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1

Detlev Huygens' Leben nahm plötzlich einen anderen Weg – – wie ihn etwa ein Wagen nimmt, der durch eine untergelegte Patrone aus dem Gleis gerissen wird, um nun einem unbekannten Ziele zuzusausen.

Der Tag, an dem diese von niemand erwartete Wandlung der Dinge begann, war ein reiner, kristallklarer Sommertag, wie Hamburg ihn nur selten geschenkt bekommt. Litte Friese eilte in ihrem leichten, fast tänzelnden Gang die Katharinenstraße entlang, dem Butenfleeth zu. Sie trällerte vor Vergnügen und Lebenslust eine dumme Melodie vor sich hin.

Sie unterbrach ihre musikalische Erinnerung und lachte vergnügt, als sie dicht vor sich Herrn Langelüddecke, den alten Kassierer von Huygens & Huygens erblickte, der eben um die Ecke gebogen war.

Langelüddecke – – mein Gott, war der Name nicht länger als der Mann, der ihn trug?

Raschen Schrittes holte sie ihn ein und klopfte ihm kräftig auf die Schulter. »Guten Morgen, Herr Langelüddecke. Wollen Sie mir etwa entfliehen?«

»Igittigitt«, sagte der kleine Herr erschreckt, während er sie durch seine dicken Brillengläser strahlend betrachtete. »Wie sollte ich wohl auf solche Gedanken kommen? Ich freue mich immer, Sie zu sehen. Sie sind wie … wie …« Er fand keinen Vergleich und errötete vor Verlegenheit. »Geschenkt«, wehrte sie ab.

Während er neben ihr hertrippelte, fuhr er mit geheimnisvoller Miene fort: »Heute ist es noch was Besonderes. Heute hat es seine eigene Bewandtnis, daß ich gerade Sie als ersten Bekannten treffe.«

»Was ist denn heute so Besonderes mit Ihnen? Haben Sie etwa Geburtstag?«

»Alte Leute haben keinen Geburtstag, Fräulein Friese. Nöh, heute Nacht habe ich – aber Sie dürfen nicht lachen – von einem großen Feuer geträumt. An solchen Tagen gibt's dann immer Unheil – und zwar dreierlei.« »Dreierlei?« fragte sie vergnügt.

»Man soll über solche Dinge nun lieber nicht lachen. Ich weiß, daß die liebe Jugend darüber gern die Achseln zuckt. Aber ich bin ein alter Mann und habe so meine Erfahrungen gesammelt. Das Schicksal warnt uns; wir verstehen es bloß nicht immer, oder wir verstopfen uns die Ohren.« Er rückte seine ewig rutschende Brille zurecht, eine Geste der Verlegenheit, die sie an ihm kannte.

»Und zweierlei ist schon eingetroffen!«

»Erzählen Sie, lieber Freund. War es sehr schlimm?«

»Die Brille meiner Frau zerschlug, während sie aufs Tischtuch … einfach aufs Tischtuch … es ist kaum zu glauben … und gleich beide Gläser …«

»Wie unangenehm. Und das zweite?«

»Ich schnitt mich in den Finger, während ich mein Rundstück mit Butter beschmierte – das Messer glitt einfach aus.«

Litte Friese mußte sich das Lachen verbeißen, als sie fragte: »Und nun erwarten Sie das dritte Unglück?«

Sie waren inzwischen vor dem Geschäftshaus Huygens & Huygens angelangt. Als einziges altes Haus fiel es in der Straße ohne weiteres auf. Die Front war schwarzverräuchert, und die Goldbuchstaben des Firmenschildes begannen abzublättern, von dem zweiten Huygens war aller Goldbelag verschwunden, und die Buchstabenumrisse lagen auf dem schwarzen Untergrund. An diesem lachenden Sommermorgen dachte das Mädchen nicht darüber nach – es war ein seit acht Monaten gewohnter Anblick – vielleicht kam einmal der Tag, wo ihm auch dies bedeutsam wurde. Ehe sie in den schmalen hohen Torbogen eintraten, blieb Langelüddecke stehen und dämpfte seine Stimme zum Flüstern: »Auf das Dritte warte ich nun. Aber ich hoffe, daß Sie den Spuk schon zerstört haben.«

Gegen ihren Willen empfand sie etwas Ungewohntes, Fremdes, Feierliches. Sie schüttelte es ab: es war wohl nur das gleiche Gefühl, das sie jedesmal beim Betreten der düsteren Halle und der noch dunkleren Korridore erfaßte. Mit einem ungeduldigen Achselzucken betrat sie ihr Zimmer, das zwischen den Privatkontors der beiden Chefs, des jüngeren Detlev Huygens und des alten Uhlenwoldt, lag. Drei Zimmer weiter hatte eben Herr Langelüddecke sein Jackett mit einem praktischen Lüsterröckchen vertauscht, als das Telephon schnarrte.

Er hob, den einen Arm noch im Hemdsärmel, den Hörer ab, und seine ärgerliche Miene verwandelte sich schnell in eine höfliche, als er drüben die Stimme des Juniorchefs vernahm.

Der junge Butterweck, der abseits am Fenster arbeitete, hörte des Kassierers Erschrecken deutlich. »In bar? Wir haben knapp 3000 in bar zur Verfügung – wie? Nicht nötig? Wie Sie wünschen, Herr Huygens. Und den Betrag auf Ihr Privatkonto überschreiben? Natürlich … wie Sie wünschen.«

Der alte Kassierer dienerte noch, als das Gespräch schon längst beendet war; dann sagte er mehr zu sich selbst als zu dem dummen Bengel da: »Fast dreitausend Mark? Wozu braucht man denn privatim so mir nichts, dir nichts an dreitausend Mark?«

Herr Butterweck lachte. »Ich wüßte schon, wozu man das gebrauchen könnte. Blankenese, Helgoland, das neue Konzertvarieté in Hamm – –«

»Halten Sie den Schnabel«, rief Langelüddecke nervös. »Sie sind gar nicht gefragt. Sie haben auch keine Verantwortung. Aber ich.«

Nach einer Minute des Besinnens lief er zu Litte Friese hinüber.

»Jetzt ist das Dritte da«, keuchte er, kaum, daß er die Türe geschlossen hatte.

»Das Dritte?« fragte sie verwundert. Sie hatte das Gespräch auf der Straße schon vergessen.

»Herr Huygens hat eben angeläutet, er braucht sofort alles verfügbare Bargeld. Sofort und zu Lasten seines Privatkontos. Es sind knapp dreitausend.«

»So viel?«

»Ja, und ich bin außer mir. Was sind das für neue Gebräuche! Herr Uhlenwoldt ist schon da – soll ich ihn nicht lieber in Kenntnis setzen?«

»Nein, Herr Langelüddecke, das ist ganz ausgeschlossen. Sie wissen doch ebensogut wie ich, wie die beiden Herren zueinander stehen.«

»Wie Hund und Katz, ja.« Er fuhr sich verzweifelt durch die Haare. »Hat man je so was gehört? Chefs der gleichen ererbten Firma – und wie Hund und Katz!«

»Wenn Ihnen Herr Huygens den Auftrag gegeben hat, müssen Sie ihn ausführen. Die Verantwortung tragen Sie doch nicht.«

»Ja, ja«, bestätigte der Kassierer, schon etwas ruhiger. »Übrigens war die Stimme Herrn Huygens' etwas belegt. Er soll auch auf dem Rennen gewesen sein, wurde mir gesagt.« Er wußte selbst nicht, wie er beide Mitteilungen in Zusammenhang bringen sollte.

»Waren Sie nie auf einem Rennen?« Die Frage klang wie: haben Sie noch nie die Michaelskirche gesehen?

»Ich auf einem Rennen? Sie scherzen. Das erlauben mir meine Mittel nicht.«

»Aber man braucht ja nicht zu wetten.«

»Nein, das dürfen wohl nur die Chefs tun, wie es scheint. Nun muß ich wieder rüber. Er will es gleich abholen, kommt eine Stunde früher als sonst. Es eilt wohl.«

Der Kassierer hatte kaum die Scheine abgezählt, als ein Boy gelaufen kam, die Türe aufriß und »Herr Huygens!« rief. Es war wie in der Mannschaftsstube, wenn der Vorgesetzte gemeldet wurde, nur viel weniger stramm.

Der Boy stand vor der eleganten Erscheinung des Eintretenden kerzengerade und errötete fast vor Ehrfurcht.

»Mein lieber Langelüddecke, haben Sie den Betrag beieinander?«

»Alles liegt bereit, Herr Huygens. Wie Sie anordneten.«

»Geben Sie nur schnell her. Nicht erst nachzählen, ach was, ich traue Ihnen doch, Gott sei dank.«

»Es ist unser gesamtes Bargeld«, wagte der Kassierer zu bemerken.

»Macht nichts. Wir holen neues von der Bank!«

»Darf ich um die Quittung bitten?«

»Nachher!« Er beugte sich zu dem Kassierer herab und flüsterte ihm vertraulich ins Ohr: »Ehrenschulden. Man wartet draußen darauf.« In das verdutzte Gesicht Langelüddeckes lachend, setzte er hinzu: »Bin gleich wieder da.«

Der Kassierer fiel stöhnend auf seinen Sitz zurück. Hatte der Juniorchef sich einen Witz geleistet? Ehrenschulden? Seit wann hatte ein ehrsamer Hamburger Kaufmann Ehrenschulden wie die Kavaliere? Und warum hatte er nicht quittiert? Die Zeit, die er zu seiner vertraulichen Mitteilung über diese verdammten Ehrenschulden gebraucht hatte, hätte doch zur Unterschrift genügt? Was für neue Bräuche!

Er betrachtete noch eine ganze Weile die unterschriftslose Quittung, ehe er sie in die Tagesmappe legte.

Die laufenden Geschäfte lenkten ihn von seinen Grübeleien ab; aber dann kam die Stunde, wo er sich zu seinem Chef begab.

Detlev Huygens grüßte flüchtig. »Was Besonderes, lieber Langelüddecke? Ich entziffere gerade einen Privatbrief. Unglaublich, daß es noch immer Leute gibt, die etwas mit der Hand schreiben.«

»Dürfte ich jetzt vielleicht um die Quittung bitten?«

»Was für eine Quittung?«

Der Kassierer spürte ein leichtes Zittern in seinen alten Beinen und seine Stimme überschlug sich ein wenig, als er die Summe nannte. »Vor einer Stunde, Herr Huygens.« Er kam ins Stottern. »Herr Butterweck war dabei. Ja, er war dabei.« Zum erstenmal war ihm der dumme Bengel Butterweck sympathisch: er war Zeuge.

Huygens betrachtete die Quittung und dann den Kassierer mit gleicher Aufmerksamkeit. »Ich sehe Sie heute zum ersten Male, Langelüddecke. Und ich versichere Sie, daß ich ganz nüchtern bin.«

Der alte Herr lächelte verblüfft und zog ein großes, buntes Tuch aus der Hosentasche, um sich den herausschießenden Schweiß zu trocknen. »Ich verstehe«, stotterte er. »Sie machen einen kleinen Spaß mit mir. Sie dürfen sich das erlauben. Vielleicht als eine kleine Strafe dafür, daß ich nicht auf der Quittung vorhin bestand, hehe?« Sein Lachen klang erzwungen und glich mehr einem ärgerlichen Vogelkrächzen.

Das Telephon meldete sich und Detlev Huygens erhob sich gleich danach. »Die russischen Herren sind schon da. Sie sind pünktlich wie die Engländer. Ich komme nachher gleich mal zu Ihnen hinüber.«

Wieder stand der unglücklichste aller Kassierer mit der unausgefüllten Quittung da. Er wurde nicht klug aus alledem; nur, daß Unheil im Anzug war und daß der Traum gewarnt hatte, stand fest. Seine im Zimmer verzagt umherirrenden Blicke blieben einen Augenblick auf dem Abreißkalender haften; er hätte sich nicht gewundert, wenn die Zahl »13« dort gestanden hätte. Aber rund und deutlich hob sich die »6« des Juni ab.

Detlev Huygens hatte eine halbe Stunde lang konferiert und saß längst wieder in seinem Privatkontor, als ihm die Sache mit Langelüddecke einfiel. Eine Quittung über knapp dreitausend Mark, die er, wie es schien, abgehoben haben sollte?

Er wollte zur Kasse hinüber gehen, als ihm Schümann einfiel. Schümann, der Schauspieler, das Mitglied des Siebenmännerklubs! Gestern hatte er in Offenbachs »Orpheus in der Unterwelt« einen kleinen Skandal dadurch entfesselt, daß er einen bekannten Musikkritiker der führenden Zeitung täuschend kopiert hatte.

Ja, täuschend! Alle hatten sich nach dem Original umgesehen. Und im Klub hatte Schümann behauptet, daß er dazu nicht die Entfernung zur Bühne und die Illusion des Rampenlichts brauche – – er könne das bei Tageslicht gerade so gut, und sie sollten sich vorsehen.

Also Schümann war es gewesen, der hier vielleicht eine Klubwette später Nachtstunden gewonnen hatte. Ein Meisterstückchen und wohl für den Schauspieler doppelt lockend, weil er, Detlev Huygens, skeptisch gewesen war! Schließlich kannte jener sein Auftreten, seine Art zu sprechen und sich anzuziehen. Und der gute Langelüddecke war in der frühen Stunde wohl noch nicht ganz auf der Höhe.

Er ließ sich mit Schümanns Wohnung verbinden, erfuhr aber nur von der Wirtin, daß er mit dem Frühzug nach Berlin gefahren sei, um im Staatstheater für die Heidelberger Festspiele Probe zu spielen. Er lächelte: natürlich würde sich's Schümann nicht entgehen lassen, im Klub abends vor versammelter Gemeinde sein Stückchen zum besten zu geben; die Pointe konnte man ihm gönnen.

Er befreite den alten Kassierer aus großer Not, als er die Quittung unterschrieb.

»Es war ein Scherz«, erklärte er, »einer meiner Bekannten hat sich heute morgen einen kleinen Scherz erlaubt. Aber geben Sie mir in Zukunft doch nur in Gegenwart von Fräulein Friese größere Beträge, nicht wahr? Zum zweiten Male soll sowas denn doch nicht glücken.«

»Ein Scherz?« wiederholte Langelüddecke fassungslos. »Dann ist es, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, kein guter Scherz, Herr Huygens. Es ist sogar ein recht schlechter.« Er bebte vor Zorn.

Als Detlev Huygens abends in den Klub kam, fand er dort von Schümann nur ein lustiges Telegramm aus Berlin vor, das mit »Prost« begann und mit »Prost« schloß. »Schümann ist wirklich in Berlin?« fragte er verwirrt.

»Wir haben ihn direkt von der Kneipe in den Frühzug verfrachtet. Unsere Mithilfe war äußerst nötig.«

Detlev Huygens fühlte einen Schwächeanfall, den ersten seines Lebens. Er begriff in diesem Augenblick, daß der Besuch heute morgen kein Scherz gewesen war.

Nein, es war kein Scherz gewesen, kein guter und kein schlechter!


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