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Sechszehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 16:

All that in woman is adored
      In thy fair self I find –
For the whole sex can but afford
      The handsome and the kind.

Sir Charles Sedley..


Die Frage, ob Herr Tyke die Anstellung als besoldeter Caplan am Hospital erhalten werde, war ein aufregender Gegenstand der Unterhaltung für die Middlemarcher; und Lydgate hörte diese Frage in einer Weise erörtern, welche ein eigenthümliches Licht auf den Einfluß warf, welchen Herr Bulstrode in der Stadt übte. Der Bankier nahm offenbar eine beherrschende Stellung ein, aber es gab doch auch eine oppositionelle Partei und selbst unter seinen Anhängern waren einige, welche zu verstehen gaben, daß ihre Anhänglichkeit an Herrn Bulstrode auf einem Compromiß beruhe, und welche es offen aussprachen, daß der Lauf der Welt und insbesondere die Wechselfälle, denen man im Geschäfte ausgesetzt sei, es nothwendig machten, mit dem Teufel auf gutem Fuße zu stehen.

Herr Bulstrode verdankte seinen Einfluß nicht allein seiner Stellung als Bankier in der Provinz, welcher in die finanziellen Geheimnisse der meisten Geschäftsleute in der Stadt eingeweiht war, und in Folge dessen ihren Credit in Händen hatte, dieser Einfluß wurde vielmehr noch durch eine Wohlthätigkeit erhöht, die er eben so bereitwillig, wie nach strengen Grundsätzen übte. Er stand als ein betriebsamer und zuverlässiger Mann an der Spitze der Verwaltung der städtischen Wohlthätigkeitsanstalten und seine Privatwohlthätigkeit war ebenso umfassend wie minutiös; er scheute keine Mühe, Tegg, den Sohn des Schuhmachers, als Lehrling unterzubringen und hatte ein scharfes Auge darauf, daß Tegg regelmäßig zur Kirche ging; er vertheidigte Frau Strype, die Waschfrau, gegen Stubb's ungerechte Forderung für einen Trockenplatz, und er ließ es sich nicht nehmen, dem Urheber einer gegen Frau Strype in Umlauf gesetzten Verläumdung nachzuspüren. Die Zahl seiner kleinen Darlehen war bedeutend, aber er erkundigte sich immer sehr genau nach den Verhältnissen der Borger, sowohl vor als nach der Gewährung des Darlehens.

Auf diese Weise nistet sich ein Mann sowohl in die Hoffnungen und Befürchtungen, wie in die Erkenntlichkeit seiner Nachbarn sein, und eine Macht, der es erst einmal gelungen ist, sich so empfindlicher Gefühle zu bemächtigen, gewinnt bald einen außer allem Verhältniß zu ihren äußern Mitteln stehenden Umfang.

Es war bei Herrn Bulstrode Grundsatz, sich soviel Macht wie möglich zu verschaffen, um sich derselben zur Ehre Gottes zu bedienen. Nicht ohne starke Seelenconflikte und peinliche Erwägungen gelangte er dahin, sich die Motive seiner Handlungen zurecht zu legen und sich klar darüber zu werden, was die Ehre Gottes verlange. Aber seine Motive wurden, wie wir gesehen haben, nicht immer richtig gewürdigt. Es gab viele grob organisirte Menschen in Middlemarch, deren geistige Waage die Dinge nur im Großen und Ganzen zu wägen im Stande war, und diese Leute hatten Herrn Bulstrode stark in Verdacht, daß er, der so wenig aß und trank, sich über Alles so viel Sorge machte und folglich das Leben nicht in ihrer Weise zu genießen im Stande war, eine vampyrartige Sättigung in der Befriedigung seiner Herrschsucht finde.

Die bevorstehende Wahl zum Kaplan, kam auch am Tische des Herrn Vincy, als Lydgate dort zu Mittag aß, zur Sprache und die Familienverbindung mit Herrn Bulstrode that, wie Lydgate bemerkte, der Freiheit der Aeußerungen selbst von Seiten des Wirth keinen Eintrag, wiewohl die Einwendungen des letzteren gegen die proponirte Wahl sich lediglich auf Herrn Tyke's Predigten gründeten, welche nichts als Dogmen enthielten, während die Predigten des Herrn Farebrother, welchen er deshalb den Vorzug gab, von diesem Fehler frei waren. Herr Vincy war ganz damit einverstanden, daß der Kaplan von jetzt an ein Gehalt beziehen solle, vorausgesetzt, daß Farebrother dasselbe erhalte, der ein so lieber Kerl sei, wie es je einen gegeben habe, und der beste Prediger, den man finden könne, und dazu noch ein guter Gesellschafter.

»Wie werden Sie sich denn bei der Sache verhalten?« fragte Herr Chichely, der Leichenbeschauer, ein Jagdgefährte des Herrn Vincy.

»O, ich bin sehr froh, daß ich jetzt nicht zu den Direktoren gehöre. Ich werde dafür stimmen, daß die Sache den Direktoren und dem ärztlichen Vorstande zusammen zur Entscheidung übergeben werde. Ich werde etwas von meiner Verantwortlichkeit auf Ihre Schultern abwälzen, Doktor,« fuhr Herr Vincy fort, indem er zuerst Herrn Sprague, den Senior der consultirenden Aerzte der Stadt, und dann Lydgate, der ihm gegenüber saß, ansah. »Ihr Herren Aerzte müßt Euch darüber berathen, welche Sorte von schwarzem Trank Ihr den Kranken verschreiben wollt. Wie, Herr Lydgate?«

»Ich weiß wenig von beiden Kandidaten,« sagte Lydgate, »aber im Allgemeinen herrscht bei Anstellungen zu sehr die Neigung vor, dieselben zu Fragen persönlicher Vorliebe zu machen. Der geeignetste Mann für einen besondern Posten ist nicht immer der beste Kamerad oder der angenehmste Gesellschafter. Die Fälle sind nicht selten, wo man nicht anders zu einer Reform gelangen kann, als indem man die besten Kameraden, die jedermann gern hat, pensionirt und ganz aus dem Spiele bringt«.

Doctor Sprague, welcher für den »bedeutendsten« consultirenden Arzt in Middlemarch galt, wiewohl man von Doctor Minchin urtheilte, daß er einen noch »schärferen« Blick habe, bemühte sich, sein großes, gewaltiges Gesicht so ausdruckslos wie möglich aussehen zu lassen, und heftete seine Blicke auf sein Weinglas, während Lydgate sprach. Alles, was in Betreff dieses jungen Mannes nicht blos problematisch war und geargwöhnt wurde, sondern klar zu Tage lag – zum Beispiel eine gewisse Hinneigung zu ausländischen Ideen und eine Disposition, das umzustoßen, was von seinen ältern Collegen längst als ausgemacht betrachtet und wieder vergessen worden war, berührte einen Arzt positiv unangenehm, der sich seine Stellung schon vor dreißig Jahren durch eine Abhandlung über Meningitis gesichert hatte, von welcher wenigstens ein als »selbstverfaßt« bezeichnetes Exemplar in Kalbsleder gebunden war. Lydgate's Bemerkung fand jedoch bei der Gesellschaft keinen Anklang.

Herr Vincy sagte, er würde, wenn er zu bestimmen hätte, unangenehme Menschen nie und nirgends employiren.

»Hol' der Henker Ihre Reformen,« bemerkte Herr Chichely, »sie sind der größte Humbug in der Welt. So oft man von einer Reform hört, kann man sicher sein, daß es sich nur um eine Machination zu dem Zwecke handelt, neue Leute ins Amt zu bringen. Ich hoffe, Sie gehören nicht zu den Anhängern des Secirmessers, Herr Lydgate, welche das Amt des Leichenschauers den Händen der bisher gesetzlich mit dieser Funktion betrauten Leute entreißen möchten. Ihre Worte scheinen darauf hinzudeuten.«

»Ich bin ganz gegen Wakley Thomas Wakley (1795-1862), britischer Arzt und radikaler Politiker; begründete The Lancet, eine der ältesten medizinischen Fachzeitschriften der Welt; setzte sich auch für Reformen auf dem Gebiet der Rechtsmedizin ein und forderte, dass Leichenschauer Mediziner sein sollten und nicht Rechtsgelehrte. – Anm.d.Hrsg.,« schaltete Doctor Sprague ein, »er ist ein böswilliger Patron, und möchte die Respectabilität des Berufs, welche, wie jedermann weiß, durch die Londoner Colleges garantirt ist, opfern, um sich eine gewisse Berühmtheit zu verschaffen. Es giebt Leute, die sich nichts daraus machen, blau und braun geschlagen zu werden, wenn sie damit erreichen können, daß von ihnen gesprochen wird. Aber in manchen Beziehungen hat Wakley doch Recht,« fügte der Doctor mit der Miene richterlicher Unparteilichkeit hinzu. »Ich könnte einige Punkte anführen, in Betreff deren Wakley im Rechte ist.«

»O dagegen habe ich nichts,« erwiderte Herr Chichely, »ich tadele Niemanden, der das Interesse seines Berufs wahrnimmt; aber wenn es sich um Gründe für und wider die Sache handelt, so möchte ich doch wohl wissen, wie ein Leichenbeschauer im Stande sein soll, in den zu seiner Cognition gelangenden Fällen die Wahrheit zu ermitteln, wenn er nicht eine juristische Vorbildung genossen hat.«

»Nach meiner Ansicht,« bemerkte Lydgate, »ist eine juristische Vorbildung nur geeignet, Jemanden in Fragen, welche Kenntnisse anderer Art erfordern, noch incompetenter zu machen. Die Leute reden von Ermittelung der Wahrheit, als ob dieselbe wirklich von einem blinden Richter gewogen und gemessen werden könnte. Niemand kann darüber urtheilen, wie es sich mit der Ermittelung der Wahrheit in Betreff eines besondern Gegenstandes verhält, wenn er nicht diesen Gegenstand selbst gründlich kennt. Ein Jurist ist für einen Leichenbefund nicht besser qualificirt als ein altes Weib. Was weiß er zum Beispiel von der Wirkung eines Gifts? Sie könnten ebenso gut behaupten, daß ein Philosoph mit seinen Speculationen den Ausfall der Kartoffelerndte beurtheilen könnte.«

»Wissen Sie denn nicht,« fragte Herr Chichely etwas höhnisch, »daß es nicht die Sache des Leichenbeschauers ist, den Leichenbefund selbst vorzunehmen, sondern daß er seinen Spruch nur in Gemäßheit der Aussage eines ärztlichen Sachverständigen abgiebt?«

»Welcher oft fast ebenso unwissend ist wie der Leichenbeschauer selbst,« sagte Lydgate. »Die Entscheidung über Fragen gerichtlicher Medizin sollte nicht von dem zufälligen Vorhandensein anständiger Kenntnisse bei einem ärztlichen Sachverständigen abhängig gemacht werden und Leichenbeschauer sollte kein Mann sein, der sich vielleicht von einem unwissenden Praktiker aufbinden läßt, daß Strychnin die Magenwände zerstört.« Lydgate hatte wirklich in dem Augenblicke vergessen, daß Herr Chichely wohlbestallter Leichenbeschauer war, und schloß ganz unschuldig mit der Frage: »Sind Sie nicht meiner Meinung, Doctor Sprague?«

»Bis zu einem gewissen Punkte, ja! soweit es sich um volkreiche Distrikte und um die Hauptstadt handelt,« erwiderte der Doctor. »Dagegen hoffe ich, daß es noch recht lange dauern wird, bis wir in dieser Gegend auf die Dienste meines Freundes, Herrn Chichely, werden verzichten müssen; selbst angenommen, daß er einen unserer tüchtigsten Collegen zum Nachfolger erhielte. Ich bin überzeugt, Vincy ist darin meiner Meinung.«

»Ja, ja, ich lobe mir einen Leichenbeschauer, der ein guter Jäger ist,« sagte Herr Vincy in seinem jovialsten Tone. »Und nach meiner Ansicht fährt man immer am Besten mit einem Juristen. Niemand kann Alles wissen. Die meisten Dinge sind eine ›Schickung Gottes‹. Und was Fälle von Vergiftung betrifft, so handelt es sich doch auch bei diesen darum, zu wissen, was das Gesetz darüber sagt. Kommen Sie, lassen Sie uns zu den Damen gehen.«

Lydgate's Privatansicht war, daß das, was er von einem Leichenbeschauer, der sich über die Magenwände keine Scrupeln mache, gesagt habe, recht wohl auf Herrn Chichely passen möchte, aber er hatte nicht die Absicht gehabt, persönlich zu sein. Das war eine der Schwierigkeiten, welche der Verkehr mit der guten Gesellschaft von Middlemarch mit sich brachte; es war gefährlich, die Ansicht geltend zu machen, daß für irgend ein besoldetes Amt Kenntnisse erforderlich seien. Den hierauf folgenden Satz hat Lehmann nicht übersetzt: » Fred Vincy had called Lydgate a prig, and now Mr. Chichely was inclined to call him prick-eared; especially when, in the drawing room, he seemed to be making himself eminently agreeable to Rosamond …« Als » priggish« (selbstgefällig-hochnäsig) wurden Cromwells Roundheads bezeichnet; prick-eared bezieht diese Eigenschaft auf die Ohren. – Anm.d.Hrsg.

Im Salon schien Lydgate alsbald den Liebenswürdigen bei Rosamunden zu spielen, nachdem er sich leicht ein tête à tête mit ihr hatte verschaffen können, da Frau Vincy selbst den Vorsitz am Theetisch übernommen hatte. Sie überließ ihrer Tochter kein häusliches Geschäft, und das blühende gutmüthige Gesicht der Matrone mit den beiden flatternden rosa Haubenbändern und ihr freundliches Benehmen gegen Mann und Kinder, trugen sicherlich wesentlich mit dazu bei, dem Vincy'schen Hause eine so große Anziehungskraft zu verleihen.

Die anspruchslose, inoffensive Spießbürgerlichkeit, welche Frau Vincy in ihrem Wesen nicht verläugnen konnte, setzte Rosamunden's Feinheit nur in ein um so helleres Licht; Lydgate fand seine Erwartungen durch ihr Auftreten übertroffen. Ohne Zweifel sind kleine Füße und vollendet geformte Schultern sehr geeignet, den Eindruck feiner Manieren zu erhöhen, und eine treffende Bemerkung erscheint noch unendlich viel treffender, wenn sie aus einem Munde kommt, dessen Lippen eben so zarte Wellenlinien bilden wie die Augenlider der Sprecherin. Und Rosamunde verstand es wohl, ein treffendes Wort zu sagen; denn sie war gescheidt und taktvoll; von jener Gescheidtheit, welche jeden Ton, nur nicht den humoristischen anzuschlagen versteht. Glücklicherweise machte sie nie den Versuch zu scherzen, und das war vielleicht der schlagendste Beweis ihres feinen Taktes.

Sie und Lydgate waren bald in einem lebhaften Gespräche begriffen. Er bedauerte, daß er sie neulich in Stone Court nicht singen gehört habe. Das einzige Vergnügen, welches er sich während der letzten Zeit seines Pariser Aufenthaltes gestattet, habe darin bestanden, bisweilen Musik zu hören.

»Sie haben sich vermuthlich eingehender mit Musik beschäftigt?« fragte Rosamunde.

»Nein, ich verstehe mich nur auf den Gesang vieler Vögel und kann viele Melodien nach dem Gehör singen, aber gute Musik, von der ich durchaus nichts verstehe, entzückt und rührt mich. Wie dumm sind doch die Menschen, daß sie sich ein solches ihnen erreichbares Vergnügen nicht öfter verschaffen!«

»Ja, und Sie werden Middlemarch sehr unmusikalisch finden. Es giebt hier kaum einen wirklich guten Musiker. Ich kenne nur zwei Herren, welche einigermaßen gut singen.«

»Vermuthlich herrscht hier auch die Mode, komische Lieder rhythmisch zu recitiren, ungefähr wie wenn Jemand mit den Fingern auf einer Trommel spielen und es den Zuhörern überlassen wollte, sich die Melodie hinzu zu denken.«

»Ach, Sie haben gewiß Herrn Bowyer gehört,« sagte Rosamunde mit einem bei ihr so seltenen Lächeln. »Aber wir reden sehr schlecht von unsern Nebenmenschen.«

Lydgate war von Bewunderung für dieses liebliche Geschöpf so hingenommen, daß er darüber fast seiner Pflicht, die Unterhaltung nicht ins Stocken gerathen zu lassen, uneingedenk geworden wäre; ihr Kleid schien ihm ein Stück des zartesten blauen Himmels, sie selbst von einem so reinen Blond, als wäre sie eine eben einem Blumenkelche entstiegene Elfe; und dabei trat dieses blonde Kind mit einer wunderbaren Sicherheit und Grazie des Benehmens auf. Seit er das Erlebniß mit Laure gehabt, hatte Lydgate allen Geschmack an großäugigen, schweigenden Gesichtern verloren; die »göttliche Kuh« hatte keine Anziehungskraft mehr für ihn; und Rosamunde war das grade Gegentheil eines solchen Wesens. –

Aber Lydgate nahm alsbald die Unterhaltung wieder auf.

»Ich hoffe, Sie erfreuen uns diesen Abend durch etwas Musik«

»Wenn Sie es wünschen, will ich gern etwas zu singen versuchen,« sagte Rosamunde. »Papa wird gewiß darauf bestehen, daß ich singe. Aber ich werde vor Ihnen, der Sie die besten Sängerinnen in Paris gehört haben, zittern. Ich habe sehr wenig gehört, ich bin nur einmal in London gewesen. Aber unser Organist an der Peters-Kirche ist ein guter Musiker, und ich nehme noch immer Unterricht bei ihm.«

»Erzählen Sie mir doch, was Sie in London gesehen haben.«

»Seht wenig,« – ein naiveres Mädchen würde geantwortet haben: »O Alles.« Aber Rosamunde verstand es besser – »ein paar von den gewöhnlichen Merkwürdigkeiten, wie sie ungebildeten Mädchen aus der Provinz immer gezeigt werden.«

»Nennen Sie sich ein ungebildetes Mädchen aus der Provinz?« fragte Lydgate und sah sie dabei mit einem Blick an, in welchem sich eine so rückhaltlose Bewunderung malte, daß Rosamunde vor Vergnügen erröthete. Aber sie blieb ungeziert ernsthaft, drehte ihren schlanken Hals ein wenig, und berührte mit den Fingerspitzen ihre wunderbaren Haarflechten, eine ihr zur Gewohnheit gewordene Bewegung, die sich grade so niedlich ausnahm wie das Spielen eines Kätzchens mit seiner Pfote.

»Ich versichere Sie, ich bin recht ungebildet,« antwortete sie ohne Weiteres, »ich passire nur in Middlemarch. Ich kann mich wohl ungenirt mit unsern hiesigen alten Bekannten unterhalten, aber vor Ihnen bin ich wirklich bange.«

»Eine begabte Dame weiß fast immer mehr als wir Männer, wenn auch ihr Wissen von anderer Art ist. Ich bin überzeugt, Sie könnten mich tausend Dinge lehren, wie ein zierlicher Vogel einen Bären lehren könnte, wenn es eine Beiden gemeinsame Sprache gäbe. Glücklicherweise giebt es eine Frauen und Männern gemeinsame Sprache und so können die Bären belehrt werden.«

»Ach, da will Fred klimpern! ich muß ihm nur rasch wehren, sonst zerreißt er Ihnen die Ohren,« rief Rosamunde und ging nach dem andern Ende des Zimmers, wo Fred, nachdem er auf den Wunsch seines Vaters das Clavier geöffnet hatte, damit Rosamunde etwas singe, die Gelegenheit benutzte, mit der linken Hand »Wir winden Dir den Jungfernkranz« zu spielen. So etwas begegnet fähigen Leuten, die ihr Examen gut bestanden haben, bisweilen ebensogut, wie dem durchgefallenen Fred.

»Bitte Fred, warte mit Deinem Ueben bis morgen,« sagte Rosamunde, »Du machst Herrn Lydgate, der zu hören versteht, ganz elend.«

Fred lachte, ließ sich aber nicht irre machen, und spielte seine Melodie zu Ende.

Rosamunde wandte sich sanft lächelnd nach Lydgate um und sagte: »Sie sehen die Bären lassen sich nicht immer belehren.«

»Nun komm, Rosy!« sagte Fred, welcher sich wirklich auf den Gesang seiner Schwester freute, indem er vom Clavierbock aufsprang und denselben für sie in die Höhe schraubte. »Sing' uns erst einmal ein paar hübsche muntere Melodien.«

Rosamunde spielte sehr schön. Ihr Lehrer in Frau Lemon's Pension (welche sich in der Nähe einer Landstadt befand, an deren denkwürdige Geschichte noch ein Schloß und eine Kirche erinnerten), war einer jener vortrefflichen Musiker, welche man hie und da in unsern Provinzialstädten findet und welche den Vergleich mit manchem bekannten »Kapellmeister« in einem Lande, welches reichlichere Gelegenheit zur Erwerbung musikalischer Celebrität darbietet, sehr wohl aushalten können. Rosamunde hatte sich mit einer seltnen Nachahmungsgabe seine Art zu spielen angeeignet, und gab seine großartige Auffassung klassischer Musik mit der Genauigkeit eines Echo's wieder.

Ihr Spiel hatte, wenn man es zum ersten Male hörte, fast etwas Unheimliches. Eine verborgene Seele schien Rosamunden's Fingern zu entströmen, wie ja auch dem leblosen Echo eine Seele inne wohnt; auch war der Eindruck, den ihr Spiel hervorbrachte, nicht lediglich die Wirkung ihres Nachahmungstalentes; denn jedem schönen Vortrage liegt irgendwie eine selbständige Geistesthätigkeit zu Grunde, wäre es auch nur eine reproductive.

Lydgate war völlig hingenommen und fing an, in Rosamunden ein ganz ungewöhnliches Wesen zu erblicken. Am Ende, dachte er, braucht man sich nicht zu wundern, unter scheinbar so ungünstigen Umständen die harmonische Vereinigung der seltensten Naturgaben zu finden; denn diese Vereinigung hängt doch unter allen Umständen von nicht leicht erkennbaren Bedingungen ab. Er saß in ihren Anblick vertieft da und stand, als sie geendet hatte, nicht auf, um ihr Complimente zu machen; sondern überließ das Anderen, seine Bewunderung war zu tief dazu.

Ihr Gesang war weniger ausgezeichnet, aber auch gut geschult und angenehm zu hören wie ein vollkommen rein gestimmtes Glockenspiel. Sie sang freilich diesen Abend nur die damals beliebten Lieder »Land meiner seligsten Gefühle« und »Als ich auf meiner Bleiche, ein Stückchen Garn begoß,« denn alle Sterblichen müssen sich der Mode ihrer Zeit fügen und nur die Alten können immer klassisch sein. Aber Rosamunde konnte auch »Das Veilchen« von Mozart, oder Haydns Canzonetten, oder » Voi che sapete« Arie aus Mozarts Oper » Le Nozze di Figaro«. – Anm.d.Hrsg. und » Batti, batti« Arie aus Mozarts Oper » Don Giovanni«. – Anm.d.Hrsg. effectvoll singen, wenn sie nur wußte, daß ihre Zuhörer an solcher Musik Geschmack fänden.

Ihr Vater sah mit dem Ausdruck des Entzückens über die Bewunderung der Gäste im Kreise umher. Ihre Mutter saß von Glück strahlend Im Original heißt es an dieser Stelle statt dessen: » like a Niobe before her troubles«. – Anm.d.Hrsg. mit ihrem jüngsten Töchterchen auf dem Schooße und schlug mit der Hand des Kindes leise den Takt zur Musik. Und auch Fred hörte trotz seiner im Allgemeinen gegen Rosy's Vollkommenheiten so skeptischen Stimmung, doch ihrem Spiele und Gesange mit vollkommener Hingebung und mit dem Wunsche zu, er möchte dasselbe auf seiner Flöte leisten können.

Es war der angenehmste Familienkreis, den Lydgate, seit er nach Middlemarch gekommen war, noch gesehen hatte. Die Vincy's wußten sich von allen Seelenbeklemmungen frei zu halten, und sich ihres Lebens zu freuen, eine Weltanschauung, welche in allen Provinzialstädten sehr vereinzelt in einer Zeit dastand, wo die herrschende streng kirchliche Richtung die wenigen Vergnügungen, welche es in der Provinz noch gab, wie eine ansteckende Krankheit ängstlich meiden ließ. Bei den Vincy's wurde auch immer Whist gespielt, und auch heute standen die Spieltische bereit und ließen einige Mitglieder der Gesellschaft das Ende der Musik im Geheimen ungeduldig erwarten.

Noch ehe es soweit war, trat Herr Farebrother ein. Er war ein hübscher breitschultriger, übrigens nur kleiner Mann, von ungefähr vierzig Jahren; sein schwarzer Anzug war sehr fadenscheinig, aller Glanz seines Aeußern lag in seinen lebhaften grauen Augen. Sein Erscheinen wirkte wie milder Sonnenschein, als er gleich beim Eintreten die kleine Luise, welche eben von Fräulein Morgan zu Bette gebracht werden sollte, mit väterlichen Späßen zurückhielt, als er Jeden in der Gesellschaft mit einem freundlichen Worte begrüßte und schon nach zehn Minuten mehr Conversation gemacht zu haben schien, als bis dahin den ganzen Abend geführt worden war.

Bei Lydgate drang er auf die Erfüllung seines Versprechen ihn zu besuchen. »Ich kann Sie nicht loslassen, wissen Sie, weil ich Ihnen einige Käfer zu zeigen habe. Wir Sammler interessiren uns für jeden neuen Bekannten, und ruhen nicht eher, bis er Alles gesehen hat, was wir ihm zu zeigen haben.«

Aber bald zog es ihn nach dem Whisttisch, und er sagte händereibend: »Jetzt aber lassen Sie uns ernsthaft sein! Was, Sie spielen nicht? O, Sie sind noch zu jung und leichtfertig für eine derartige Beschäftigung.«

Lydgate dachte bei sich, dieser Geistliche, dessen Fähigkeiten Herrn Bulstrode so schmerzliche Gefühle erweckten, scheine eine angenehme Erholung in diesem gewiß nicht gelehrten Familienkreise zu finden. Er meinte sich das einigermaßen erklären zu können; die gute Laune, die freundlichen Gesichter von Alt und Jung und die Gelegenheit, sich die Zeit ohne alle geistige Anstrengung leidlich zu vertreiben, mochte das Haus wohl anziehend für Leute machen, welche keine besondere Verwendung für ihre Mußestunden hatten.

Alles sah hier blühend und heiter aus – mit einziger Ausnahme von Fräulein Morgan, welche finster, gelangweilt und resignirt schien und, wie Frau Vincy oft sagte, eine rechte Gouvernante war. Gleichwohl war Lydgate nicht gemeint Im Original: » Lydgate did not mean to pay many such visits himself.« Richtig also: »Lydgate hatte nicht die Absicht, …« – Anm.d.Hrsg., diesen Kreis öfter aufzusuchen. Bei solchen Besuchen ging doch immer die kostbare Zeit des Abends nutzlos verloren, und jetzt wollte er, nachdem er sich noch ein wenig mit Rosamunden unterhalten hatte, sich entschuldigen und fortgehen.

»Sie werden sich gewiß bei uns hier in Middlemarch nicht gefallen,« sagte sie, als die Whistspieler sich an die Spieltische gesetzt hatten. »Wir sind hier sehr langweilig und Sie sind ganz andere Gesellschaft gewöhnt.«

»Ich denke mir, alle Provinzialstädte sehen sich einander sehr ähnlich,« erwiderte Lydgate. »Aber ich habe bemerkt, daß man immer seine eigene Stadt für langweiliger hält, als jede andere. Ich bin entschlossen, Middlemarch zu nehmen, wie es ist, und werde sehr dankbar sein, wenn die Stadt es mit mir ebenso halten will. So viel steht fest, daß mir dieselbe schon jetzt einige Reize geboten hat, welche meine Erwartungen weit übertreffen.«

»Sie meinen die Fahrten nach Lowick und Tipton, die allerdings Jedem gefallen müssen,« entgegnete Rosamunde ganz anspruchslos.

»Nein, ich rede von Reizen, die mir viel näher sind.«

Rosamunde stand auf, nahm ihre Filetarbeit zur Hand und sagte dann: »Sind Sie ein Freund vom Tanzen? ich bin nicht ganz sicher, ob gescheidte Leute überhaupt tanzen.«

»Ich würde gern mit Ihnen tanzen, wenn Sie es mir erlauben wollten«

»O,« sagte Rosamunde mit einem kleinen abwehrenden Lachen, »ich wollte Ihnen nur sagen, daß bei uns bisweilen getanzt wird, und möchte gern wissen, ob Sie es als eine Beleidigung ansehen würden, wenn wir Sie dazu einlüden.«

»Unter der von mir erwähnten Bedingung gewiß nicht«

Nach diesem kleinen Geplauder wollte Lydgate wirklich fortgehen; als er aber an den Whisttischen vorüber kam, reizte es ihn, Farebrother's meisterhaftes Spiel und sein Gesicht, dessen Ausdruck eine wunderbare Mischung von Verschlagenheit und Güte darbot, zu beobachten.

Um zehn Uhr wurde das Abendbrod gereicht – so war es Sitte in Middlemarch – und Punsch dazu getrunken, aber Farebrother trank nur ein Glas Wasser. Er gewann, aber es schien gar keine Aussicht dazu vorhanden zu sein, daß die Rubber je ein Ende nehmen würden, und Lydgate verabschiedete sich endlich.

Da es aber noch nicht eilf Uhr war, machte er noch einen Gang in der frischen Abendluft in der Richtung von St. Botolph, Farebrother's Kirche, deren Thurm sich in seinen massigen Formen dunkel von dem gestirnten Himmel abhob. Die Kirche war die älteste in Middlemarch, die Pfarrstelle jedoch war nur ein Vicariat und brachte jährlich kaum vierhundert Pfund ein.

Lydgate, der das gehört hatte, fragte sich jetzt, ob Farebrother wohl Werth auf das Geld lege, welches er im Kartenspiel gewinne, und dachte bei sich: »Er scheint ein sehr liebenswürdiger Mensch zu sein, aber Bulstrode mag doch seine guten Gründe haben.« Vieles mußte sich leichter für Lydgate gestalten, wenn es sich ergeben sollte, daß die Anschauungsweise des Herrn Bulstrode im Ganzen zu rechtfertigen sei. »Was geht mich sein Glaube an, wenn er damit einige gute Ideen verbindet? Man muß die menschlichen Köpfe nehmen, wie man sie findet.«

Das waren thatsächlich Lydgate's erste Gedanken, nachdem er das Vincy'sche Haus verlassen hatte, und das wird ihn, fürchte ich, vielen meiner Leserinnen kaum ihres Interesses würdig erscheinen lassen. An Rosamunde und ihre Musik dachte er erst in zweiter Linie und wiewohl er, nachdem er einmal an sie zu denken angefangen hatte, während des ganzen noch übrigen Theils seines Spaziergangs bei ihrem Bilde verweilte, regten ihn diese Vorstellungen doch nicht auf, und hatte er nicht die Empfindung, als ob ein neues bedeutsames Element in sein Leben eingetreten wäre.

Er konnte jetzt noch nicht heirathen, er wünschte sich erst in einigen Jahren zu verheirathen und deshalb kam es ihm nicht in den Sinn, sich in ein Mädchen zu verlieben, das zufällig seine Bewunderung erregt hatte. Er bewunderte Rosamunde ungemein, aber in die wahnsinnige Leidenschaft, von welcher er einst für Laure ergriffen gewesen war, glaubte er nicht leicht durch ein anderes Weib wieder versetzt werden zu können. Freilich würde es, wenn von Verlieben hätte überhaupt die Rede sein können, keinen geeigneteren Gegenstand dazu gegeben haben als dieses Fräulein Vincy, welches grade die Art von geistiger Verfassung hatte, die man sich bei einer Frau wünschen möchte – gewandt, fein, gelehrig, empfänglich für jede Vervollkommnung in allen zarten Bezügen des Lebens, und alles das in einer körperlichen Hülle, welche dieser Begabung einen so unwiderleglichen Ausdruck gab, daß es keines weitern Beweises bedurfte.

Lydgate war davon durchdrungen, daß, wenn er sich einmal verheirathen würde, seine Frau jenen weiblichen Zauber, jene specifische Weiblichkeit haben müßte, welche auf einer Linie mit Blumen und Musik stehen, jene Schönheit, welche schon an und für sich tugendhaft ist, weil sie nur für reine und zarte Freuden geschaffen erscheint.

Da er sich aber in den nächsten fünf Jahren noch nicht zu verheirathen gedachte, so lag es ihm zunächst mehr am Herzen, sich Louis' neues Buch über Fieber anzusehen, welches ihn speciell interessirte, weil er Louis in Paris gekannt hatte, und bei vielen anatomischen Untersuchungen zugegen gewesen war, welche den Zweck gehabt hatten, die specifischen Unterschiede zwischen Typhus und typhösem Fieber festzustellen. Er ging nach Hause und vertiefte sich bis spät in die Nacht hinein in pathologische Studien, zu denen er ein viel reicheres Erfahrungs-Material hinzubrachte, als es ihm jemals auf die complicirten Fragen der Liebe und der Heirath anzuwenden nothwendig erschienen war. Ueber diese Gegenstände hielt er sich durch Literatur und jene traditionelle Weisheit, welche wir in der leichten Unterhaltung des Tages überkommen, für hinreichend unterrichtet. Das Fieber dagegen war in seinem Entstehungsgrunde dunkel und nöthigte ihn zu jener beglückenden Thätigkeit der Einbildungskraft, welche nicht ein rein willkürliches Spiel, sondern die Uebung einer geschulten Geisteskraft ist, indem sie mit dem klarsten Blick für Wahrscheinlichkeiten und im strengsten Gehorsam gegen die Gesetze der Wissenschaft combinirt und construirt und dabei die ganze Energie der Unparteilichkeit herausfordert, denn sie muß sich die Freiheit bewahren, ihre eigene Arbeit an die Probe zu stellen.

Viele werden als mit einer reichen Phantasie begabt gepriesen ob ihrer verschwenderischen Production an nichtssagenden Bildern und billigen Erzählungen, armseligen Erfindungen von Gesprächen auf fernen Planeten, oder Bildern von Lucifer, wie er als ein großer häßlicher Mann mit Fledermausflügeln, in einem phosphorescirenden Glanze auf die Erde herabsteigt, um seine Unthaten zu vollbringen, oder Uebertreibungen einer ausgelassenen Laune, welche uns anmuthen wie ein krankhafter Traum des Lebens.

Aber diese Eingebungen erschienen Lydgate gemein im Vergleich mit jener Thätigkeit der Einbildungskraft, welche uns die feinsten Agentien enthüllt, die zwar durch keine mikroskopische Untersuchung nachzuweisen sind, deren Spur aber durch ein dichtes Dunkel hindurch auf langen Wegen, logischer Schlüsse zu verfolgen, uns jene innere Erleuchtung befähigt, welche das höchste Ergebniß geistiger Energie ist. Er für sein Theil verschmähte alle billigen Erfindungen, in welchen die Unwissenheit sich behaglich ergeht; aber begeistert, war er für jene Arbeit mühseliger Erfindung, welche das wahre Auge der Forschung ist, indem es seinem Gegenstande eine vorläufige Gestalt verleiht und unermüdlich daran arbeitet, dieselbe zu corrigiren.

Sein Streben ging dahin, in das Dunkel jener kleinen inneren Prozesse, der Quellen menschlichen Elends und menschlicher Freude einzudringen, in jene unsichtbaren Gänge, welche die ersten Schlupfwinkel der Angst, des Wahnsinns und des Verbrechens sind, in die Schwankungen jenes zarten Gleichgewichts der Kräfte, welches über die Entwickelung einer heiteren oder finsteren Weltanschauung entscheidet.

Als Lydgate endlich sein Buch bei Seite legte, seine Beine nach dem noch glimmenden Kaminfeuer hin ausstreckte und die Hände gefaltet in den Nacken legte in jener angenehmen, einer geistigen Aufregung folgenden Stimmung, wo unser Denken sich von der prüfenden Untersuchung eines bestimmten Gegenstandes in dem Allgemeingefühle seines Zusammenhangs mit unserem ganzen Sein erholt – durchdrang ihn ein erhebendes Selbstbewußtsein in der triumphirenden Freude über seine Studien und etwas wie Mitleid für jene weniger Glücklichen, welche seinem Berufe nicht angehörten.

»Wenn ich mich nicht schon als Knabe entschlossen hätte, diesen Beruf zu ergreifen,« dachte er, »wäre ich vielleicht auch dahin gekommen, mein Brod mit der stupiden Arbeit eines Lastthiers zu verdienen und mit Scheuklappen vor den Augen durchs Leben zu gehen. Ich würde in keinem Berufe glücklich geworden sein, der nicht die höchste geistige Anstrengung von mir gefordert und mich doch in thätigem theilnehmendem Zusammenhange mit meinen Mitmenschen erhalten hätte. Es giebt keinen Beruf, der diesen beiden Forderungen so vollkommen entspräche, wie der ärztliche. Er allein gewährt die Möglichkeit, der reinen Wissenschaft, welche in die Fernen und in die Tiefen dringt, zu leben und zugleich den alten kranken Leuten des Kirchspiels hülfreich beizustehen. Für einen Geistlichen ist das schon schwieriger. Farebrother scheint eine ganz exceptionelle Erscheinung zu sein.«

Dieser letzte Gedanke brachte ihm die Vincy's und alle Bilder des Abends wieder vor die Seele. Sie beschäftigten ihn sehr angenehm, und als er endlich seinen Bettleuchter zur Hand nahm, umspielte seine Lippen jenes leise Lächeln, welches angenehme Erinnerungen gern zu begleiten pflegt. Er war eine feurige Natur, aber für jetzt concentrirte sich all sein Feuer auf die Liebe zu seiner Arbeit und auf das ehrgeizige Streben, sich gleich andern Helden der Wissenschaft, die ihre Laufbahn auch nur mit einer obscuren Landpraxis begonnen hatten, als einen Wohlthäter der Menschheit anerkannt zu sehen.

Armer Lydgate! Oder soll ich sagen arme Rosamunde! Jeder von Beiden lebte in einer Welt, welche dem Andern ganz fremd war. Lydgate hatte keine Ahnung davon, daß er bereits ein Gegenstand eifrigen Nachdenkens für Rosamunde geworden war, welche weder irgendeine Veranlassung hatte, den Gedanken an ihre Verheirathung auf einen entfernten Zeitpunkt zu verschieben, noch wissenschaftliche Studien betrieb, welche sie von jener Gewohnheit des Grübelns über Blicke, Worte und Phrasen, wie sie in dem Leben der meisten jungen Mädchen eine so große Rolle spielt, hätten ablenken können.

Nach seiner Meinung hatte er in Blick und Wort nicht mehr Verbindliches und keinen größern Ausdruck der Bewunderung für sie an den Tag gelegt, als jeder Mann einem schönen Mädchen schuldig ist. Ja, es schien ihm sogar, daß er dem Genusse, welchen ihm ihre Musik bereitet, gar keine Worte geliehen habe; denn er hatte gefürchtet, sich einer verletzenden Ungeschicklichkeit schuldig zu machen, wenn er ihr sein Erstaunen über ihre ausgezeichneten Leistungen zu erkennen gäbe.

Aber Rosamunde hatte alle seine Blicke und Worte sorgfältig in ihr Gedächtniß eingetragen und betrachtete dieselben als das Vorspiel zu einem Roman – ein Vorspiel, welches ihr um so bedeutsamer erscheinen mußte, je vertrauter sie sich bereits, im Voraus mit dem Verlauf dieses Romans gemacht hatte.

In Rosamunden's Roman war es durchaus nicht erforderlich, sich viel mit dem innern Leben des Helden oder mit seinem ernsten Beruf in der Welt zu beschäftigen; natürlich hatte er ein Geschäft und war ein ebenso geschickter wie gut aussehender Mann; aber der eigentliche Reiz der Persönlichkeit Lydgate's lag in seiner guten Herkunft, welche ihn von allen Middlemarcher Bewunderern Rosamunden's vortheilhaft unterschied und die Verheirathung mit ihm als eine Rangerhöhung und eine Annäherung an jene himmlische Sphäre auf Erden erscheinen ließ, in welcher sie nichts mit gemeinen Leuten zu schaffen haben und schließlich vielleicht in intimen Verkehr zu Verwandten ihres Mannes treten würde, welche ganz auf einer Stufe mit dem Landadel standen, der so geringschätzig auf die Middlemarcher herabblickte. Rosamunde war mit dem feinsten Sinn für den zarten Duft gesellschaftlicher Distinction begabt, und als sie einmal die Fräulein Brooke's in Begleitung ihres Onkels bei den Assisen mitten unter der Aristokratie sitzend gesehen, hatte sie dieselben ungeachtet ihrer einfachen Toilette beneidet.

Sollte es meinen Leserinnen unglaublich vorkommen, daß die Vorstellung von Lydgate's Familienbeziehungen bei Rosamunden ein Entzücken hervorrief, welches sie glauben ließ, daß sie in ihn verliebt sei, so möcht' ich sie doch bitten, ihre Fähigkeit, Vergleiche anzustellen, ein wenig zu schärfen und sich zu fragen, ob Uniform und Epaulets nicht noch jetzt bisweilen einen ähnlichen Einfluß üben. Unsere Leidenschaften leben nicht in gesonderten Räumen, sondern tragen ihre Speisen zu einem gemeinschaftlichen Mahle zusammen, an welchem sie, in die dürftige Toilette ihrer kleinen dünkelhaften Vorstellungen gekleidet, eine Jede nach ihrem Appetit von ihrem gemeinschaftlichen Vorrathe speisen.

In der That war Rosamunde ausschließlich, nicht sowohl mit Tertius Lydgate, wie er seinem Wesen nach war, sondern mit seinem Verhältniß zu ihr beschäftigt, und es war bei einem Mädchen, welches zu hören gewöhnt war, daß alle jungen Leute in sie verliebt sein möchten, könnten, würden oder wirklich wären, entschuldbar, wenn sie ohne weiteres annahm, daß Lydgate keine Ausnahme bilden könne. Seine Blicke und Worte bedeuteten für sie mehr als die anderer Männer, weil sie mehr Werth auf dieselben legte; sie dachte daher sorgfältig über diese Blicke und Worte nach und war eifrig bemüht, sich jene Vollendung der Erscheinung, des Benehmens, der Empfindungen und alle übrigen Vollkommenheiten anzueignen, welche bei Lydgate eine competentere Würdigung zu finden versprachen, als ihnen bisher noch geworden war.

Denn Rosamunde war, obgleich sie sich nichts zugemuthet haben würde, was ihr nicht persönlich angenehm war, doch sehr fleißig und jetzt mehr als je darauf bedacht, Landschaftsskizzen und Portraits ihrer Freunde zu zeichnen, musikalische Studien zu machen, kurz von Morgen bis Abend daran zu arbeiten, sich ihrem eigenen Ideale einer vollendeten Dame mehr und mehr zu nähern, wobei sie sich beständig in ihrem eigenen Bewußtsein und bisweilen zur nicht unwillkommnen Abwechslung in den Blicken zahlreicher Besucher des Hauses spiegeln konnte. Sie fand auch Zeit, die besten und selbst die nächstbesten Romane zu lesen und wußte viele Stellen aus Dichtern auswendig. Ihr Lieblingsgedicht war »Lalla Rookh.« Orientalische Romanze in Versform (1817) des irischen Dichters Thomas Moore (1779-1852). Das Werk war seinerzeit sehr verbreitet, so dass z.B. Robert Schumann 1843 den zweiten Teil, »Das Paradies und die Peri«, vertonte. – Anm.d.Hrsg.

»Ein herrliches Mädchen! Glücklich der Mann, welcher die bekommt!« dachten die ältlichen Herren, welche das Vincy'sche Haus frequentirten; und die einmal abgewiesenen jungen Leute ließen sich dadurch nicht abschrecken, sondern gingen mit dem Gedanken um, ihr Glück noch einmal zu versuchen, wie es in Provinzialstädten, wo der Horizont nicht von Nebenbuhlern wimmelt, Sitte ist.

Aber Frau Plymdale meinte, die große, auf Rosamunden's Erziehung verwendete Sorgfalt sei lächerlich; denn wozu sollten ihr Talente und Kenntnisse dienen, von denen sie keinen Gebrauch mehr würde machen können, sobald sie einmal verheirathet wäre, während ihre Tante Bulstrode, welche ein schwesterlich treues Herz für die Familie ihres Bruders hatte, zwei aufrichtige Wünsche für Rosamunde hegte: daß sie nämlich eine ernstere Richtung einschlagen und daß sie einen Mann bekommen möchte, dessen Vermögen ihren Gewohnheiten entspräche.



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