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Zweiundzwanzigstes Capitel.
Die Gefangenen.


Der Himmel war grau; das machte aber auf der Piazza del Duomo, der mit seinem Feiertagshimmel von blauen Draperien und seinen Gestirnen von gelben Lilien und Wappen bedeckt war, keinen großen Unterschied. Die Fahnenbündel waren an den Ecken der Taufkapelle entfaltet, aber noch lag kein Teppich auf der Treppe des Domes, denn der Marmor sollte von zahlreichen, nicht gerade erlauchten Füßen betreten werden. Es war die Zeit der Adventspredigten, und die nämlichen Ursachen, welche die Straßen mit Feiertagsfahnen belebt hatten, veranlaßten auch, daß man die Reden in der Kirche auf keine Weise versäumen durfte.

Aber nicht Alle auf der Piazza eilten der Treppe zu; Leute hohen und niederen Standes eilten mit den raschen Schritten von Menschen, die Geschäfte haben, hin und her; dichte Gruppen von Redenden standen rings umher, einige mit der Absicht, zu spät zur Predigt zu kommen, andere ganz damit zufrieden, sie ganz und gar nicht zu hören.

Der Ausdruck auf den Gesichtern dieser anscheinend Müßiggehenden war nicht der von Leuten, welche die angenehme Faulheit anbrechender Feiertage genießen wollen. Einige waren in eifrigem, lebhaftem Gespräche begriffen, Andere lauschten mit gespannter Theilnahme einem einzelnen Redner, kehrten sich aber von Zeit zu Zeit mit forschenden Blicken nach jedem Vorübergehenden um. An der Ecke, die nach der Via de' Cerretani führt, gerade wo das künstliche Regenbogenlicht der Piazza aufhörte und das graue Morgenlicht auf die dunklen steinernen Häuser fiel, befand sich ein ausfallender Hausen Arbeiter, von denen die meisten an ihrer Kleidung und an ihrer Person die Abzeichen ihrer täglichen Arbeit, und fast alle irgend eine Waffe oder ein Werkzeug, das gelegentlich als Waffe dienen konnte, trugen. In dem grauen Straßenlicht, mit ihren bloßen nervigen Armen und schmutzigen Kleidern dastehend, bildeten sie einen um so grelleren Uebergang von der Helle aus der Piazza. Sie horchten auf den magern Notar Ser Cioni, welcher eben auf seinem Wege nach dem Dome stehen geblieben war. Seine beißenden Worte wurden noch vor drittehalb Jahren auf dem Marktplatz mit Verachtung aufgenommen, jetzt aber sprach er mit dem wohlgefälligen Gebahren eines Mannes, dessen Partei gerade die Oberhand hat, und der einigen Einfluß auf das Volk ausübt.

»Sprecht mir nur nichts,« sagte er mit seiner schneidenden Stimme, »von blutdürstigen Schweizern oder wildem französischem Fußvolk; sie könnten eben so gut in den engen Gebirgspässen wie in unseren Straßen stecken; Bauern haben vormals die schönsten Armeen unserer Condottieri vernichtet, als sie sie zwischen die steilen Abgründe bekommen hatten. Ich sage Euch, die Florentiner brauchen in ihren eigenen Straßen keine Armee zu fürchten.«

»Sehr wahr, Ser Cioni,« rief ein Mann, dessen Arme und Hände von einer rothen Farbe, die wie Blutflecken aussah, entstellt waren und der ein kleines Beil in seinem Gurt trug, »und diese französischen Cavaliere, welche neulich hereinkamen und sich in ihren stutzerhaften Wämsern so breit machten, haben eine Probe von dem Mahl, das wir ihnen auftischen können, gesehen. Ich trug meine Tuche nach Agrissanti, als ich meine schmucken Herrchen vorübergehen sah, die sich umschauten, als ob sie die Häuser der Vespucci und Agli für armselige Schmutzwohnungen hielten, und uns Florentiner dabei wie Hähne mit Kopfschleifen, und weiter sind sie ja auch nichts, anglotzten, als ob sie uns bemitleideten, daß wir nicht verständen, uns zu spreizen. Ja, meine feinen Galli Ein Wortspiel mit gallo, Hahn, und Gallo, Gallier. – D. Uebers., sagte ich, steckt nur Eure Mägen recht heraus, ich hab' eine Fleischaxt in meinem Gürtel, die auf diese Weise desto leichter in Euch eindringen wird, – als plötzlich die alte Kuh brüllte La vacca muglia, »die Kuh blökt, wird von dem Geläute der großen Glocke im Thurme des alten Palastes gebraucht. und ich also errieth, daß irgend etwas sich begeben haben mußte, ganz gleich was. So warf ich meine Tuche in den ersten besten Thorweg und nahm meine Fleischaxt, indem ich hinter meinen schmucken Cavalieren her nach der Vigna Nuova lief. Was gibt es denn, Guccio? rief ich, als er mir entgegen kam. – Ich glaube, die Medici kommen zurück, sagte Guccio. – Aha, das dachte ich mir! Und damit errichteten wir eine Barricade, und die Franzosen sahen hinter sich und gewahrten, daß sie in eine Falle gerathen waren. Und da kommt noch ein ganzer Schwarm von unseren Ciompi Die ärmeren zum Wollhandel gehörenden Arbeiter, wie z. B. Wollschläger, Wollekratzer, Wäscher u. s. w. und einer von ihnen mähte mit einer Sichel, die er eben in der Hand hatte, eine von den Federn eines dieser stattlichen Cavaliere ab – es ist wahr! und die Mädchen schleuderten von oben einige Steine herab, um sie zu erschrecken. Piero de' Medici war aber doch nicht gekommen! Wie Schade, denn wir hätten ihm weder Beine noch Flügel gelassen, um damit wieder fort zu kommen.«

»Wohl gesprochen, Oddo!« rief ein junger Schlachter mit dem Messer im Gurt, »und ich glaube, Piero wird sich lange besinnen, ehe er Lust verspürt, zurückzukehren, denn er sah erschrocken aus wie ein gescheuchtes Hühnchen, als wir ihn auf der Piazza drängten und jagten. Er ist ein Feigling, sonst hätte er besser Stand gehalten, als seine Reiter ankamen. Wir wollen aber keine Medici mehr hinunterwürgen, was uns der französische König sonst auch zu verschlucken geben mag.«

»Mir gefallen aber diese französischen Kanonen nicht, von denen man spricht,« sagte Goro, der trotz der Beschwerden von zwei Jahren noch eben so fett war wie vordem. »San Giovanni schütze uns! Wenn der liebe Herrgott es so gut mit uns meint, wie Euer Mönch behauptet, Ser Cioni, warum hat er die Franzosen nicht auf einem anderen Wege nach Neapel geschickt?«

»Ganz richtig, Goro,« sagte der Färber, »die Frage darf man wol stellen! Du bist doch lange nicht ein solcher Kürbiskopf, wie ich immer glaubte. Sie hätten ja über Bologna nach Neapel gehen können; wie, Ser Cioni? oder wenn sie durch Arezzo marschirt wären, wir hätten uns gar nichts daraus gemacht.«

»Ihr Thoren! es wird zum Frommen und Ruhm von Florenz sein!« hub Ser Cioni an, aber er wurde von dem Ausrufe: »Seht dorthin!« unterbrochen, welcher von mehren Seiten zugleich erscholl, während Alles sich nach der Gesellschaft, welche die Via de' Cerritoni entlang kam, zuwandte.

»Es ist Lorenzo Tornabuoni und einer der französischen Edelleute, die in seinem Hause wohnen,« sagte Ser Cioni in wegwerfendem Tone bei dieser Unterbrechung, »er stellt sich, als ob er sehr zufrieden aussähe, dieser schlaue Tornabuoni, aber er ist im Herzen medizäisch – vergeßt das nicht!«

Die herannahende Gesellschaft war eine glänzende, denn es zeigte sich nicht nur die ausgezeichnete Persönlichkeit Lorenzo Tornabuoni's und die glänzende Kleidung des Franzosen mit seinem sorgfältig ausgekramten Leinen und der prachtvollen Stickerei, sondern auch noch zwei hochgeborene, für die bevorstehende Procession schön gekleidete Florentiner, und zur Linken des Franzosen befand sich eine Gestalt, welche von keiner noch so großen Absichtlichkeit oder einer noch so großen Fülle von Brokatstoffen verdunkelt werden konnte – eine Gestalt, die wir schon öfters erblickt haben. Er war nur in Schwarz gekleidet, weil er trauerte; aber das Schwarz sollte jetzt mit einem rothen Mantel bedeckt werden, denn auch er ging mit der Procession als lateinischer Secretär des Zehner-Raths.

Tito Melema hatte im Verkehr mit den französischen Gästen hervorragend große Dienste geleistet, und zwar wegen seiner Kenntniß von Süditalien wie wegen seiner Fertigkeit im Französischen, das er schon in seiner frühen Jugend gesprochen hatte, und so hatte er mehr als einen Besuch im französischen Lager zu Signa gemacht. Der Glanz des Glücks umgab ihn; er lächelte, lauschte, erklärte mit seiner gewöhnlichen, anmuthigen, anspruchslosen Leichtigkeit, und nur ein sehr geübtes Forscherauge hätte eine gewisse Veränderung an ihm bemerkt, die nicht dem Verlauf von achtzehn Monaten zuzuschreiben war. Es war dies jene Veränderung, die von dem gänzlichen Scheiden sittlicher Jugendlichkeit, von der klaren, selbstbewußten Annahme einer Lebensbestimmung herrührt. Die Züge des Gesichts waren sanft wie immer und die Augen noch eben so hell; aber etwas fehlte – ein Etwas, was eben so schwer zu beschreiben ist wie das Wechseln der Morgendämmerung.

Der Franzose zog eben nähere Erkundigungen über das Ceremoniell ein, ehe er nach Signa zurückkehrte, und wollte nur noch einen Ueberblick über die Piazza del Duomo haben, wo die königliche Procession religiöser Zwecke wegen halten sollte. Diese vornehme Gesellschaft zog Aller Augen auf sich, als sie die Piazza betrat; aber diese Blicke waren nicht durchaus herzlich und bewundernd: es fielen nicht völlig leise anspielende und verdeckte Bemerkungen auf die hufförmigen Schuhe des Franzosen – zarte Schmeicheleien des königlichen Ueberflusses an Zehen, und man machte sich eben nichts daraus, daß einige Schmähungen über »Anhänger der Medici« hörbar wurden. Aber Lorenzo Tornabuoni besaß jene Gabe, seinen Aerger zu verbergen, welche von Jemandem, der nach Volksgunst strebt, verlangt wird; und zu Tito's Charakter, bösen Willen durch gute Laune zu überwinden, kam noch die leidenschaftslose Empfindung des Fremdlings rücksichtlich der Personen und Verhältnisse, welche die tiefsten Leidenschaften der Eingeborenen aufregen. Als die Gesellschaft an dem Punkte angekommen war, von wo aus sie einen Seitenanblick vom Dom hatte, machte sie Halt. Die über dem mittleren Thorwege angebrachten Festons und Inschriften wurden beanstandet, und Tornabuoni winkte dem Piero di Cosimo, der, wie er es um diese Tageszeit zu thun gewohnt war, vor Nello's Laden müssig umherschlenderte. Es entspann sich bald eine lebhafte Verhandlung, welche durch das Staunen des Franzosen über Piero's eigenthümliche Schärfe der Bemerkungen, die Tito wörtlich übersetzte, sehr unterhaltend würde. Sogar mürrische Zuschauer wurden neugierig, und ihre Züge nahmen bald den halb lächelnden, halb gedemüthigten Ausdruck an, welcher Leuten eigenthümlich ist, die zu weit entfernt stehen, um einen Scherz mit anzuhören, der ein ansteckendes Gelächter erregt. Es war für Tito ein köstlicher Augenblick, denn er war der Einzige in der Gesellschaft, der einen so unterhaltenden Dolmetsch abgeben konnte, und ohne die mindeste Anlage zu triumphirender Selbstbefriedigung schwelgte er in dem Gefühle, daß er ein Gegenstand der Beliebtheit war, und sonnte sich am Licht wohlgefälliger Blicke. Das Regenbogenlicht fiel auf die Gruppe der Lachenden, und die ernsten Kirchengänger waren innerhalb der Kirchenmauern verschwunden. Es schien, als ob die Piazza für einen wirklichen florentiner Feiertag geschmückt worden war.

Inzwischen schritten in dem matten Licht der ungeschmückten Straßen andere Ankömmlinge daher, die nicht mit feiner Wäsche und Brokat prunkten, und deren Stimmung nichts weniger als heiter war. Auch hier erblickte man französische Trachten und Hackenschuhe, aber hinter ihnen drängte sich eine immer mehr und mehr anschwellende Masse nicht bewundernder Florentiner. Voran dieser ganzen Menge befanden sich drei dürftig gekleidete Männer; Jedem von ihnen waren die Hände mit Stricken gebunden, und ein Seil schlang sich um Hals und Leib, so daß der, welcher das Ende des Seiles hielt, jede ungebärdige Bewegung durch eine Drohung des Erwürgens hindern konnte. Die, welche die Seile hielten, waren französische Soldaten, die in gebrochenem Italiänisch und durch Hiebe mit den knotigen Tauenden ihre Gefangenen zum Betteln anhielten. Zwei von diesen Letzteren gehorchten und riefen jeden Florentiner, der ihnen begegnete, indem sie ihm ihre gebundenen Hände entgegenstreckten, in kläglichem Tone zu:

»Um der Liebe Gottes und der heiligen Jungfrau willen, schenkt uns Etwas zu unserem Lösegeld! Wir sind Toskaner und in Lunigiana zu Gefangenen gemacht.«

Der dritte Mann hingegen verharrte, trotz aller Schläge mit dem geflochtenen Tau, in tiefem Schweigen. Sein Aussehen war von dem seiner Mitgefangenen durchaus verschieden. Diese waren jung und kräftig und glichen in der dürftigen Bekleidung, welche die Habsucht ihrer Wächter ihnen gelassen hatte, gemeinen, unverschämten Bettlern. Jener aber hatte die Gränze des Alters überschritten, und konnte nicht weniger als vier- oder fünfundsechszig Jahre zählen. Sein Bart, der ihm aus Mangel an Pflege lang gewachsen war, und das Haar, welches dicht und starr um den kahlen Scheitel hing, war fast ganz weiß. Seine kräftige Gestalt war noch fest und gerade, obgleich abgemagert, und schien trotz des Alters Energie anzudeuten – ein Ausdruck, der sich auch zum Theil in den dunkeln Augen und dicken schwarzen Brauen zeigte, welche seltsam gegen sein gelbliches, blutleeres, tiefgefurchtes Gesicht mit den dünnen grauen Haaren abstachen. Und doch lag in diesen Augen etwas Krampfhaftes, was der ab und zu aufblitzenden Energie widersprach; nachdem sie mit heftiger Wildheit Fenster und Menschen angestarrt hatten, senkten sie sich wieder mit stieren, unsicheren Blicken zu Boden. Seine Lippen rührten sich nicht, und er ließ seine Hände voll Entschlossenheit herabhängen. Er wollte nicht betteln.

Die Florentiner sahen dieses mit steigender Erbitterung. Viele, die vor ihrer Thüre standen oder ruhig ihres Weges daher kamen, hatten gleich milde Gaben gespendet, Einige als halb unfreiwillige Antwort auf eine im Namen Gottes an sie ergangene Bitte, Andere in der nicht lange fragenden Angst vor der französischen Soldateska – einer Angst, welche durch die Berichte über ihre grausame Kriegführung erzeugt war, und welche die Franzosen als eine Bürgschaft für die Straflosigkeit ihrer unverschämten Handlungen betrachteten. Als die Gruppe aber tiefer in die Stadt vorgedrungen war, verschwand nach und nach diese Willfährigkeit, und die Soldaten sahen sich von einer immer zunehmenden Schaar von Männern und Burschen begleitet, welche einen Chorus von Ausrufungen anstimmen, die fremden Ohren auch ohne Dolmetsch verständlich sein mußten. Die Soldaten selbst fingen an, ihrer Lage keinen Geschmack abzugewinnen, denn wiewol sie eine starke Neigung verspürten, von ihren Waffen Gebrauch zu machen, so wurden sie doch von der Nothwendigkeit, ihre Gefangenen fest zu halten, daran verhindert, und sie eilten jetzt vorwärts, in der Hoffnung, irgend ein Wirthshaus als Schutz zu finden.

»Französische Hunde! Bullenfüße! reißt ihnen die Piken aus der Hand! Schneidet die Stricke durch und laßt sie ihren Gefangenen nachlaufen! Sie werden so rasch laufen wie Gänse, – seht Ihr nicht, daß sie Schwimmpfoten haben?« – Das waren die einzelnen Rufe, von denen die Soldaten dunkel ahnten, daß sie Schmähungen und vermuthlich Drohungen vorstellten. Aber Jeder schien eher geneigt, zu derlei muthigen Ausrufungen anzuregen, als danach zu handeln.

»Heiliger Gott! ist das ein Anblick!« rief der Färber, sobald er sah, was der sich nähernde Auflauf zu bedeuten hatte, »und die Narren thun nichts als Schreien. Kommt! kommt!« fuhr er fort, die Axt aus dem Gürtel reißend, und vom Schlächter und seinen übrigen Begleitern, mit Ausnahme Goro's, der sich eilig durch eine enge Gasse entfernte, gefolgt, auf den Volkshaufen zueilend.

Der Anblick des Färbers, wie er mit blutrothen Armen und erhobener Axt, und seine rohen Genossen hinter sich, herbeistürmte, wirkte aufregend auf das Volk. Nicht etwa, daß er etwas Anderes that, als den Soldaten vorbeieilen und sich, seine Axt schwingend, ganz unter seine Mitbürger mischte; aber er hatte, wie das Wallen eines wohlbekannten Banners, als zum Straßenkampf ermuthigendes Symbol gedient. Und das erste Zeichen, daß die Feuersbrunst zum Ausbruch kommen würde, war Etwas, was so schnell zum Vorschein kam wie das unbedeutende Züngeln eines Flämmchens, – dieses erste Zeichen war eine Handlung des koboldartigen Lollo (des Burschen des schon bekannten Marktschreiers), der den sinnreichen Knaben, welche die größere Mehrzahl des Volkshaufens bildeten, voran tanzte und höhnte.

Lollo fühlte zwar kein besonders großes Mitleiden mit den Gefangenen, da er aber wußte, daß er ein vortreffliches Messer, einen Gefährten, der ihn nie im Stiche ließ, bei sich hatte, so war es ihm gleich vom Anfang an als ein sehr unterhaltender und geschickter Streich erschienen, vorzuspringen, einen Strick zu durchschneiden und zurück zu springen, ehe der Soldat, der das Tau hielt, von seiner Waffe Gebrauch machen könne. Und jetzt, als das Volk anfing lauter zu schreien und heftiger zu drängen, fühlte Lollo, daß der Augenblick für ihn gekommen sei. Er befand sich eben ganz in der Nähe des ältesten Gefangenen, und im Nu hatte er das Seil durchgeschnitten.

»Lauf' zu, Alter« zischelte er dem Gefangenen in's Ohr, sobald das Seil auseinander war, und er selbst gab ihm das Beispiel, indem er, als ob er Flügel hätte, wie ein gescheuchter Vogel davon lief.

Die Empfindungen des Gefangenen waren lebendig genug, die Gelegenheit zu ergreifen. Der Gedanke an Flucht hatte ihm immer vorgeschwebt und er hatte aus der Volksstimmung neue Hoffnung geschöpft. Er floh daher sogleich, aber alle seine Eile würde ihm schwerlich etwas genützt haben, hätten sich die Florentiner nicht alsbald zwischen ihn und seinen Wächter geworfen. Er floh nach der Piazza zu, aber bald hörte er Schritte hinter sich, denn die beiden andern Gefangenen waren gleichfalls befreit, und die Soldaten bahnten sich ringend und kämpfend ihren Weg, so gut es ihnen eben ihre hufenförmig gearbeiteten Schuhe erlaubten, durch die Menge, von der sie, wenn auch nicht ernstlich angegriffen, aber doch aufgehalten wurden.

Einer der beiden jüngeren Gefangenen wandte sich dem Borgo Lorenzo zu und lenkte dadurch einen Theil des Tumults ab, aber das hauptsächlichste Gedränge schob sich immer noch nach der Piazza zu, wo Aller Augen mit ängstlicher Neugier es näher kommen sahen. Die eigentliche Ursache konnte nicht sogleich genau ermittelt werden, da die französischen Trachten durch die umgebenden Volkshaufen verdeckt wurden.

»Gefangene entflohen!« rief Lorenzo Tornabuoni, als er und seine Gesellschaft sich eben der Treppe des Doms zuwendeten und einen Gefangenen bei sich vorbeistürzen sahen. »Das Volk begnügt sich nicht damit, neulich den Bargello Hauptmann der Sbirren (Polizeisoldaten). – D. Uebers. ausgeplündert zu haben; wenn keine andere Behörde da ist, so müssen sie über die Sbirren herfallen und Diebe befreien. Ah, da ist ein französischer Soldat, das wird schon ernsthafter.«

Der Soldat, den er sah, kämpfte sich die nördliche Seite der Piazza entlang durch, während der Gegenstand seiner Verfolgung gerade die entgegengesetzte Richtung genommen hatte. Dieser Gegenstand war der älteste der Gefangenen, welcher eben um die Taufkapelle bog und dem Dom zueilte, entschlossen, lieber in diesem Heiligthum Schutz zu suchen, als sich auf die Schnelligkeit seiner Füße zu verlassen. Indem er aber die Stufen hinaneilte, strauchelte er und stürzte herab, gerade zwischen die Gruppe der Signori, deren Rücken ihm zugewendet waren, und er konnte sich nur dadurch halten, daß er einen von ihnen beim Arm erfaßte.

Tito Melema war es, der diesen Griff fühlte. Er wandte sein Haupt, und sah das Gesicht seines Pflegevaters, Baldassarre Calvo, dicht neben dem seinigen.

Die Beiden blickten einander an, schweigend wie der Tod. Baldassarre mit düsterer Wildheit und einem immer festeren Griff der schmutzigem abgezehrten Hände auf den in Samt gekleideten Arm; Tito, mit Wangen und Lippen, aus denen alles Blut gewichen war, und vom Schrecken wie festgezaubert.

Der erste Laut, den Tito hörte, war das kurze Lachen Piero's di Cosimo, der dicht neben ihm stand und der Einzige war, der sein Gesicht sehen konnte.

»Ha ha ha! Jetzt weiß sich, wie ein Gespenst sein muß!«

»Das ist einer von den entwischten Gefangenen,« sagte Lorenzo Tornabuoni. »Wer mag es wol sein?«

» Gewiß irgend ein Verrückter!« sagte Tito.

Er wußte kaum, wie diese Worte über seine Lippen gekommen waren. Es gibt Augenblicke, in denen unsere Leidenschaften statt unserer sprechen und urteilen, und wir scheinen dabei zu stehen und uns zu wundern. Sie enthalten eine Einflüsterung des Verbrechens, welches in einem Augenblicke das Werk langer Vorherüberlegung verrichtet.

Die Beiden hatten ihre Blicke nicht von einander gelassen, und Tito schien es, nachdem er gesprochen hatte, daß ein magisches Gift aus Baldassarre's Augen gesprüht sei, und daß er es durch seine Adern strömen fühle. Im nächsten Augenblicke aber hatte Baldassarre Tito's Arm losgelassen und war in's Innere der Kirche verschwunden.



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