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Zehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 10:

He had catched a great cold, had he had no other clothes to wear than the skin of a bear not yet killed.

Fuller: History of the Worthies of England


Der junge Ladislaw machte den Besuch, zu welchem Herr Brooke ihn aufgefordert hatte, nicht, und schon sechs Tage später berichtete Casaubon, daß sein junger Verwandter nach dem Continente abgereist sei und schien durch diese vage Angabe jeder weiteren Frage aus dem Wege gehen zu wollen.

In der That hatte Will es abgelehnt, irgend ein bestimmteres Reiseziel, als »ganz Europa« zu nennen. Das Genie läßt sich, das war seine Ansicht, durchaus keine Fesseln anlegen: einerseits bedarf es des weitesten Spielraums für seine spontanen Antriebe, andererseits kann es vertrauensvoll die Botschaften aus dem Universum, welche den Genius zu seiner besonderen Arbeit aufrufen müssen, erwarten, wenn es nur eine für alle erhabenen Ziele empfängliche Haltung beobachtet.

Solcher Haltungen giebt es mannigfache und Will hatte es bereits mit vielen derselben redlich versucht. Er liebte es nicht, übermäßig viel Wein zu trinken, aber er hatte zu wiederholten Malen dem Weine zu stark zugesprochen, nur zum Zwecke eines Experiments mit der durch den Weingenuß hervorgerufenen Extase; er hatte gefastet, bis er ohnmächtig geworden war und hatte dann Hummer zu Abend gegessen; er hatte sich durch starke Dosen von Opium krank gemacht. Aber alle diese Versuche hatten nichts besonders Originelles zu Tage gefördert, und die Wirkungen des Opiums auf ihn hatten ihn überzeugt, daß eine gründliche Unähnlichkeit zwischen seiner Constitution und der De Quinceys Thomas De Quincey (1785-1859), englischer Schriftsteller; seine » Confessions of an English opium-eater« erschienen 1821. bestehe. Die eigenthümlichen äußeren Umstände, welche dem Genie zu seiner, Entfaltung verhelfen würden, waren noch nicht erschienen; das Universum hatte ihm noch nicht gewinkt. Selbst Caesars Glück bestand zu einer gewissen Zeit nur in einem großartigen Vorgefühle. Wir wissen Alle, welch' ein Mummenschanz bei aller Entwickelung menschlicher Dinge im Spiele ist und welche bedeutende Gestaltungen in embryonischer Hülflosigkeit verborgen liegen. Die Welt ist voll von hoffnungsreichen Analogien und schönen unentwickelten Keimen, die man Möglichkeiten nennt.

Will standen die kläglichen Beispiele eines langen Wachsthums und Blühens ohne Frucht klar vor Augen und, hätte ihn nicht seine Dankbarkeit davon abgehalten, er würde Casaubon verlacht haben, dessen emsig gesammelte Bände von Collectaneen und dessen Bemühen, mit seiner kleinen Leuchte einer gelehrten Theorie die Ruinen der Welt zu durchforschen – die Richtigkeit einer Anschauungsweise zu bestätigen schien, welche für Will's rückhaltloses Vertrauen auf die Intensionen des Universums im Betreff seiner selbst nur ermuthigend wirken konnte. Er betrachtete dieses Vertrauen als einen Stempel des Genies, und sicherlich ist es kein Stempel des Gegentheils, da das Genie weder in Selbstüberschätzung noch in Demuth, sondern in der Kraft besteht, etwas Besonderes zu leisten oder zu schaffen.

Lassen wir ihn daher nach dem Continente abreisen, ohne uns im Voraus über seine Zukunft auszusprechen. Von allen Arten des Irrthums ist die Prophetie die willkürlichste.

Für jetzt aber möchte ich diese Vorsicht gegen ein zu rasches Urtheil noch mehr auf Casaubon, als auf seinen jungen Vetter angewandt wissen. Wenn Casaubon für Dorothea nur die Veranlassung gewesen war, den schönen entzündbaren Stoff ihrer jugendlichen Illusionen in Flammen zu setzen, – folgt daraus, daß die weniger erregten Personen, welche bisher ein Urtheil über ihn ausgesprochen haben, ein getreues Bild von ihm in der Seele trugen. Ich protestire gegen jeden voreiligen Schluß aus Frau Cadwallader's Verachtung gegen die »Größe der Seele« eines benachbarten Geistlichen, aus Sir James geringschätziger Aeußerung über die Beine seines Nebenbuhlers, aus Herrn Brooke's vergeblichem Bemühen einem Tischgenossen seine Ideen zu entlocken, oder aus Celien's kritischen Bemerkungen über die persönliche Erscheinung eines Gelehrten von mittleren Jahren. Ich bezweifle, daß der größte Mann seines Zeitalters, wenn es einen Solchen wirklich je gegeben hat, dem Loose einer so unvortheilhaften Wiederspiegelung seines Bildes in den Seelen seiner kleinen Mitmenschen hätte entgehen können; und selbst Milton würde, wenn er sein schönes Gesicht in einem Löffel betrachtet hätte, sich darein haben ergeben müssen, dasselbe die Gestalt eines Kürbisses annehmen zu sehen. Auch die frostige Rhetorik in Casaubon's Worten, wo er von sich selbst spricht, ist kein Beweis, daß er nicht feiner Empfindungen und edler Handlungen fähig sei.

Hat nicht ein unsterblicher Physiker und Entzifferer von Hieroglyphen abscheuliche Verse geschrieben? Ist die Theorie des Sonnensystems durch anmuthige Manieren und gesellschaftlichen Takt gefördert worden? Wie wäre es, wenn wir, statt einen Mann nach seiner äußeren Erscheinung zu beurtheilen, mit eingehenderem Interesse zu erfahren suchten, was ihm sein eigenes Bewußtsein über seine Fähigkeiten oder Handlungen sagt, mit welchen Hindernissen er bei der Vollbringung seines Tagewerks zu ringen hat, welche getäuschte Hoffnungen oder welche tiefgewurzelte Selbsttäuschung die Jahre in ihrem Verlaufe in ihm angesammelt haben, und mit welchem Muthe er gegen den von allen Seiten auf ihn einstürmenden Druck der Verhältnisse ankämpft, der endlich doch zu schwer für ihn werden und sein Herz zum Stillstehen bringen wird. Ohne Zweifel ist ihm selbst sein Loos von großer Wichtigkeit, und wenn wir finden, daß er einen zu hohen Platz in unserer Achtung beansprucht, so muß das hauptsächlich daran liegen, daß wir überall keinen Platz für ihn haben, da wir ihn von ganzem Herzen der göttlichen Hochachtung empfehlen, – ja wir halten es für einen erhabenen Zug an unserem Nebenmenschen, wenn er das höchste Glück im Jenseits erwartet, wie wenig wir auch hier zu seinem Glücke beizutragen gesonnen sind.

Auch Casaubon bildete den Mittelpunkt seiner eigenen Welt; wenn er gleichwohl den Gedanken hegte, daß Andere von der Vorsehung dazu bestimmt seien seinen Zwecken zu dienen und sie namentlich aus dem Gesichtspunkte ihrer Brauchbarkeit für den Autor des »Schlüssel zu allen Mythologien« betrachtete, so war das ein uns nicht fremder Zug, welcher, wie alle kümmerlichen Hoffnungen sterblicher Menschen, Anspruch aus unser Mitleid hat.

Sicherlich berührte ihn die Angelegenheit seiner Heirath mit Dorotheen näher, als irgend eine der Personen, welche sich bis jetzt mit derselben unzufrieden erklärt haben, und in diesem Augenblicke empfinde ich eine lebhaftere Sympathie für seine Erfolge, als für die Enttäuschung des liebenswürdigen Sir James. Denn in Wahrheit war die Stimmung Casaubon's, als der für seine Hochzeit festgesetzte Tag näherrückte, keine gehobene und er fand die Aussicht auf den Garten der Ehe, in welchem doch die Wege von Blumen eingehegt sein sollten, bei anhaltender Betrachtung nicht reizender, als die Gruftgewölbe, in welchen er, die Kerze in der Hand, zu wandeln gewohnt war. Er gestand es sich selbst nicht und würde es noch weniger einem Andern gegenüber auch nur angedeutet haben, wie überrascht er durch die Erfahrung war, daß er zwar ein edles und großgesinntes Mädchen, aber keine neue Freude, welche er doch auch zu finden gehofft hatte, gewonnen habe. Er kannte zwar alle das Gegentheil behauptenden Stellen der Classiker, aber die Lectüre der Alten wird meistens in einer Weise betrieben, welche hinreichend erklärt, warum den treffendsten Stellen ihrer Werke so wenig Kraft zur Anwendung auf uns selbst bleibt.

Der arme Casaubon hatte sich eingebildet, daß er in seinem langen fleißigen Junggesellenleben die Freude mit Zins auf Zins für sich angesammelt habe und daß große Wechsel auf die Befriedigung seiner Neigungen unfehlbar honorirt werden würden; denn wir Alle, seien wir ernst oder leichtgesinnt, bewegen uns in unserm Denken in Bildern und handeln verhängnißvoll unter ihrem Einflusse. Und jetzt war er in Gefahr, grade durch die Vorstellung betrübt zu werden, daß sein neues Verhältniß ihm ein außerordentliches Glück bringen werde; in den äußern Umständen lag nichts, was einen gewissen Mangel in seiner Empfindung hätte erklären können, welchen er in der Zeit, wo er die gewohnte Stille seiner Lowicker Bibliothek gegen seine Besuche in Tipton-Hof vertauschte, also grade in dem Augenblicke empfand, wo er nur voll freudiger Hoffnung hätte sein sollen. Das war eine traurige Erfahrung, durch welche er sich ebenso entschieden zur Einsamkeit verdammt fühlte, wie in den Momenten der Verzweiflung, welche ihn bisweilen überkam, wenn er sich in seinem Werke wie in einem Sumpfe durchzuarbeiten hatte, ohne anscheinend seinem Ziele näher zu kommen.

Und seine Einsamkeit war die traurigste von allen; denn sie schreckte vor sympathischer Theilnahme zurück. Er mußte wünschen, daß Dorothea ihn für nicht weniger glücklich halte, als er, ihr erfolgreicher Bewerber, der Welt erschien und, soweit seine schriftstellerische Thätigkeit in Betracht kam, lehnte er sich gern an ihr jugendlich ehrfürchtiges Vertrauen; er gefiel sich darin, ihr im Zuhören kundgegebenes frisches Interesse als ein Mittel der Aufmunterung für sich selbst anzusehen und wenn er zu ihr sprach, entwickelte er ihr alle seine Arbeiten und Intentionen in dem wohlüberlegten zuversichtlichen Tone des Pädagogen und befreite sich dabei für den Augenblick von jener eingebildeten Zuhörerschaft, welche ihn in seinen unproductiven Arbeitsstunden in Gestalt von höllischen Schatten beklemmend umdrängte.

Denn für Dorothea, welche von der Weltgeschichte bisher nichts anderes kannte, als das Kinderspielzeug, welches man eine für junge Damen berechnete Darstellung der Geschichte nennt, wie sie den Hauptbestandtheil auch ihres Unterrichts ausgemacht hatte, waren die Mittheilungen Casaubon's über sein großes Werk voll von neuen Anschauungen, und dieser Eindruck einer ihr werdenden Offenbarung, die Ueberraschung, welche ihr die nähere Bekanntschaft mit Stoikern und Alexandrinern, als Leuten, welche den ihrigen nicht ganz unähnliche Ideen gehabt hatten, bereitete, gewährte ihrem eifrigen Streben nach einem ihr eigenes Leben und ihren Glauben mit jener gewaltigen Vergangenheit verbindenden Elemente, durch welches die entlegensten Quellen des Wissens Einfluß aus ihre Handlungen gewinnen könnten, eine augenblickliche Befriedigung.

Der vollständigere Unterricht würde folgen, Alles was ihr noch fehlte, würde Casaubon ihr mittheilen; sie sah der tieferen Einweihung in die Welt der Ideen entgegen, wie sie der Ehe entgegen sah, und vermengte ihre unklaren Vorstellungen von Beidem. Es würde ein großer Irrthum sein, zu glauben, daß Dorothea nach einem Antheile an Casaubon's Wissen nur aus dem Gesichtspunkt einer Vervollkommnung ihrer Bildung verlangt hätte; denn obgleich das allgemeine Urtheil der Bewohner Tiptons und Freshitts sie als sehr begabt bezeichnete, würde doch dieses Beiwort sie nur unzulänglich für solche Kreise charakterisirt haben, in deren präziser definirendem Wörterbuche Begabtheit eine vom Charakter ganz unabhängige Fähigkeit sich Kenntnisse anzueignen und verständig zu handeln bedeutet.

All ihr Streben nach Vervollkommnung ihres Wissens war nur ein Ausfluß jenes vollen Stromes sympathischen inneren Lebens, von welchem ihre Ideen und Antriebe getragen wurden. Sie trug kein Verlangen danach, sich Kenntnisse wie ein neues Kleid anzulegen, sie sich anzueignen außer Zusammenhang mit den Nerven und dem Blute, welche ihre Thatkraft belebten, und wenn sie ein Buch geschrieben hätte, so würde sie das nur, wie es die heilige Therese gethan, unter dem gebietenden Einflusse einer ihr Gewissen bindenden Autorität haben thun können. Aber wonach sie Verlangen trug, das war etwas, was ihr Leben mit einem zugleich verständigen und feurigen Handeln ausfüllen möchte, und da die Zeit leitender Visionen und geistlicher Führer vorüber war, da das Gebet wohl ihr Sehnen, aber nicht ihr Wissen steigerte, – wo anders sollte sie Erleuchtung suchen, als in Kenntnissen? Gewiß, konnten nur gelehrte Männer die Hüter des Lichtes sein, und wer war gelehrter als Casaubon!

So blieben während dieser kurzen Wochen Dorotheen's freudige und dankbare Erwartungen ungetrübt, und wenn auch ihren Geliebten bisweilen ein Gefühl der Leere überkam, so konnte er dieselbe doch niemals einer Abnahme ihres von Liebe getragenen Interesses Schuld geben.

Die Milde der Jahreszeit begünstigte den Plan, die Hochzeitsreise bis Rom auszudehnen, und Casaubon lag sehr an der Ausführung dieses Plans, weil er einige Manuskripte in der vatikanischen Bibliothek einzusehen wünschte.

»Ich bedaure noch immer, daß Deine Schwester uns nicht begleiten will,« sagte er eines Morgens zu Dorotheen, nachdem es sich kurz zuvor herausgestellt hatte, daß Celia keine Lust zu der Reise habe, und daß Dorothea ihre Begleitung gar nicht wünsche. »Du wirst viele einsame Stunden haben, Dorothea, denn ich werde genöthigt sein, so viel wie möglich von meiner Zeit für meine wissenschaftlichen Zwecke zu verwenden, und ich würde mich freier fühlen, wenn Du Gesellschaft hättest.«

Die Worte: »ich würde mich freier fühlen,« verletzten Dorothea. Zum ersten Male begegnete es ihr in einer Unterhaltung mit Casaubon, daß sie vor Verdruß erröthete.

»Du mußt mich ganz mißverstanden haben,« sagte sie, »wenn Du glaubst, ich würde den Werth Deiner Zeit nicht zu schätzen wissen, wenn Du glaubst, ich würde nicht gern auf Alles verzichten, was Deiner Benutzung derselben zu den besten Zwecken im Wege stehen könnte.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Dir, liebe Dorothea,« erwiderte Casaubon, dem es völlig entgangen war, daß er sie verletzt hatte; »aber wenn Du eine Dame zu Deiner Gesellschaft hättest, könnte ich Euch Beide unter die Obhut eines Cicerone stellen und wir würden so in derselben Zeit zwei Zwecke auf einmal erreichen können.«

»Bitte sprich nicht wieder davon,« sagte Dorothea in einem etwas hochfahrenden Tone. Aber alsbald fürchtete sie Unrecht gethan zu haben, und indem sie sich zu ihm wandte und ihre Hand auf die seinige legte, fügte sie in einem anderen Tone hinzu: »Bitte mache Dir um meinetwillen keine Sorge. Ich werde an so Vieles zu denken haben, wenn ich allein bin. Und Tantripp wird eine hinreichende Begleitung für mich sein, mich zu behüten. Ich könnte es nicht ertragen Celia bei mir zu haben, sie würde sich unglücklich fühlen.«

Es war Zeit, Toilette zum Mittagessen zu machen. Es wurde an diesem Tage auf Tipton-Hof eine Mittagsgesellschaft gegeben, die letzte von den Gesellschaften, welche als geeignete Vorläufer der Hochzeit erschienen, und Dorothea war froh, sich beim Ertönen der Mittagsglocke sofort entfernen zu können, wie wenn sie einer mehr als gewöhnlichen Vorbereitung bedurft hätte. Sie schämte sich, über etwas gereizt zu sein, was sie sich selbst nicht erklären konnte; denn obgleich ihr jede Unwahrheit fern lag, hatte doch ihre Antwort das in ihr erweckte Gefühl der Verletztheit unberührt gelassen. Casaubon's Worte waren ganz verständig gewesen, und doch hatte sie sich dabei der momentanen vagen Empfindung einer Entfremdung von seiner Seite nicht erwehren können.

»Ach gewiß, ich befinde mich in einem seltsam egoistischen, schwachen Gemüthszustande,« dachte sie bei sich. »Wie kann ich einen Mann haben, der so weit über mir steht, ohne mir bewußt zu sein, daß er meiner weniger bedarf, als ich seiner?«

Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß Casaubon völlig im Rechte sei, gewann sie ihren Gleichmuth wieder, und bot das angenehme Bild heiterer Würde dar, als sie in ihrem silbergrauen Kleide, ihr dunkelbraunes Haar ganz in Uebereinstimmung mit der Abwesenheit jeder Effekthascherei in ihrem Wesen und Ausdruck einfach gescheitelt und in einer dicken Flechte im Nacken aufgesteckt, den Salon betrat. Bisweilen schien, wenn Dorothea in Gesellschaft war, eine so völlige Ruhe über sie ausgegossen zu sein, als ob sie ein Bild der heiligen Barbara, wie sie von ihrem Thurme in den klaren Himmel schaut, gewesen wäre; aber diese Intervallen der Ruhe machten die Energie ihrer Sprache und ihres Ausdrucks nur um so frappanter, so oft sie sich durch einen von Außen kommenden Appell zu einer Aeußerung ihrer Gedanken aufgerufen fühlte.

Sie war natürlich an diesem Abende der Gegenstand vieler Beobachtungen, denn die Gesellschaft war groß und in ihren männlichen Bestandtheilen mannigfaltiger zusammengesetzt, als noch irgend eine seit der Rückkehr seiner Nichten von Herrn Brooke gegebene, so daß die Unterhaltung in mehr oder weniger unharmonischen Duetten und Terzetten vor sich ging. Da waren der neuerwählte Mayor von Middlemarch, ein Fabrikant; sein Schwager, ein philantropischer Banquier, der einen so entscheidenden Einfluß in der Stadt übte, daß Einige ihn einen Methodisten, Andere einen Heuchler nannten, je nach der ihnen zu Gebote stehenden Ausdrucksweise; da waren ferner verschiedene Künstler und Gelehrte.

Frau Cadwallader bemerkte, Brooke fange an die Middlemarcher zu fetiren, und sie ziehe die Gesellschaft der Pächter vor, welche bei dem Zehnten-Festmahl anspruchslos auf ihre Gesundheit tränken und sich des Mobiliars ihrer Großväter nicht schämten. Denn in jener Gegend des Landes fand, ehe die Reform so wesentlich auf die Entwicklung des politischen Bewußtseins gewirkt hatte, eine schärfere Abgrenzung der Stände und eine weniger scharfe Abgrenzung der Parteien statt, so daß die Einladung so verschiedenartig situirter Leute als ein Ausfluß jenes laxen Wesens des Herrn Brooke erschien, welches von seinen ungeordneten Reisen und seiner Aneignung zu vieler neuer Ideen herrührte.

Schon als Dorothea das Eßzimmer verließ, machten sich verschiedene über sie angestellte Beobachtungen in leisen Ausrufen Luft. »Eine stattliche Erscheinung, das, eine ungewöhnlich stattliche Erscheinung, bei Gott!« bemerkte Herr Standish, der alte Advokat, der seit langen Jahren in so vielfachen Verbindungen mit dem Landadel stand, daß er selbst etwas Landadliges bekommen hatte und sich daher dieses mit großem Applomb ausgerufenen »bei Gott« als des unzweideutigen Kennzeichens eines vornehmen Mannes bediente.

Die Worte schienen an Herrn Bulstrode, den Banquier, gerichtet zu sein; aber dieser Herr war kein Freund von rohen und profanen Ausdrücken und verneigte sich nur schweigend.

Ausgenommen aber wurde die Bemerkung von Herrn Chichely, einem als Jagdliebhaber bekannten Junggesellen von mittleren Jahren, mit einem Teint von der Farbe eines Osterei's und mit spärlichen Haaren, die er mit äußerster Sorgfalt frisirte, einem Manne, welcher in seinem ganzen Benehmen das stolze Bewußtsein seiner distinguirten Erscheinung zu erkennen gab.

»Ja,« sagte er, »aber nicht meine Schönheit. Ich liebe ein wenig mehr Coquetterie bei Frauen. Wir Männer sehen es gern, wenn die Frauen etwas Herausforderndes in ihrem Wesen haben. Je stürmischer sie attaquiren, desto besser.«

»Darin liegt etwas Wahres,« erwiderte Herr Standish, der zu einem munteren Gespräch aufgelegt war, »und bei Gott, das ist ja die Art der meisten Frauen und ich denke mir, das ist von der Vorsehung weise so eingerichtet, was Bulstrode?«

»Ich bin mehr geneigt weibliche Coquetterie auf eine andere Quelle zurückzuführen. Ich würde eher den Teufel als ihren Urheber betrachten.«

»Nun ja, ein Bischen Teufel im Leibe müssen die Weiber auch haben,« entgegnete Herr Chichely, dessen Studium des schönen Geschlechts seiner Rechtgläubigkeit verderblich geworden zu sein schien. »Und ich lobe mir die Blonden, mit einer gewissen Art sich zu bewegen und einem Schwanenhalse. Unter uns, meinem Geschmacke sagt die Mayors-Tochter mehr zu, als Fräulein Dorothea, und auch als Fräulein Celia. Wenn ich noch an's Heirathen dächte, so würde ich Fräulein Vincy den Vorzug vor beiden Schwestern geben.«

»O Sie können das Versäumte ja nachholen,« bemerkte Herr Standish in scherzendem Tone, »Sie sehen ja, die Männer in mittleren Jahren sind die Helden des Tages.«

Herr Chichely schüttelte bedeutungsvoll den Kopf. Er wollte die sichere Aussicht, von seiner Erwählten angenommen zu werden, doch lieber nicht auf die Probe stellen.

Das Fräulein Vincy, welches die Ehre hatte, von Herrn Chichely als Ideal erkoren zu sein, war natürlich nicht da; denn Herr Brooke, der sich in Acht nahm, nicht zu weit zu gehen, wünschte nicht, daß seine Nichten mit der Tochter eines Fabrikanten anders als bei öffentlichen Gelegenheiten zusammen kämen. Unter den weiblichen Mitgliedern der Gesellschaft befand sich keines, an dessen Anwesenheit Lady Chettam oder Frau Cadwallader hätten Anstoß nehmen können, denn die Wittwe des Oberst Renfrew, war nicht nur von untadeliger Abkunft, sondern auch interessant durch ihr körperliches Leiden, welches die Verzweiflung der Aerzte war und einen Fall bildete, in welchem man, wie die Damen überzeugt waren, genöthigt sein würde, trotz aller zu Gebote stehenden medicinischen Gelehrsamkeit, doch zur Quacksalberei seine Zuflucht zu nehmen. Lady Chettam, welche ihre sehr gute Gesundheit dem reichlichen Genusse selbstfabricirter »Bitterer« in Verbindung mit beständiger ärztlicher Pflege zuschrieb, ging mit dem ganzen Aufgebot ihrer Einbildungskraft auf Frau Renfrew's Bericht über die Symptome ihres Leidens und die erstaunliche Unwirksamkeit aller stärkenden Arzneien in ihrem Falle ein.

»Wo mögen nur die stärkenden Ingredienzien all der Arzeneien bleiben, meine Liebe?« fragte die milde, aber majestätische alte Dame nachdenklich Frau Cadwallader, als Frau Renfrew's Aufmerksamkeit von diesem Gespräche abgelenkt wurde.

»Sie stärken die Krankheit,« erwiderte die Frau Pfarrerin, die von viel zu guter Herkunft war, um nicht eine Dilettantin der Heilkunde zu sein. »Alles hängt von der Constitution des Menschen ab, bei einigen Menschen wird alles zu Fett, bei andern zu Blut, und bei wieder andern zu Galle. Das ist meine Ansicht von der Sache, und was sie auch einnehmen mögen, giebt ihrer körperlichen Tendenz neue Nahrung.«

»Da müßte sie also, wenn Sie Recht haben, meine Liebe, reducirende Medicin nehmen, eine Medicin, welche die Krankheit reducirt, wissen Sie. Und ich glaube, was Sie sagen, ist verständig.«

»Gewiß ist es das. Auf demselben Felde ziehen Sie zwei verschiedene Sorten Kartoffeln. Die eine wird immer wässeriger –«

»Ah, wie die arme Frau Renfrew, das glaube ich auch. Wassersucht! Geschwulst ist noch nicht sichtbar, es ist bis jetzt nur erst innerlich. Ich sollte denken, sie müßte trocknende Arznei nehmen, meinen Sie nicht auch? – Oder ein trockenes heißes Luftbad. Es giebt vielerlei Mittel von trocknender Natur, die man versuchen könnte.«

»Sie sollte es mit den Flugschriften eines gewissen Herrn versuchen,« sagte Frau Cadwallader leise, als sie die Herren eintreten sah. »Der bedarf keiner Austrocknung.«

»Wen meinen Sie?« fragte Lady Chettam, eine charmante Frau, deren Auffassung aber nicht rasch genug war, um das Vergnügen einer Erklärung für sie überflüssig zu machen.

»Ich meine den Bräutigam – Casaubon. Seit seiner Verlobung ist seine Austrocknung noch rascher vor sich gegangen, das thut gewiß das Feuer der Leidenschaft.«

»Mir scheint, der Mann hat nicht die beste Gesundheit,« sagte Lady Chettam noch leiser. »Und dabei hat er ein so trocknes Studium, wie Sie sagen.«

»Neben Sir James sieht er wahrhaftig aus, wie ein für die Gelegenheit mit Haut überzogener Todtenkopf. Merken Sie auf meine Worte, ich sage Ihnen, heute übers Jahr wird das Mädchen ihn hassen. Jetzt blickt sie zu ihm auf, wie zu einem Orakel, aber bei Kleinem wird sie in's entgegengesetzte Extrem verfallen. Es ist Alles Faselei!«

»Welche traurige Aussicht, ich fürchte, sie ist halsstarrig. Aber sagen Sie mir, Sie kennen ihn ja genau, hat er wirklich sehr schlimme Eigenschaften? Sagen Sie mir die Wahrheit?«

»Die Wahrheit? Er ist so schlimm, wie verkehrte Medicin, er schmeckt schlecht, und bekommt Einem schlecht.«

»Etwas Schlimmeres könnte es gar nicht geben,« sagte Lady Chettam, welcher der Vergleich mit der Medicin so sehr einleuchtete, daß sie eine genaue Auskunft über die schlechten Seiten Casaubon's erhalten zu haben glaubte. »Aber auf Fräulein Brooke will James nichts kommen lassen. Er sagt, sie sei für ihn noch immer das Muster eines Mädchens.«

»Das ist eine edle Täuschung von ihm. Verlassen Sie sich darauf, ihm gefällt die kleine Celia besser, und sie weiß ihn zu würdigen. Ich hoffe, meine kleine Celia gefällt Ihnen auch.«

»Gewiß; sie macht sich mehr aus Geraniums und scheint gelehriger, wenn sie auch keine so stattliche Erscheinung ist. Aber wir sprachen von Arznei, erzählen Sie mir doch etwas von dem neuen jungen Arzte, Herrn Lydgate. Ich höre, er ist außerordentlich talentvoll und er sieht danach aus, er hat eine sehr schöne Stirn.«

»Er ist ein Gentleman. Ich habe ihn mit Humphrey sprechen gehört. Er spricht gut.«

»Ja, Herr Brooke sagt, er gehört zu den Lydgates von Northumberland, einer sehr guten Familie. Man erwartet das gar nicht, bei einem Professionisten dieser Art. Ich meinestheils ziehe die Aerzte vor, die auf einer Linie mit Dienstboten stehen; sie sind oft nur um so geschickter. Ich versichere Sie, ich habe das Urtheil des armen Hicks' unfehlbar gefunden; ich habe ihn nie auf einem Irrthume ertappt. Er war ordinär und hatte Manieren, wie ein Schlächter, aber er kannte meine Constitution. Sein plötzlicher Tod war ein großer Verlust für mich. Sehen Sie doch einmal, in welcher lebhaften Unterhaltung Fräulein Brooke mit diesem Herrn Lydgate begriffen ist.«

»Sie spricht mit ihm von Arbeiterwohnungen und Hospitälern,« sagte Frau Cadwallader, deren Ohren eben so scharf waren wie ihre Fassungskraft rasch. »Ich glaube, er ist eine Art Philanthrop, da ist er natürlich etwas für Brooke.«

»James,« sagte Lady Chettam zu ihrem Sohne, als er an sie herantrat, »bringe mir doch einmal Herrn Lydgate her, und stelle mir ihn vor, ich möchte sehen was an ihm ist.«

Die herablassende alte Dame erklärte dem ihr vorgestellten jungen Arzte, sie sei entzückt über diese Gelegenheit seine Bekanntschaft zu machen, da sie von seinen Erfolgen mit einer neuen Methode Fieber zu heilen gehört habe. Herr Lydgate hatte die ausgezeichnete ärztliche Eigenschaft, immer ernst auszusehn, auch wenn er den größten Unsinn mit anhören mußte, und seine dunklen ruhigen Augen trugen noch mehr dazu bei, den Eindruck hervorzubringen, daß er sehr gut zuzuhören wisse. Er war dem tiefbetrauerten Hicks so unähnlich wie möglich, namentlich in einer gewissen natürlichen Eleganz seiner Toilette und seiner Aussprache. Gleichwohl faßte Lady Chettam Vertrauen zu ihm. Er bestärkte sie in ihrer Ansicht über ihre Constitution, indem er dieselbe, wenn man auch alle Constitutionen eigenthümlich nennen dürfe, als besonders eigenthümlich bezeichnete. Er war weder für ein zu schwächendes System, ein zu häufiges Schröpfen mit einbegriffen, noch auch andererseits für zu häufige Anwendung von Portwein und Chinin. Er wußte die Worte: »Ich glaube wohl« mit einer so eindrucksvollen Miene ergebener Zustimmung auszusprechen, daß Lady Chettam die beste Meinung von seiner Geschicklichkeit gewann.

»Ihr Protégé gefällt mir sehr gut,« sagte sie beim Fortgehen zu Herrn Brooke.

»Mein Protégé? – Du lieber Himmel, wer ist denn das,« fragte Brooke.

»Der junge Lydgate, der neue Doctor. Er scheint mir sein Geschäft vortrefflich zu verstehn.«

»O, Lydgate! Der ist nicht mein Protégé, wissen Sie; ich habe nur einen Onkel von ihm gekannt, der mir seinetwegen geschrieben hat. Indessen glaube ich wohl, daß er etwas Vorzügliches ist, – er hat in Paris studirt, hat Broussais gekannt, und hat Ideen, wissen Sie – er möchte seinen Beruf heben.« –

»Lydgate hat eine Menge von ganz neuen Ideen über Ventilation und Diät, und was dahin gehört,« nahm Herr Brooke wieder auf, nachdem er Lady Chettam an den Wagen geführt hatte, und nun an eine Gruppe von Middlemarchern herangetreten war.

»Hol's der Henker, halten Sie etwas davon, wenn einer die alte Lebensweise über den Haufen werfen will, welche die Engländer zu dem gemacht hat, was sie sind?« fragte Herr Standish.

»Aerztliches Wissen ist bei uns noch sehr dürftig vertreten,« bemerkte Herr Bulstrode, der leise sprach und kränklich aussah. »Ich meinestheils begrüße die Ankunft des Herrn Lydgate freudig. Ich hoffe, er wird sich so bewähren, daß ich ihm das neue Hospital anvertrauen kann.«

»Das ist Alles sehr schön,« entgegnete Herr Standish, welcher Herrn Bulstrode nicht mochte; »wenn Sie ihn Experimente an Ihren Hospitalkranken machen und ein paar Leute unentgeldlich umbringen lassen wollen, so habe ich nichts dagegen. Aber ich werde wahrhaftig kein Geld ausgeben, um an mir experimentiren zu lassen. Ich lobe mir eine Behandlung, welche schon ein Bischen erprobt ist.«

»Nun Sie wissen, Standish, jede Dosis Medizin, die Sie einnehmen, ist ein Experiment – ein Experiment, wissen Sie!« sagte Herr Brooke, indem er dem Advocaten zunickte.

»O, wenn Sie es so verstehen!« sagte Herr Standish mit einem so unzweideutigen Ausdruck des Widerwillens gegen eine andere als eine juristische Wortklauberei, wie ihn ein Advocat einem werthvollen Clienten gegenüber nur irgend zu erkennen geben kann.

»Ich würde mir jede Behandlung gern gefallen lassen, die mich heilen würde, ohne mich zu einem Skelett zu machen, wie den armen Grainger,« bemerkte Herr Vincy, der Mayor, ein Mann von blühendem Aussehn, welcher, im schärfsten Contrast zu den Francia'schen Tinten Im englischen Original: » Franciscan tints«, ›franziskanisch‹, also mönchisch-abgezehrte Hautfarbe. – Anm.d.Hrsg. des Herrn Bulstrode, als eine Studie für die Darstellung üppigen Fleisches hätte dienen können. »Es ist, wie Jemand bemerkt hat, ein außerordentlich gefährliches Ding, den Pfeilen der Krankheit gar keine Auspolsterung entgegen setzen zu können, und mir scheint der Ausdruck sehr treffend.«

Es versteht sich von selbst, daß Herr Lydgate dieses Gespräch nicht mit anhörte. Er hatte die Gesellschaft schon zeitig verlassen, und würde dieselbe höchst langweilig gefunden haben, hätten ihn nicht einige neue Bekanntschaften, namentlich die von Fräulein Brooke interessirt, deren jugendlich blühendes Wesen, in Verbindung mit ihrer bevorstehenden Heirath mit jenem bleichen Gelehrten, und ihrem Interesse für sociale Fragen, ihr den Reiz einer ungewöhnlichen Erscheinung verliehen.

»Ein herzensgutes Wesen, dieses schöne Mädchen aber ein Bischen zu ernsthaft,« dachte er. »Es ist mühsam, sich mit solchen Frauen zu unterhalten. Sie verlangen immer Gründe; sind aber doch zu unwissend, die wahre Bedeutung irgend einer Frage zu verstehen, und verfallen in der Regel immer wieder in ihre angeborene Neigung, sich die Dinge zurecht zu legen, wie es ihnen zusagt.«

Offenbar war Fräulein Brooke's so wenig für Herrn Lydgate, wie für Herrn Chichely, die Art von Mädchen, die ihm gefiel. Allerdings war sie auch, wenn man sie vom Standpunkte eines so gereiften Geistes, wie Herr Chichely es war, aus betrachtete, ein völliger Mißgriff der Natur, welcher ihn in seinem Vertrauen auf die Zwecke der Vorsehung, zu welchen doch auch die Bestimmung hübscher junger Mädchen für lebenslustige Junggesellen gehörte, wohl irre machen konnte.

Aber Lydgate war noch nicht so gereift, und konnte möglicherweise noch Erfahrungen im Leben machen, welche seine Ansichten über das, was an einer Frau vor Allem zu schätzen sei, modificiren könnten. –

Indessen sollte Fräulein Brooke keinen dieser beiden Herren als Mädchen wieder begegnen. Nicht lange nach dieser Mittagsgesellschaft war sie Frau Casaubon geworden, und hatte alsbald ihre Reise nach Rom angetreten.



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