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Viertes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 4:

1st Gent. Our deeds are fetters that we forge ourselves.
2nd Gent. Ay, truly: but I think it is the world
                That brings the iron.


Sir James scheint entschlossen, Alles zu thun, was Du wünschest,« sagte Celia zu Dorotheen, als sie von einer Besichtigung des neuen Baugrundes nach Hause fuhren.

»Er ist ein guter Mensch und verständiger, als man es ihm zutrauen würde,« erwiderte Dorothea unbedachterweise.

»Du findest also, daß er den Eindruck eines dummen Menschen macht.«

»O nein,« entgegnete Dorothea, indem sie der Unvorsichtigkeit ihrer Aeußerung inne wurde und Celia's Hand einen Augenblick mit der ihrigen bedeckte, »er spricht nur nicht über alle Dinge gleich gut.«

»Das thun auch, glaube ich, nur unangenehme Menschen,« sagte Celia in ihrer gewöhnlichen schnurrenden Weise. »Es muß schrecklich sein, mit solchen Menschen zu leben, denke doch nur, vom frühen Morgen bis zum späten Abend gut reden hören!«

Dorothea lachte. »O, Kitty, Du bist einzig!« Dabei kniff sie Celia in's Kinn und war ganz in der Stimmung, sie höchst anmuthig und liebenswürdig zu finden, zu denken, daß sie recht dazu gemacht sei, dereinst im Himmel ein Cherub zu sein, und wenn es nicht unchristlich gewesen wäre, einer solchen Vorstellung Raum zu geben, daß sie der Erlösung kaum bedürftiger erscheine als ein Eichhörnchen. »Natürlich brauchen Menschen nicht immer gut zu sprechen. Nur schließt man aus der Art, wie ihnen der Versuch, gut zu reden, gelingt, auf ihren geistigen Werth.«

»Du willst damit sagen, daß Sir James seine Versuche, gut zu reden, mißlingen.«

»Ich rede ganz im Allgemeinen. Warum catechisirst Du mich über Sir James? Es ist ja nicht seine Lebensaufgabe, mir zu gefallen.«

»O, Dora, glaubst Du das wirklich?«

»Gewiß. Er sieht mich wie eine künftige Schwester an, das ist Alles.«

Dorothea hatte diese ihre Auffassung bisher nie gegen Celia auch nur angedeutet; sie wollte, aus einer gewissen Scheu, solche Dinge zu besprechen, damit warten, bis irgend ein entscheidendes Ereigniß die Veranlassung dazu böte.

Celia erröthete, erwiderte aber sofort:

»Ich bitte Dich, Dora, gieb Dich dieser Täuschung nicht länger hin. Tantripp erzählte mir neulich beim Frisiren, Sir James' Diener wisse von Frau Cadwallader's Dienstmädchen, daß Sir James das älteste Fräulein Brooke heirathen werde.«

»Wie kannst Du Dir von Tantripp solches Zeug vorschwatzen lassen, Celia?« rief Dorothea entrüstet und nicht weniger erzürnt, weil Celia's Mittheilung in ihrem Gedächtniß schlummernde Erinnerungen geweckt hatte, welche die Wahrheit der unwillkommenen Enthüllung bestätigten. »Du mußt ihr ja geradezu Fragen gethan haben. Wie kann man sich so wegwerfen!«

»Ich kann nichts Schlimmes darin finden, daß Tantripp mir so etwas erzählt. Ich halte es für richtiger, anzuhören, was die Leute sagen. Du siehst, zu welchen Mißverständnissen Deine Ideen Dich verleiten. Ich bin fest überzeugt, daß Sir James Dir einen Antrag zu machen beabsichtigt und glaubt, daß Du ihn annehmen wirst, namentlich seit er sich Dir durch sein Interesse für Deine Pläne so angenehm gemacht hat. Und Onkel glaubt es auch, das weiß ich gewiß. Jeder Mensch kann ja sehen, daß Sir James in Dich verliebt ist.«

Diese Worte berührten Dorothea so schmerzlich, daß ihre Empfindungen sich in einem reichlichen Thränenstrom Luft machten. Der Gedanke an ihre Pläne, die ihr so sehr am Herzen lagen, war ihr jetzt verleidet, und es erfüllte sie mit Widerwillen, wenn sie sich vorstellte, daß Sir James glaube, sie erkenne ihn als Bewerber um ihre Hand an. Auch über Celia war sie angehalten.

»Wie kann er das glauben,« rief sie in ihrem ungestümsten Tone. »Ich habe mich nie über irgend etwas außer über die Arbeiterwohnungen mit ihm einverstanden erklärt; ich war bis dahin kaum höflich gegen ihn.«

»Aber seitdem hast Du Dich so beifällig über ihn geäußert, daß er angefangen hat, fest zu glauben, daß Du ihn liebst.«

»Ihn lieben, Celia! Wie kannst Du nur einen so widerwärtigen Ausdruck gebrauchen?« rief Dorothea leidenschaftlich aus.

»Mein Gott, Dorothea, mich dünkt, es wäre nur in der Ordnung, wenn Du den Mann, den Du heirathen wirst, liebtest.«

»Es beleidigt mich, wenn Du sagst, Sir James könne glauben, ich liebe ihn. Ueberdies aber ist es nicht der richtige Ausdruck für die Gefühle, die ich für den Mann haben muß, dem ich meine Hand reichen möchte.«

»Nun, das thut mir leid für Sir James. Ich hielt es für richtig, Dir die Sache mitzutheilen, weil Du wie immer unbekümmert um Alles, was um Dich her vorgeht, Deines Weges gingst. Du siehst immer nur Dinge, die kein Anderer sieht; es ist unmöglich, Dich von etwas zu überzeugen, und doch siehst Du nie, was für Andere ganz klar ist. Das ist Deine Art und Weise, Dora.«

Es mußte wohl seine Gründe haben, daß Celia einen so ungewöhnlichen Muth entwickelte, und daß sie die Schwester, vor der sie bisweilen eine ehrfurchtsvolle Scheu hatte, bei dieser Gelegenheit so wenig schonte.

»Es ist sehr schmerzlich für mich,« sagte Dorothea, der zu Muthe war, als würde sie gegeißelt. »Ich kann nun mit den Arbeiterwohnungen nichts mehr zu thun haben; ich muß unhöflich gegen ihn sein; ich muß ihm sagen, daß ich nichts mehr mit den Wohnungen zu thun haben will. Es ist sehr schmerzlich für mich.«

Ihre Augen füllten sich wieder mit Thränen.

»Warte doch ein Wenig. Ueberlege Dir die Sache doch erst. Du weißt, er verreist auf ein paar Tage, um eine Schwester zu besuchen. Außer Lovegood wird Niemand auf dem Bauplatze sein.«

Celia konnte sich einer weicheren Stimmung nicht erwehren.

»Arme Dora,« fuhr sie freundlich in ihrer gemessenen Weise fort. »Es ist sehr hart für Dich; das Plänezeichnen ist ja Dein Steckenpferd.«

»Mein Steckenpferd? Denkst Du, ich interessire mich nur in einer so kindischen Weise für die Wohnungen meiner Nebenmenschen? Da ist es kein Wunder, wenn ich oft fehl gehe! Wer kann wol je ein edles christliches Werk vollbringen, wenn er unter Menschen lebt, die so kleinlich denken!«

Beide sagten nichts weiter. Dorothea fühlte sich zu tief verletzt, um ihre Fassung wieder zu gewinnen und durch ihr Benehmen zu erkennen zu geben, daß sie sich irgend eines Irrthums schuldig bekenne. Sie war vielmehr geneigt, die unerträgliche Beschränktheit und das stumpfe Gewissen der sie umgebenden Gesellschaft anzuklagen; und Celia war kein Cherub mehr, sondern ein Dorn in ihrer Seele, eine unschuldig aussehende Treulose, welche der Pilgerin auf ihrem Wege hemmender entgegentrat, als ein noch so entmuthigender Begleiter. Das Zeichnen von Plänen zu Arbeiterwohnungen ein Steckenpferd! Was war das Leben werth, wie war eine große Ueberzeugung möglich, wenn ihre Handlungen im Lichte eines so elenden Zeitvertreibs betrachtet werden konnten?

Als sie aus dem Wagen stieg, waren ihre Wangen bleich und ihre Augenlider geröthet. Sie war ein Bild des Kummers, und ihr Onkel, der ihr in der Vorhalle entgegen kam, würde durch ihr Aussehen beunruhigt worden sein, wenn nicht die neben ihr stehende Celia so frisch und munter ausgesehen hätte, daß er sofort schloß, Dorotheen's Thränen müßten ihren Grund in ihrer religiösen Excentricität haben. Er war während ihrer Abwesenheit von einer Reise nach dem Hauptort der Grafschaft, wohin er wegen Berathung einer Petition um die Begnadigung eines Verbrechers berufen worden war, zurückgekehrt.

»Nun, liebe Kinder,« sagte er freundlich, als sie auf ihn zukamen, um ihn zu umarmen, »ich hoffe, es ist nichts Unangenehmes in meiner Abwesenheit vorgefallen.«

»Nein, Onkel, wir sind nach Freshitt gewesen, um uns die Arbeiterwohnungen anzusehen. Wir dachten, Du würdest schon zum zweiten Frühstück zurückkehren.«

»Ich habe meinen Weg über Lowick genommen, um dort zu frühstücken, – ihr wußtet nicht, daß ich über Lowick kommen würde. Und ich habe ein paar Flugschriften für Dich mitgebracht, Dorothea – in der Bibliothek weißt Du; sie liegen auf dem Tische in der Bibliothek.«

Es schien, als ob ein electrischer Strom Dorothea durchführe und sie aus einem Zustand der Verzweiflung zu hoffnungsvoller Erwartung emporschnelle. Es waren Flugschriften über die Kirche in der Zeit ihrer Entstehung. Aller Verdruß, den sie über Celia, Tantripp und Sir James empfunden hatte, war vergessen, und sie ging ohne Weiteres in die Bibliothek. Celia ging hinauf. Herr Brooke wurde noch durch eine Botschaft zurückgehalten; als er aber wieder in die Bibliothek trat, fand er Dorothea dort sitzend und schon in die Lectüre einer der Broschüren vertieft, welche mit einigen Randbemerkungen von Herrn Casaubon's Hand versehen war und deren Inhalt sie so begierig in sich aufnahm, wie sie den Duft eines frischen Blumenstraußes nach einem ermüdenden Gange an einem heißen Sommertage eingesogen haben würde.

Sie fühlte sich weit emporgehoben über Tipton und Freshitt und über ihre betrübende Geneigtheit, auf ihrem Wege nach dem neuen Jerusalem falsche Bahnen zu wandeln.

Herr Brooke setzte sich in seinen Lehnstuhl, streckte seine Beine nach dem Holzfeuer hin aus, das in eine wunderliche Masse glühender Würfel zusammengesunken war, rieb sich sanft die Hände und betrachtete Dorothea mit sehr freundlichen Blicken, aber mit einer indifferenten müßigen Miene, als ob er nichts besonderes zu sagen habe. Dorothea legte ihre Broschüre bei Seite, sobald sie die Gegenwart ihres Onkels gewahr wurde, und stand auf, wie um fort zu gehen. Zu anderen Zeiten würde sie sich für die Mission ihres Onkels und für die Begnadigung eines Verbrechers interessirt haben, aber ihre eben erlebte Aufregung hatte sie jedem Gedanken an die Gegenwart entrückt.

»Ich bin über Lowick zurückgekommen, weißt Du,« sagte Herr Brooke, nicht wie um Dorothea zurückzuhalten, sondern allem Anscheine nach nur seiner Gewohnheit gemäß, das, was er schon einmal gesagt hatte, zu wiederholen. Dieses Fundamentalprincip menschlicher Redeweise trat bei Herrn Brooke in besonders auffallender Weise hervor. »Ich habe dort gefrühstückt und habe Casaubon's Bibliothek und was dazu gehört gesehen. Die Luft ist scharf, wenn man fährt. Willst Du Dich nicht setzen, liebes Kind, Du siehst aus, als ob Dich friere.«

Dorothea fühlte sich ganz geneigt, dieser Aufforderung zu entsprechen. Bisweilen hatte die nachlässig bequeme Art ihres Onkels, über Dinge zu reden, wenn sie sie nicht grade ungeduldig machte, etwas beschwichtigendes für sie. Sie legte ihren Hut und ihren Mantel ab, setzte sich ihrem Onkel gegenüber und hielt die Hände erhoben, um sich gegen die Gluth des Feuers, die sie übrigens angenehm empfand, zu schützen. Diese Hände waren weder dünn noch klein, sondern von einer Gestalt, die man bedeutend und echt weiblich nennen kann.

Jetzt fiel ihr wieder der verurtheilte Verbrecher ein.

»Was bringst Du für Nachrichten über den Lämmerdieb, Onkel?«

»Wie, über den armen Bunch? nun es scheinst, wir werden ihn nicht losbekommen, er wird gehängt werden.«

Dorotheen's Augenbrauen zogen sich in einer Weise zusammen, welche Mißbilligung und Mitleid zugleich ausdrückte.

»Gehängt, weißt Du,« wiederholte Herr Brooke mit einem ruhigen Kopfnicken. »Der arme Romilly! Der würde uns geholfen haben. Ich habe Romilly gekannt. Casaubon hat Romilly nicht gekannt. Er ist ein wenig in Büchern vergraben, weißt Du, ich meine Casaubon.«

»Wenn ein Mann mit großen Studien beschäftigt ist und ein großes Werk schreibt, muß er natürlich darauf verzichten, viel von der Welt zu sehen. Wo soll er die Zeit hernehmen, in die Welt zu gehen und Bekanntschaften zu machen?«

»Das ist wahr. Aber ein Mann wird einseitig, weißt Du. Ich bin auch immer ein Junggeselle gewesen, aber ich bin so angelegt, daß ich nie einseitig geworden bin; es war immer meine Art, überall hinzugehen und Alles in mich aufzunehmen. Das hat mich davor geschützt, einseitig zu werden, aber ich kann sehen, daß Casaubon es wird, weißt Du. Er bedarf des Gefährten, weißt Du.«

»Es würde für Jeden eine große Ehre sein, sein Gefährte zu werden,« bemerkte Dorothea emphatisch.

»Du hast ihn gern, wie?« fragte Herr Brooke, ohne eine Spur von Ueberraschung oder einer anderen Gemüthsbewegung zu verrathen. »Nun, ich kenne Casaubon jetzt schon zehn Jahre, seit er nach Lowick gekommen ist. Aber ich habe nie etwas aus ihm herausbekommen können, irgend eine Idee, weißt Du. Indessen ist er doch ein ausgezeichneter Mann und kann noch einmal Bischof werden oder so etwas, weißt Du, wenn Peel am Ruder bleibt. Und er hat eine sehr hohe Meinung von Dir, liebes Kind.«

Dorothea vermochte nicht zu reden.

»In der That hat er eine sehr hohe Meinung von Dir, und er spricht ungewöhnlich gut, – das thut er, Casaubon. Er hat sich an mich gewandt, weil Du noch nicht volljährig bist. Kurz ich habe ihm versprochen, mit Dir zu reden, wiewohl ich ihm nicht viel Hoffnung. machen zu dürfen glaubte. Ich hielt mich für verpflichtet, ihm das zu sagen. Ich sagte ihm: ›Meine Nichte ist sehr jung‹, und so dergleichen; aber ich hielt es nicht für nothwendig, auf Alles einzugehen. Indessen hat er mich um Erlaubniß gebeten, Dir einen Heirathsantrag machen zu dürfen, einen Heirathsantrag, weißt Du,« bemerkte Herr Brooke mit seinem erläuternden Kopfnicken. »Ich habe es für richtig gehalten, Dir das mitzutheilen, liebes Kind.«

Niemand hätte in der Art und Weise, wie Herr Brooke sprach, eine Spur von Präoccupation entdecken können, und doch wünschte er wirklich etwas über die Stimmung seiner Nichte zu erfahren, um ihr, wenn sie seines Rathes bedürfen sollte, denselben zeitig ertheilen zu können. Seine Gefühle in dieser Angelegenheit, soweit er in seinem von amtlichen Sorgen erfüllten Herzen überall dafür Raum hatte, waren durchaus freundlich.

Da Dorothea nicht sogleich antwortete, wiederholte er: »ich habe es für richtig gehalten, Dir das mitzutheilen, liebes Kind.«

»Ich danke Dir, lieber Onkel,« sagte Dorothea jetzt in einem klaren festen Tone. »Ich bin Herrn Casaubon sehr dankbar; wenn er mir einen Antrag macht, so werde ich ihn annehmen. Ich bewundere und ehre ihn mehr als irgend einen anderen Mann, den ich kenne.«

Herr Brooke hielt einen Augenblick inne und sagte dann in einem zaudernden leisen Tone: »Ah! – Schön! – Es ist in mancher Beziehung eine gute Partie. Aber Chettam ist auch eine gute Partie, und unsere Güter stoßen an einander. Ich werde mich niemals Deinen Wünschen widersetzen, liebes Kind. Beim Heirathen und dergleichen soll man den Menschen, bis zu einem gewissen Punkte, weißt Du, ihren freien Willen lassen. Das habe ich immer gesagt, bis zu einem gewissen Punkte. Ich wünsche, daß Du Dich gut verheirathest, und ich habe gute Gründe, zu glauben, daß Chettam Dich heirathen möchte. Ich erwähne das nur, weißt Du.«

»Ich werde Sir James Chettam nie heirathen,« erwiderte Dorothea. »Wenn er daran denkt, mich zu heirathen, so ist er in einer großen Täuschung befangen.«

»So geht es, siehst Du,« erwiderte Herr Brooke. »Man weiß nie, woran man ist. Ich würde nun geglaubt haben, Chettam wäre grade der Mann, der den Frauen gefallen müßte – hätte ich geglaubt.«

»Bitte, Onkel, sprich nicht wieder von ihm in dieser Beziehung,« sagte Dorothea, in welcher etwas von ihrem eben überwundenen Verdruß wieder auftauchte.

Herr Brooke war erstaunt und mußte sich sagen, daß Frauen ein unerschöpflicher Gegenstand des Studiums seien, da selbst er trotz seines Alters es nicht zu einer vollkommenen Sicherheit des Urtheils über weibliche Charaktere gebracht habe.

»Gut, aber nun Casaubon. Die Sache hat keine Eile, ich meine für Dich. Bei ihm fällt freilich jedes Jahr in's Gewicht; er ist über 45, weißt Du, ich glaube, gut 27 Jahre älter als Du. Gewiß, wenn Du Deine Freude an Gelehrsamkeit und einer geistlichen Würde und dergleichen Dingen hast, – man kann ja nicht Alles haben. Und er hat eine schöne Einnahme, – er hat ein hübsches Vermögen neben seinem Gehalt – er hat eine schöne Einnahme! Aber er ist nicht jung, und ich darf Dir nicht verhehlen, liebes Kind, daß ich seine Gesundheit für nicht sehr kräftig halte. Sonst weiß ich nichts gegen ihn.«

»Ich würde gar nicht wünschen, einen Mann von ungefähr gleichem Alter mit mir zu heirathen,« entgegnete Dorothea in einem feierlich entschiedenen Tone. »Ich würde wünschen, daß mein Mann mir im Urtheil und in jeder Art von Wissen überlegen wäre.«

Herr Brooke wiederholte sein ergebenes Ah. – »Ich hatte geglaubt, Du hättest mehr als die meisten Mädchen Deine eigenen Ansichten. Ich hatte geglaubt, Du hieltest etwas auf Deine eigenen Ansichten, – hieltest etwas auf sie, weißt Du.«

»Ich könnte mir kein Leben ohne eigene Ansichten vorstellen, aber ich möchte sie mit guten Gründen unterstützen können, und ein weiser Mann würde mich erkennen lehren, welche Ansichten die bestbegründeten sind, und würde mir helfen, diesen Ansichten gemäß zu leben.«

»Seht wahr. Du hättest Deinen Standpunkt nicht klarer darlegen können, – nicht klarer, weißt Du. Aber die Dinge gestalten sich bisweilen sonderbar,« fuhr Herr Brooke fort, der sich wirklich in seinem Gewissen gedrungen fühlte, des Beste seiner Nichte bei dieser Gelegenheit nach Kräften wahrzunehmen. »Das Leben ist nicht im Voraus in eine bestimmte Form gegossen, nicht mit Lineal und Zirkel abgemessen, und so dergleichen. Ich selbst war nie verheirathet, und das wird Dir und den Deinigen nur zum Vortheil gereichen. Die Sache ist die, daß ich nie in ein Mädchen verliebt genug war, um mich um ihretwillen in's Ehejoch zu begeben. Jeder Mensch hat sein Temperament, man muß das Temperament in Betracht ziehen, und ein Ehemann will gern der Herr sein.«

»Ich bin darauf gefaßt, Prüfungen zu bestehen. Die Ehe ist ein Verhältniß, in welchem unser höhere Pflichten warten. Ich habe nie aus dem Gesichtspunkte rein persönlicher Annehmlichkeit an die Ehe gedacht,« sagte die arme Dorothea.

»Nun, Du bist keine Freundin von glänzendem Leben, einem großen Hause, Bällen, Mittagsgesellschaften und dergleichen. Ich begreife, daß Casaubon's Art zu sein und zu leben Dir besser zusagt als die Chettam's, und Du sollst ganz nach Deinem freien Willen handeln. Ich möchte Casaubon nicht im Wege sein, das habe ich gleich gesagt, denn man kann nie vorher wissen, wie die Dinge sich gestalten. Du hast andere Neigungen als die meisten jungen Mädchen, und ein Geistlicher und Gelehrter, der noch einmal Bischof und dergleichen werden kann, mag daher passender für Dich sein als Chettam. Chettam ist ein guter Mensch, ein guter treuer Mensch, weißt Du, aber er hat nicht viel Sinn für Ideen. Ich war darin in seinen Jahren anders. Nun kommen aber noch Casaubon's Augen, ich fürchte, er hat sie durch zu vieles Studiren ein wenig angegriffen.«

»Je mehr ich Gelegenheit hätte, ihm zu helfen, desto glücklicher würde ich mich schätzen,« sagte Dorothea feurig.

»Du bist also ganz entschlossen, wie ich sehe. Nun also, mein liebes, Kind, ich habe einen Brief für Dich in der Tasche.« Herr Brooke händigte Dorothea den Brief ein, fügte aber, als sie aufstand, um fortzugehen, noch hinzu: »Die Sache hat keine große Eile, liebes Kind. Ueberlege es Dir, weißt Du.«

Als Dorothea ihn verlassen hatte, dünkte ihn, er habe eine sehr entschiedene Sprache geführt. Er hatte Dorotheen die Gefahr des Heirathens sehr deutlich vor die Augen geführt. Das war seine Pflicht gewesen. Aber sich anmaßen wollen, junge Leute berathen zu können, das fiel ihm nicht ein. Kein Onkel, und wäre er auch in seiner Jugend noch so viel gereist, und hätte er noch so viel neue Ideen in sich aufgenommen, und noch so viel mit jetzt verstorbenen Berühmtheiten zu Mittag gegessen, durfte sich ein Urtheil darüber anmaßen, welche Art von Ehe für ein junges Mädchen gut ausfallen würde, das einen » Casaubon« einem »Chettam« vorzog. Kurz, das Weib war ein Räthsel, dessen Lösung, da selbst Herr Brooke an derselben verzweifelte, kaum weniger schwierig erschien als die verwickeltste astronomische Berechnung.



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