zeit, daß man ihm hilft. Wissen Sie, ob er sich vielleicht nicht zu dieser Stunde in den Händen von Verbrechern befindet, die ihn für ihre Zwecke ausnützen?«

Litte Friese stand auf. »Sie sind grausam, aber Sie haben recht. Machen Sie mich hart und fest. Aber nun muß ich gehen. Sie verstehen: ich muß mich noch ein bißchen auslaufen, ehe ich … ehe ich vor ihn treten kann, mit ahnungslosem Gesicht und womöglich mit einem Lächeln. Tun Sie alles, was Sie für richtig halten, ich ermächtige Sie dazu, und unterrichten Sie mich bald.«

»Sie können sich auf mich verlassen. Alles geht durch mich – zunächst. Wollen Sie regelmäßig Nachricht haben?«

»Ja, aber nur in meine Wohnung.«

»Nach der Arbeit, gut. Haben Sie Telephon?«

»Von morgen ab, ja.«

Sie drückte die Hände des alten Herrn und lief hinaus.

Er lauschte mitten im Zimmer, bis er unten die Haustüre zuschlagen hörte. Dann ging er ans Fenster, um ihr nachzublicken.

Litte Friese drehte sich nicht um und blickte nicht zurück, wie sonst, wenn sie das gastliche Haus verließ. Eiligen Schrittes ging sie dem Berliner Tor zu.

»Mein Gott«, sagte Dr. Bendix, »was hast du mit uns armen Menschenkindern vor?«

Als Litte nach Hause kam, sah sie schon im Vorflur, daß Herma Terstiege fort war. Sie hatte Taktgefühl bewiesen – nur etwas zu deutlich.

Es war gut für ihre Nerven, daß sie nicht lange zu warten brauchte. Punkt vier klingelte es.

Sie schloß einen Augenblick die Augen und mußte einen Anfall von Schwäche überwinden, ehe sie zur Korridortüre gehen und öffnen konnte.

Draußen stand Detlev Huygens und neben ihm ein schwarz-weiß gefleckter Terrier, der sie neugierig beschnupperte.

»Verzeihung, daß ich hier bei Ihnen eindringe.«

»Sie sind angemeldet«, antwortete sie tonlos, »und Sie sind willkommen.«

Anfangs wollte sie ihn in das gemeinsame Wohnzimmer führen, aber sie überwand diesen Anfall von Prüderei und öffnete die Türe ihres eigenen Zimmers.

Der Hund überbrückte die Verlegenheit des Anfangs. Er machte ein paar Schritte zu dem Mädchen hin, beschnupperte sie ungeniert, blickte zu seinem Herrn auf und brummte vor sich hin.

»Darf ich ihn streicheln?«

»Versuchen Sie es. Bobby, artig sein!«

Als sie das glatte Fell des Tieres streichelte, dachte sie: Bobby, wie schade, daß du nicht sprechen kannst! Ich wäre um manchen Zweifel ärmer.

Der Hund sah unschlüssig zu seinem Herrn auf und ließ alles mit sich geschehen. Zum Schluß setzte er seinen Schwanzstummel in schwingende Pendelbewegung.

»Er läßt sich das nicht von jedem gefallen,« sagte Huygens mit kurzem Lachen. »Sie sollten stolz auf diese Bevorzugung sein.«

»Das bin ich natürlich auch. Ich hielt es immer für eine Ehrung des Menschen, wenn ein Tier zu ihm Vertrauen hat. Frißt er Kuchen?«

»Stundenlang. Aber verwöhnen Sie ihn nicht zu sehr.«

»Hatten Sie den Hund gestern mit, als Sie herkamen?« fragte sie möglichst nachlässig.

»Ja.«

»Hatten Sie ihn den ganzen Tag bei sich?«

Er sah sie verwundert an. »Den ganzen Tag? Nein. Das wäre selbst für Bobby zu anstrengend. Er ist seine Ruhestunden gewöhnt.«

»Hatten Sie ihn in Oevelgönne nicht mehr, am Elbestrand?«

»In Oevelgönne am Elbestrand? Sie fragen sonderbar. Ich wüßte nicht, daß ich dort gewesen wäre.«

Während sie sich abwandte, damit er ihr erschrecktes Gesicht nicht sähe, wiederholte sie sich seine Worte: »Ich wüßte nicht, daß ich dort gewesen wäre.« Sie fühlte die Worte wie einen körperlichen Schmerz. Er wußte heute schon nicht mehr, daß er gestern dort gewesen war! Eine kleine, letzte, schwache Hoffnung fiel in sich zusammen.

Nach einer kurzen Pause, die nur das entfernte Spielen eines Lautsprechers ausfüllte, begann Detlev Huygens langsam: »Sie haben sich sicher gewundert, daß ich Sie aufsuche?«

»Ja«, gab sie zu, »wir können uns doch den ganzen Tag im Geschäft sprechen.«

»Aber nicht das, was ich sagen wollte. Und dann ist da noch eins: Lesley hat mir verraten, was Sie ihm sagten. Sie wollen fort. Es ist schlimm, daß wir so stehen, daß es mir ein Dritter sagen mußte, Fräulein Friese.«

»Dieser Dritte ist doch Ihr Freund?«

Er überhörte den Einwurf und fuhr fort: »Ich weiß Ihre Gründe nicht, aber ich kann sie mir denken. Es muß kein Vergnügen sein, neben Christoph Uhlenwoldt und mir zu arbeiten und zwischen beiden womöglich zu vermitteln. Aber ich fürchte, das ist nicht der einzige Grund.«

Sie nickte mit geschlossenen Augen.

»Es laufen Gerüchte über mich in der Stadt herum, die wohl auch zu Ihnen gedrungen sein werden. Ich bin deswegen mit meinem Onkel hart aneinander geraten, der sie sich zu eigen machte, und habe auch sonst, nun sagen wir, Unannehmlichkeiten deshalb gehabt. Sie wissen, was ich meine?«

»Ja.«

»Sie wissen, daß es leere Gerüchte sind?«

»Sind sie das?«

Sie spürte deutlich, wie er unter ihrer Frage zusammenzuckte.

»Dann muß ich alles erzählen. Sie sollen alles wissen. Sie müssen wissen, wer ich bin, nicht wahr?«

Die Erwähnung Lesleys hatte auf sie irgendwie ernüchternd gewirkt. Der Doppelgänger! Wollte auch er nun damit kommen? Trotz ihrer Verzweiflung hätte sie beinahe aufgelacht.

Wenn sie das glauben sollte, wer stand denn hier in ihrem Zimmer eigentlich vor ihr? Vielleicht eben dieser andere Geheimnisvolle … vielleicht hatte er sich so den Eingang zu ihr erschlichen, und sie stand ihm Rede und Antwort … und dann hatte sie gestern doch Detlev Huygens gesehen, da dieser hier von nichts wußte? Dieses wilde Durcheinander war dann möglich.

Aber als sie in das durchfurchte und zergrübelte Gesicht des Mannes sah, der, vorne übergebeugt, sie anstarrte, als hinge wer weiß was von ihrer Antwort ab, wurde sie sich erst bewußt, daß er eine Antwort auf eine Frage erwartete, die sie nicht mehr wußte.

»Erzählen Sie«, sagte sie müde, »wenn Sie wollen …«

Der Hund saß jetzt fern von ihr, dicht an seinen Herrn gedrückt. Es war, als bereue er sein Entgegenkommen von vorhin, und seine Augen schienen sie feindlich anzublitzen. Er erzählte, anfangs stockend, dann fließender. Manches wußte sie schon, aber das meiste war neu.

»Er war bei Ihnen zu Hause?« unterbrach sie ihn plötzlich aufmerksam.

»Ja, und ich fürchte Schlimmes. Sicherlich war der Grund, sich über meine Schrift zu orientieren, für ihn bestimmend. Bedenken Sie, was ein gewissenloser Mensch damit anfangen kann.«

»Und der Hund?« fragte sie, auf Bobby deutend. »Er erkannte den Fremden nicht?«

»Er war nicht anwesend. Sonst – –«

Sie ließ ihn mit einer matten Handbewegung weiter erzählen und lauschte mit ängstlicher Aufmerksamkeit. Jeder neue Satz bestätigte und vertiefte ihr dies seltsame Krankheitsbild: Detlev Huygens – denn er war es, der vor ihr saß – kämpfte noch mit dem Dämon, der über ihm war, er fühlte ihn mehr, als er von ihm wissen konnte, und – er machte ihn zu einem Menschen von Fleisch und Blut.

Huygens sagte nur »er«. »Er« hatte jenes Geld genommen, »er« war auf dem Rennplatz gewesen und war versehentlich mit jenem Mädchen gefilmt worden. Und jedes »er« schnitt ihr ins Herz.

Wie mußte er leiden, umhergeworfen von Leidenschaften, die keiner weniger kannte als er selbst. Immer war es schwerer gewesen, gegen die Ahnung einer Gefahr anzukämpfen als gegen die Gefahr selber. Aber wie sollte sie helfen können?

»Ich fühle, daß mir keiner recht glaubt«, sprach er weiter. »Auch Lesley, der mein Freund sein möchte, wartet im Grunde auf eine Bestätigung. Ich höre Bekannte wispern und ein anderes Gespräch beginnen, wenn ich mich nähere.« Er hielt inne und fuhr erst nach einer Weile fort: »Aber alles wäre leichter, wenn Sie mir glaubten.« Das Bekenntnis kam so unvermutet, daß sie erschrak. »Warum gerade ich?« stammelte sie.

»Sie sollen wissen, wer ich bin. Sie sollen mich richtig sehen, kein gefährliches Bild, keine Karikatur. Und Sie dürfen auch nicht fortgehen. Was sollte Huygens & Huygens wohl ohne Sie anfangen? Ohne Ihre verbindende Kraft würde die Firma auseinanderfallen wie ein verspaktes Faß.«

Also das war es? Sie war nur die unentbehrliche Angestellte, die Stütze der Firma, die man nicht gerne fortließ?

Aber ehe sie ihm heftig antworten konnte, hatte er ihre Hand ergriffen. »Sie dürfen nicht, Litte Friese, nicht wegen der Firma. Das ist gleichgültig, obwohl es sonderbar im Mund des Chefs klingen mag. Ich kann mir mein Leben nicht ohne Sie denken … das ist es.« Ihre Blicke gingen über sein gespanntes Gesicht, in dem seine Augen angstvoll suchten und fragten.

Was auch sonst war, er hing an ihr. Nun fühlte sie es. Er war zu ihr gekommen und hatte all seine Scheu überwunden, sie wußte, wie schwer ihm die Beichte geworden sein mußte – er war zu ihr gekommen, vielleicht, weil er fühlte, daß nur Liebe ihn noch retten konnte.

Als er ihre Hand küßte, scheu und vorsichtig, sagte sie, fast ohne es zu wissen: »Ich glaube Ihnen, und ich bleibe ja auch …«

Das erste Lächeln in seinem ernsten Gesicht rührte sie beinahe zu Tränen. Ihr ganzes Wesen war in diesem Augenblick eine einzige Flut von Mitleid. Eine wilde Angst packte sie: würde sie ihn aus seinem Banne befreien können? Würde ihre Kraft ausreichen? Jetzt erst wußte sie, wie sie ihn liebte.

Der Hund blaffte einen Brummer an, der sich in seine Nähe gewagt hatte, und sprang dem Störenfried in großen Sätzen nach. Beide erwachten wie aus einem Traum und lächelten einander an.

Seine Blicke folgten dem Terrier, glitten über die Stube und blieben an den Büchern haften.

»Brownings Gedichte haben Sie auch, wie ich sehe. Haben Sie seine ›Pippa geht vorüber‹ gelesen?«

»Ja«, erwiderte sie ein wenig verwundert. »Sogar im Urtext, aber es war nicht einfach.«

»Ist der Gedanke nicht wunderschön: ein junges Mädchen geht durch die Straßen, und ihre Stimme, nichts als ihre reine Stimme, weckt die Menschen, ordnet Schicksale und befreit die Belasteten?«

Sie sah in sein glückliches Gesicht. Und diesen Mann, der sie kindlich-gläubig und froh anblickte, wollte sie beobachten lassen wie einen, der auf verbrecherischen Wegen ging? Es war unmöglich.

Aber dann fielen ihr die Worte des Anwalts ein: »Es geschieht um seinetwillen!«

Mit einem Male stand er auf, ging zu den Büchern und holte das Bändchen mit den japanischen Gedichten vor.

»Wie schön, daß Sie es noch haben!«

»Ja«, gestand sie mit einem leichten Erröten, »und gestern las ich noch drin.«

»Und darf ich wissen, was Sie lasen?«

Sie erhob sich, ging zu ihm und nahm ihm das Buch aus der Hand. Sie blätterte, und es dauerte ziemlich lange, bis sie die Verse der schönen Sidzuka fand und sie ihm hinhielt.

Er las leise bis zum Schluß: »Und in Gedanken ging ich mit ihm den Pfad …« Das Buch fiel zu Boden.

»Litte!« sagte er leise. »Wirklich?«

»Ja«, antwortete sie, in seine strahlenden Augen sehend.

Als sie aus dem Rausch der ersten Küsse erwachte, war alles vergessen, was sie gequält hatte. Daß sie sich liebten, war jetzt das einzige, was Bedeutung hatte.

Der Terrier knurrte eifersüchtig und rieb sich an seinem Herrn.

»Warum hast du Bobby in diesen Zeiten eigentlich nicht immer bei dir?«

»Er ist ein bißchen scharf und sehr ausgesprochen in seinen Neigungen und Abneigungen. Er würde sich im Geschäft unmöglich benehmen.«

»Dann muß er es lernen. Nicht wahr, Bobby, du wirst dich im Butenfleeth wie ein gebildeter Hund benehmen?«

Der Terrier versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen.

»Glaubst du, er sei ein so guter Schutz für mich?«

Sie stimmte nicht in sein Lachen ein. »Es ist nur deswegen, Detlev: diesen Hund kann dir ein anderer jedenfalls nicht nachmachen.«

»Eine geniale Idee«, meinte er verblüfft. »Und dabei so einfach!«

»Solange Bobby bei dir ist, weiß jeder, dem daran liegt, daß du es bist, wo man dich auch sieht.«

»Wo man mich auch sieht«, wiederholte er gedankenvoll.

Sie nahm ihn in ihre Arme und scheuchte mit Küssen die aufsteigenden Grübeleien fort.

Ehe sie gemeinsam fortgingen, holte er aus seiner Brieftasche ein Bild hervor.

»Wer ist das?« fragte sie.

»Sieh ihn dir genau an, Liebste, was hältst du von ihm?«

Sie sah das eigenwillige Gesicht eines etwa fünfzigjährigen Mannes vor sich. Störrisch Nase und Kinn, leidenschaftlich und herrisch die Augen. Sie mußte an Bilder in ihren Jugendbüchern denken: so etwa waren da die Konquistadoren abgebildet, die über zertrümmerte Reiche gingen, einem wilden Idol folgend.

»Bilder täuschen so«, sagte sie zögernd. »Jedenfalls ist dies ein Mann von Leidenschaften, die er nicht bändigte. Ein erfolgreicher, aber kein glücklicher Mann.« Und sie setzte fröstelnd hinzu: »Ich möchte nicht von ihm abhängig sein.«

Über sein Gesicht flog ein Schatten, und er enthüllte die Unterschrift, die er bis dahin verborgen hatte: George Huygens.

»Es ist das Bild meines Vaters …«

Plötzlich fühlte sie wieder die Gefahr, die über ihm und von nun an auch über ihr drohte wie eine Wetterwolke. Das Blut dieses Vaters – wenn das schuld an allem war? Ihr fiel ein, daß Dr. Bendix gezaudert hatte, als sie vom Erbe des Blutes gesprochen hatte. Was wußte er? Was war wahres daran?

In einer leidenschaftlichen Aufwallung schloß sie Detlev Huygens in ihre Arme, als müsse sie ihn schützen … als müsse er sie schützen …


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