Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierundvierzigstes Capitel.
Die sichtbare Madonna.


Kaum hatte sich die Menge verlaufen, als Romola sich auf die Straße begab und der Treppe von San Stefano zueilte. Cecco hatte es mit den Uebrigen nach der Piazza gezogen, und sie fand Baldassarre alleinstehend, an die Kirchenthür gelehnt, mit der Hornschale in der Hand, auf sie wartend. Eine auffallende Aenderung war mit ihm vorgegangen; der leere träumerische Blick eines halb wiedergekehrten Bewußtseins war einer Wildheit gewichen, welche, als Romola vorwärts kam und ihn anredete, ihr entgegentrat, als wäre sie der Gegenstand dieser Wildheit. Es war der Blick einer eingesperrten Wuth, welche ihre Beute in Sicherheit vor den Gitterstäben des Käfigs vorbeigehen sieht.

Romola bebte zurück, als dieser Blick auf sie fiel, aber ihr nächster Gedanke war, daß der Alte Tito gesehen hatte. Und als dieser Blick voll Haß sie so widrig berührte, erhob sich in ihr etwas wie Hoffnung, daß dieser Mann der Verbrecher und ihr Gatte unschuldig in Bezug auf Jenen sein möchte. Wenn sie dieses doch nur jetzt erfahren könnte, indem sie ihm Tito gegenüberstellte, und so ihr Gemüth zu beruhigen im Stande wäre!

»Wenn Ihr mit mir kommen wollt,« sagte sie, »so kann ich für Euch ein Unterkommen und Nahrung finden, bis Ihr Euch gänzlich ausgeruht habt, und wieder kräftig seid. Wollt Ihr kommen?«

»Ja,« antwortete Baldassarre, »ich werde mich freuen, meine Kraft wieder zu bekommen. Ich brauche meine Kraft nöthig,« fügte er hinzu, nicht als ob er zu ihr spräche, sondern als ob er es vor sich hinmurmelte.

»So kommt!« sagte sie, ihn einladend, neben ihr zu gehen, und den Weg am Arno nach dem Ponte Rubaconte, als den einsameren, einschlagend.

»Ihr seid,« fuhr sie, als sie sich eben der Brücke zuwendeten, fort, »kein Florentiner, wie ich glaube.«

Er sah sie an, ohne ein Wort zu entgegnen. Seine argwöhnische Vorsicht war jetzt größer als gewöhnlich, da die Nebel der Verwirrung und des Vergessens durch körperliche Schwäche ihn noch dichter umlagert hatten. Sie blickte ihn aber gleichfalls an, und es lag etwas in ihren milden Augen, welches ihn zuletzt zwang, ihr zu antworten; diese Antwort lautete sehr vorsichtig:

»Nein, ich bin kein Florentiner; ich bin ein vereinsamter Mann.«

Sie bemerkte sein Widerstreben, mit ihr zu reden, und wagte es daher nicht, ihn weiter auszuforschen, aus Furcht, daß er sonst den Wunsch äußern könne, sie zu verlassen. Als sie ihn von Zeit zu Zeit anblickte, war ihr Geist mit Gedanken beschäftigt, welche die schwache Hoffnung, daß er nichts Peinliches über ihren Gatten mitzutheilen habe, erstickten. War dieser alte Mann in seinem Unrecht, wozu dann diese Frucht und Heimlichkeit? So gingen sie schweigend neben einander her, bis sie an die Via de' Bardi kamen, und Romola gewahrte, daß er sich umwendete und sie mit einer raschen Bewegung, als ob ihm ein Schlag durch seine Glieder gefahren wäre, anblickte. Einige Augenblicke darauf blieb sie an der halbgeöffneten Hofthüre stehen und wandte sich zu ihm.

»So!« rief er, ohne ihre Anrede abzuwarten, »Ihr seid also sein Weib!«

»Wessen Weib?« fragte Romola erröthend und bebend.

Es wäre Baldassarre unmöglich gewesen, in diesem Augenblicke sich auf irgend einen Namen zu besinnen. Die Gewalt, mit welcher sich Tito's Bild ihm aufdrängte, schien jedes Wort zu hemmen. Er antwortete also nicht, sondern blickte sie mit seltsam starrem Blicke an.

Sie öffnete das Thor weit und zeigte ihm den mit Stroh bedeckten Hof, aus dem vier oder fünf Kranke lagen, während mehre Kinder darauf herumkrochen oder behaglich lagen – schmächtige, bleiche Geschöpfe.

»Wenn Ihr hereinkommen wollt,« sagte Romola zitternd, »so werde ich Euch einen guten Platz aussuchen, und Euch noch mehr Speise bringen.«

»Nein, ich will nicht hineingehen,« sagte Baldassarre; aber er blieb stehen, von der Last der Eindrücke, unter denen sein Geist zu verwirrt war, einen Ausweg zu wählen, festgebannt.

»Kann ich nichts für Euch thun?« fragte Romola »erlaubt wenigstens, daß ich Euch etwas Geld gebe, damit Ihr Nahrungsmittel kaufen könnt; sie werden in größerem Ueberflusse vorhanden sein.«

Sie hatte, während sie so sprach, die Hand in die Gürteltasche gesteckt, und hielt sie ihm jetzt, mit einigen Grossi darin, entgegen. Sie bot ihm absichtlich mehr an, als sie irgend einem Anderen unter ähnlichen Umständen gegeben hätte. Er sah einige Augenblicke die Münzen an, und sagte dann:

»Ja, ich will sie nehmen.«

Sie schüttete ihm das Geld in die Hand, und er schloß dieselbe fest.

»Sagt mir,« fuhr Romola, fast flehend, fort, »was werdet Ihr – –«

Aber Baldassarre hatte sich von ihr abgewendet und ging wieder der Brücke zu. Als er über dieselbe fort, die Via del Fosso hinauf gegangen war, kam er zum Laden Niccolo Caparra's und schritt gerade auf denselben zu, als ob er ihn ausgesucht hätte. Niccolo war in diesem Augenblicke mit den übrigen Waffenschmieden von Florenz bei der Procession, und es befand sich nur ein Lehrbursche im Laden. Es hing aber überall eine Menge von Waffen umher, und Baldassarre's Augen entdeckten sogleich das, auf was er heißhungeriger war als auf Brot. Niccolo selbst würde wahrscheinlich diesem Mann, der noch Spuren des Gefängnisses an sich trug, nichts verkauft haben, was ihm als Waffe hätte dienen können; aber der weniger aufmerksame und gewissenhafte Lehrbursche nahm ohne Bedenken drei Grossi für ein scharfes Jagdmesser. Es war eine angemessen kleine Waffe, die Baldassarre leicht in die Brusttasche seiner Tunika stecken konnte, und er verließ, sich stärker fühlend, den Laden. Diese scharfe Schneide konnte sogar den Streich eines alten Arms tödtlich machen; wenigstens war das Messer ein Gefährte, und, selbst wenn der Stoß fehl ging, war es für ihn ein Bundesgenosse. Es konnte an einer Rüstung zersplittern, aber war denn die Rüstung immer da? Während der langen Monate, welche die Rache im Kerker hingebracht hatte, war die Schlechtigkeit vielleicht nachlässig geworden und fühlte sich sicher. Das Messer war mit des Verräthers eigenem Gelde gekauft. Das war nicht mehr als gerecht. Ehe er das Geld nahm, hatte er gewußt, was er damit thun sollte – eine Waffe kaufen. Ja, und wenn möglich, Nahrungsmittel dazu; Nahrung, um den Arm zu stärken, der die Waffe fassen sollte, und den Körper zu erhalten, welcher der Tempel der Rache war. Wenn er dann Brot genug hätte, so würde er fähig sein zu denken und zu handeln – zu denken, wie er sich verbergen könne, damit der Verräther ihn nicht wieder fortschleppen ließe. Mit diesem Gedanken, sich zu verbergen, bog Baldassarre in die engsten Straßen ein, kaufte sich Brot und Fleisch, und setzte sich unter die erste beste Loggia zum Essen. Die Glocken, die immer lautere Freudenklänge läuteten, und ihn erfaßten und durchzitterten, wie sie die Luft durchzitterten, schienen ihm nur ein Theil jener starken Welt, welche wider ihn war.

Romola hatte Baldassarre bewacht bis er um die Ecke der Piazza de' Mozzi verschwunden war; halb fühlte sie seine Entfernung als eine Erleichterung, halb machte sie sich Vorwürfe darüber, daß sie nicht mit größerer Entschlossenheit die Wahrheit über ihn zu erforschen gesucht hatte, daß sie sich nicht vergewissert hatte, ob ihn nicht ein unverschuldetes Unglück betroffen hätte, das sie zu lindern vermochte. Aber was hätte sie thun können, wenn die Wahrheit zugleich ein schmerzliches, ihren Gatten betreffendes Geheimniß war und so die, ohnehin schon auf ihr lastende Angst erhöhte? Gewiß, ein Weib durfte den Wunsch hegen, das Unrecht ihres Mannes nicht kennen zu wollen, da sie allein nicht gegen ihn auftreten und die Leute vor ihm warnen durfte. Dieser Gedanke aber regte zu viele verworrene Gefühlsfasern auf, als daß sie ihn jetzt in ihrer Ermattung weiter verfolgen konnte. Es war eine Zeit der Freude, da Florenz Hülfe erhalten hatte, und sie trat in den Hof, um den Patienten auf ihren Strohbetten die frohe Botschaft zu verkünden. Sie schloß die Thüre hinter sich zu, damit ihre Stimme nicht von den Glocken übertönt würde; und nachdem sie die schwarze Hülle vom Kopf genommen, damit die Weiber sie besser sehen könnten, trat sie mitten unter sie und erzählte ihnen, daß Korn käme, und daß die Glocken wegen dieser freudigen Botschaft geläutet würden. Alle richteten sich auf, um ihren Worten zu lauschen, während die Kinder umherliefen oder zu ihr hinkrochen und an dem schwarzen Saum zupften, als ob sie ärgerlich wären, daß sie ihr Antlitz so lang nicht gesehen hatten. Sie gab sich, trotz ihrer Ermattung, ihnen hin, und setzte sich auf das Stroh, indessen guckten die kleinen bleichen Geschöpfe in ihren Korb, strichen ihr Haar herab, und die schwachen Stimmchen um sie her riefen: »die heilige Jungfrau sei gepriesen!– das macht die Procession! – die Mutter Gottes hat sich unserer erbarmt!«

Endlich erhob sich Romola, zu ermüdet, um sich länger zu verstellen und zu lächeln, vom Stroh, und sagte, indem sie die steinernen Stufen emporstieg:

»Ich komme später herunter und bringe Euch Euer Mittagbrot.«

»Gott segne Euch, Madonna – Gott segne Euch!« riefen die schwachen Kinderstimmen fast in dem nämlichen Tone, in welchem sie einige Augenblicke vorher der unsichtbaren Madonna Preis und Dank gerufen hatten.

Romola liebte diese Musik sehr. Sie hatte keine angeborene Neigung, die Kranken zu pflegen und die Zerlumpten zu bekleiden, wie so manche andere Frauen, denen die Einzelheiten solcher Arbeit an und für sich, einfach als eine Beschäftigung, willkommen sind. Ihre frühere Erziehung hatte sie von solchen weiblichen Arbeiten fern gehalten, und wenn sie nicht die Begeisterung ihrer tiefsten Empfindung dazu vermocht hätte, so wären sie ihr in höchstem Grade lästig gewesen. Jetzt aber bildeten sie den einzigen unbedrohten Ruheplatz ihres Geistes, den einzigen schmalen Pfad, auf den ein helles Licht fiel. Wenn die Kluft zwischen ihr und Tito, welche nur um desto weiter wurde, jemehr sie es versuchte, sie durch Unterwürfigkeit zu überbrücken, einen Zweifel hervorrief, ob denn überhaupt das Band, dem sie treu zu bleiben sich abmühte, nicht am Ende falsch sei, wenn sie von ihrem Beichtiger Fra Salvestro kam oder sonst in Berührung mit den Schülern Savonarola's, in deren Mitte sie dem Gottesdienst beizuwohnen pflegte, gekommen war und dann widerwillig empfand, daß alle diese Leute jämmerlich engherzig waren, und zugleich einen fast unwiderstehlichen Drang zu ihrer früheren Verachtung solchen Aberglaubens zurückzukehren in sich fühlte – so gewann sie einen festen Standpunkt in den Werken weiblicher Mildthätigkeit. Was immer auch ihr Zweifel einflößen mochte, so zeigte ihr die Hülfe, die sie ihren Mitbürgern leistete, daß Fra Girolamo recht gethan hatte, sie zurückzurufen. Nach seinen unvergeßlichen Worten war ihr Platz nicht leer geblieben, er war durch ihre Liebe und ihr Wirken ausgefüllt worden. Florenz war ihrer benöthigt gewesen, und je mehr ihr eigener Kummer sie drückte, desto mehr Freude empfand sie bei den Erinnerungen zweier langer Jahre an die Stunden und Augenblicke, in welchen sie Anderen die Bürde des Lebens erleichtert hatte. Alle die Wärme ihres Charakters, welche sich nicht länger an der Liebe zum Vater oder Gatten erschöpfen konnte, hatte sich in eine sympathische Begeisterung für das Leben im Ganzen umgewandelt. Sie dachte nicht mehr daran, daß sie selbst noch glücklich werden könne, sie dachte überhaupt nicht mehr an Glück; ihr einziger Lebenszweck schien ihr der zu sein, Kummer zu stillen.

Ihr Enthusiasmus wurde unaufhörlich von Savonarola zu neuer Kraft angeregt. Trotz der langweiligen Visionen und Allegorieen, von denen sie sich mit Ekel abwendete, wenn sie als schale Wiederholungen von anderen Lippen als den seinigen kamen, hatte ihre starke Wahlverwandtschaft mit seinen glühenden Sympathieen und erhabenen Zwecken noch nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Seine leidenschaftliche Entrüstung gegen die Mißbräuche und die Gewaltthätigkeiten, welche die tägliche Geschichte der Kirche und der Staaten bildeten, hatte auch in ihr die gleiche Gluth entzündet. Seine besondere Sorge für die Freiheit und Reinheit der florentinischen Regierung, seine beständige Beziehung dieses naheliegenden Gegenstandes auf den weiteren Zweck einer allgemeinen Regeneration, hatten in ihr eine neue Erkenntniß des großen Drama's der Menschheit, in welchem ihr Leben ein Theil war, geschaffen; und durch ihre tägliche hülfreiche Berührung mit ihren minderglücklichen Mitbürgern wurde diese neue Erkenntniß zu etwas Stärkerem als zu einer unbestimmten Empfindung, zu einem immer bestimmteren Grunde selbstverläugnenden Handelns. Sie kümmerte sich wenig um Dogma's, und mochte durchaus nicht näher über die Prophezeiungen des Mönchs wegen der bevorstehenden Heimsuchung und gleich daraus folgenden Verjüngung der Menschheit nachdenken. Sie hatten ihren Geist dem seinigen untergeordnet und war in Verbindung mit der Kirche getreten, weil sie auf diese Art eine unmittelbare Befriedigung moralischer Bedürfnisse gewonnen hatte, welche ihre ganze frühere Bildung und Lebenserfahrung nicht hatte gewähren können. Fra Girolamo's Stimme hatte in ihrer Seele eine Ursache, fern von persönlichem Genuß und persönlicher Liebe zu leben, hervorgerufen; aber es war dieses eine Ursache, welche, wie es schien, größerer Kräfte zu ihrer Erhaltung bedurfte als Romola besaß, und ihre gehorsame Beobachtung aller kirchlichen Gebräuche geschah nur, um zu erwarten, ob sich auf irgend eine Weise frische Kräfte sammeln lassen könnten. Die dringendste Aufgabe für Romola war jetzt nicht, etwa streitige Fragen zu schlichten, sondern die Gluth unselbstsüchtiger Bewegungen lebendig zu erhalten, durch welche ein Leben voll Trauer noch zu einem Leben werkthätiger Liebe werden konnte.

Ihr Glaube, daß Savonarola's Charakter erhabener sei als der ihrige, bildete einen großen Theil der Kraft, die sie gewonnen hatte – und dieser Glaube war nicht so leicht zu erschüttern. Nicht die Macht des Verstandes verursacht eine Zurückstoßung von den Verirrungen und Seltsamkeiten der Größe, eben so wenig wie die Kraft des Gesichtes das Auge veranlaßt, die Warzen auf einem von menschlichem Ausdruck glänzenden Antlitz zu untersuchen – einzig die Verneinung höherer Gefühle. Romola war von der gewaltigen Energie, die in Savonarola's Natur lag, so tief bewegt, daß sie geduldig allen Dogmen und Prophezeiungen, wenn sie vermittelst seines glühenden Glaubens und seines gläubigen Ausspruchs ihr vorgetragen wurden, Er selbst hatte genug Gelegenheit gehabt, die Wirksamkeit dieses Mittels zu erproben. »Wenn Ihr,« sagt er in dem compendium revelationum, »von Denen sprecht, welche diese Dinge nicht von mir gehört haben, so gebe ich zu, daß Derer, welche nicht glauben, mehr sind, als Derer, welche glauben, weil es ein Ding ist, Den zu hören, welcher diese Dinge im Innern fühlt, und ein anderes Ding, Den zu hören, welcher sie nicht fühlt – und darum sagt der heilige Hieronymus sehr richtig: › habet nescio quid latentis energiae vivae vocis actus, et in aures discipuli de auctoris ore transfusa forte sonat.‹« (Die Wirkung des mündlichen Vortrags hat eine gewisse verborgene Kraft und klingt aus dem Munde des Lehrers, dem Ohre des Schülers überliefert, voll Kraft. – Anm. d. Uebers) zuhörte.

Keine Seele ist alles Trostes bar, so lang es ein menschliches Wesen gibt, dem sie Vertrauen und Ehrfurcht zollen kann. Romola's Glaube an Savonarola glich einem Seile, das auf ihrem Pfad fest angebracht war und ihren Schritt elastisch machte, während sie es erfaßte; wurde es plötzlich fortgenommen, so konnte keine Sicherheit des Bodens, den sie betrat, sie vom Wanken, vielleicht vom Fallen retten.



 << zurück weiter >>