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Fünfzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 15:

Black eyes you have left, you say,
Blue eyes fail to draw you;
Yet you seem more rapt today,
Than of old we saw you.
Oh, I track the fairest fair
Through new haunts of pleasure;
Footprints here and echoes there
Guide me to my treasure:
Lo! she turns – immortal youth
Wrought to mortal stature,
Fresh as starlight's aged truth –
Many-namèd Nature!


Ein großer Historiker, wie er sich beharrlich selbst nannte, der so glücklich war, schon vor einhundertundzwanzig Jahren zu sterben und seinen Platz unter den Colossen einzunehmen, zwischen deren ungeheuren Beinen unser lebendes kleines Geschlecht hindurchwandelt, rühmt sich seiner zahlreichen Anmerkungen und Digressionen als des unnachahmlichsten Theiles seines Werks, und namentlich jener Einleitungskapitel zu den einzelnen Büchern seiner Geschichte, in welchen er gleichsam seinen Lehnstuhl auf das Proscenium rückt, um mit dem Publikum in dem ganzen gesunden Behagen seiner schönen Sprache zu plaudern. Aber Fielding Henry Fielding (1707-1754), englischer Schriftsteller der Aufklärung, der mit » The History of Tom Jones« (1749) eines der bedeutendsten und literarhistorisch folgenreichsten Werke der Romanliteratur verfasste. Eliots Abgrenzung von Fielding bezeichnet das klare Bewusstsein der Autorin, mit ihrem Romanwerk einen entwicklungsgeschichtlich neuen Schritt getan zu haben. – Anm.d.Hrsg. lebte, als die Tage länger waren (denn wir messen die Dauer der Zeit gleich dem Werthe des Geldes nach unsern Bedürfnissen), als es lange Sommernachmittage gab, und die Uhr an Winterabenden langsam tickte. Wir späteren Geschichtsschreiber dürfen uns nicht einfallen lassen, seinem Beispiele zu folgen, und wenn wir es thäten, würde unser Geplauder wahrscheinlich dürftig und übereifrig ausfallen, wie wenn wir auf einem Feldstuhl in einem Vogelhause den Papageien predigten. Ich wenigstens habe so viel damit zu thun, gewisse menschliche Geschicke zu entwirren und die Fäden bloszulegen, aus denen sie gewebt und mit einander verwebt waren, daß ich alles Licht, welches ich zu verbreiten im Stande bin, auf dieses besondere Gewebe concentriren muß und dasselbe nicht über die verführerischen Erscheinungen des gesammten Universums zerstreuen darf.

Zunächst muß ich Alle, die sich für den neuen Ansiedler Lydgate interessiren, besser mit demselben bekannt machen, als es selbst Diejenigen sein konnten, welche ihm seit seiner Ankunft in Middlemarch am nächsten getreten waren; denn es wird doch Niemand in Abrede stellen wollen, daß ein Mann poussirt und belobt, beneidet, lächerlich gemacht, als Werkzeug willkommen geheißen, und sogar geliebt oder wenigstens zum künftigen Gatten gewählt werden, und doch in Wahrheit ungekannt bleiben kann – gekannt nur als ein ergiebiger Stoff für die falschen Voraussetzungen seiner Nachbarn.

Der allgemeine Eindruck war jedoch, daß Lydgate kein ganz gewöhnlicher Landarzt sei, und ein solcher Eindruck bedeutete in jener Zeit in Middlemarch, daß man große Dinge von ihm erwarte. Denn jeder Arzt einer Familie war besonders tüchtig und hatte selbstverständlich ein außerordentliches Geschick in der Behandlung und Einschränkung der capriciösesten und bösartigsten Leiden. Der für die Geschicklichkeit jedes dieser Aerzte beigebrachte Beweis gehörte zu jenen unwiderleglichen Beweisen einer höheren intuitiven Natur; denn er bestand in der unerschütterlichen Ueberzeugung der weiblichen Patienten und war demgemäß für jedes Argument unanfechtbar, soweit nicht diesen Intuitionen andere gleich starke entgegenstanden; denn jede Dame, welche in dem »stärkenden System« und seinem Vertreter Wrench die medizinische Wahrheit erblickte, betrachtete Toller und dessen »herabstimmendes System« als das medizinische Verderben.

Die heroischen Zeiten reichlicher Blutentziehung und spanischer Fliegen waren noch nicht vorüber, noch viel weniger die Zeiten durchgreifender Theorien, wo die Krankheit im Allgemeinen mit irgend einem schlimmen Namen bezeichnet und demgemäß ohne unschlüssiges Zaudern angegriffen wurde, wie wenn man z. B. eine Krankheit einen »Aufruhr« nennen wollte, den man nicht mit bloßen Pulverpatronen unterdrücken könne, sondern bei dem Blut vergossen werden müsse. Die Anhänger sowohl des »stärkenden« als des »herabstimmenden« Systems waren Alle wenigstens in der Meinung irgend Jemandes » in somebody's opinion«, hier im Sinne von »nach allgemeiner Auffassung«. – Anm.d.Hrsg. »geschickte« Leute, und mehr kann man doch in der That von keinem lebenden Talente sagen. So ausschweifend war noch Niemandes Einbildungskraft gewesen, daß er auf den Gedanken, gekommen wäre, Lydgate könne es an ärztlichem Wissen mit Dr. Sprague und Dr. Minchin, den beiden consultirenden Aerzten aufnehmen, auf welche allein man noch zu hoffen wagte, wenn ein Kranker in der äußersten Gefahr war und der schwächste Schimmer einer Hoffnung eine Guinea werth schien.

Dennoch hatte man, ich wiederhole es, allgemein den Eindruck, daß Lydgate etwas weniger Gewöhnliches sei als die Praktiker in Middlemarch. Und dem war so. Er war erst siebenundzwanzig Jahre alt, ein Alter, in welchem viele Männer noch nach etwas Höherem streben, Bedeutendes zu leisten hoffen, Abwege entschlossen meiden und glauben, daß der Mammon nie Herr über sie werden solle.

Lydgate hatte seine Eltern verloren, als er eben in eine öffentliche Schule eingetreten war. Sein Vater, ein Offizier, hatte seinen drei Kindern nur wenig hinterlassen, und als der Knabe Tertius den Wunsch aussprach, Arzt werden zu wollen, schien es seinen Vormündern gerathener, diesen Wunsch zu erfüllen, indem sie ihn zu einem praktischen Arzte auf dem Lande in die Lehre gäben, als seinem Verlangen aus Rücksichten auf die Würde der Familie entgegenzutreten. Er war einer der seltenen Knaben, welche frühzeitig eine entschiedene Richtung einschlagen, Neigung zu einer bestimmten Thätigkeit fassen, und sich darüber klar sind, daß es etwas Besonderes für sie im Leben zu thun giebt, welches sie um seiner selbst willen und nicht, weil ihre Väter es gethan haben, thun möchten.

Die meisten Menschen, die ein Studium mit Liebe ergriffen haben, erinnern sich wohl noch aus ihren Kinderjahren des Augenblicks, wo sie zuerst auf eine hohe Fußbank stiegen, um sich vom Bücherbort ein Buch herabzuholen, in welches sie sich dann vertieften, oder wo sie mit offnem Munde dasaßen, um den Worten eines Fremden zuzuhören, oder wo sie ihrer eignen innern Stimme zu lauschen anfingen. Etwas Aehnliches begegnete auch Lydgate. Er war ein aufgeweckter Bursche und pflegte sich, wenn er im Spiele heiß geworden war, in einen Winkel zu setzen und sich in fünf Minuten in irgend ein Buch, dessen er habhaft werden konnte, zu vertiefen; am liebsten waren ihm Rasselas oder Gulliver, aber er begnügte sich auch mit Bailey's Dictionair, oder mit einer die Apokryphen enthaltenden Bibel. Irgend etwas mußte er lesen, wenn er nicht auf dem Pony reiten, oder laufen und jagen oder dem Gespräch von Männern zuhören konnte. So hatte er in einem Alter von zehn Jahren schon »Chrysal oder die Abenteuer einer Guinea« Chrysal, or the Adventures of a Guinea (1760), von dem irischen Autor Charles Johnstone, erzählt satirisch die Geschichte einer Münze; es war eines der erfolgreichsten Bücher seiner Zeit. – Anm.d.Hrsg. durchgelesen, – ein Buch, welches weder Milch für Säuglinge noch eine mit Kalk versetzte Mischung war, welche für Milch hätte gelten können –, und glaubte schon zu der Erkenntniß gekommen zu sein, daß Bücher dummes Zeug enthielten, und daß das Leben eine Thorheit sei.

Seine Schulstudien hatten diese Ansicht nicht bedeutend modificirt; denn obgleich er die alten Sprachen und Mathematik »trieb«, war er doch in Beidem nicht besonders stark. Schon damals hieß es von ihm, Lydgate könne Alles leisten, wozu er Lust habe; aber er hatte entschieden noch keine Lust gehabt, irgend etwas Bemerkenswerthes zu leisten. Er war bis jetzt ein kräftiges Thier mit gutem Verstande, aber noch hatte kein höherer Funke eine geistige Leidenschaft in ihm entzündet. Wissen erschien ihm als etwas sehr Geringfügiges, leicht zu Erreichendes; nach den Unterhaltungen älterer Leute, denen er beiwohnte, zu urtheilen, hatte er davon augenscheinlich schon mehr, als für das reifere Leben erforderlich war.

Als er aber wieder einmal Ferien hatte, ging er an einem regnigten Tage in die kleine Hausbibliothek, um noch einmal zu sehen, ob nicht ein Buch da wäre, das er noch nicht gelesen hätte, – umsonst! wenn er es nicht mit einer Reihe bestäubter Bände in grauen Pappumschlägen und mit auf vergilbte Zettel geschriebenen Titeln, den Bänden einer alten Encyclopädie, die er bis jetzt noch nie aus ihrer Ruhe aufgescheucht hatte, versuchen wollte. Darin herumzustöbern war doch wenigstens etwas Neues. Die Bände standen auf dem obersten Bücherbort und Lydgate war auf einen Stuhl gestiegen, um sie herunter zu holen. Aber gleich den ersten Band, den er herabnahm, öffnete er auf der Stelle; es hat einen eigenen Reiz, grade in einer unbequemen Stellung etwas, das uns eben in die Hände fällt, zu lesen. Die erste Seite, die ihm beim Aufschlagen des Buches in die Augen fiel, trug die Ueberschrift »Anatomie«, und der erste Satz, auf welchen sein Blick fiel, betraf die Herzklappen ( valvae). Er hatte noch nicht viel von Klappen irgend welcher Art gehört, er wußte aber aus dem Lateinischen, daß valvae »Flügelthüren« bedeute, und durch diese Wissensspalte drang plötzlich ein Lichtstrahl auf ihn ein, welcher die erste lebhafte Vorstellung eines künstlichen Mechanismus im menschlichen Körper in ihm erweckte.

Eine sehr freie Erziehung hatte es ihm natürlich möglich gemacht, die anstößigen Stellen in den Schulklassikern zu lesen, hatte aber seine Einbildungskraft, bis auf ein Gefühl des Geheimnißvollen in Betreff seines inneren Baues, ganz unberührt gelassen. Er wußte nicht anders, als daß sein Gehirn in kleinen Säcken an den Schläfen liege, und dachte so wenig daran, sich eine Vorstellung von der Circulation seines Bluts zu verschaffen, wie davon, in welcher Weise Papier die Stelle des Geldes vertreten könne.

Aber in diesem Augenblick kam das Bewußtsein seines inneren Berufes über ihn, und noch bevor er von seinem Stuhle wieder herabgestiegen war, hatte sich ihm eine neue Welt erschlossen, war ihm die Ahnung endloser Prozesse aufgegangen, welche sich in den weiten Räumen vollzogen, in die ihm der Einblick bis dahin durch die wortreiche Unwissenheit, welche er für Wissen gehalten hatte, verschlossen gewesen war. Von Stund' an lebte in Lydgate eine fort und fort wachsende geistige Leidenschaft.

Wir tragen kein Bedenken, immer wieder und wieder zu erzählen, wie sich ein Mann in ein Weib verliebt und sie heirathet oder auf verhängnißvolle Weise von ihr getrennt wird. Ist es ein Uebermaß von Poesie oder von Albernheit, daß wir nie müde werden, das zu schildern, was König Jacob »des Weibes Macht und Schönheit« nannte, nie müde werden, der Leyer der alten Troubadours zu lauschen, und daß wir uns so wenig für jene andere »Macht und Schönheit« interessiren, welche mit emsigem Nachdenken und geduldiger Entsagung umworben werden muß?

Auch die Geschichte dieser Leidenschaft entwickelt sich auf verschiedene Weise, bisweilen führt sie zu einer glücklichen Verbindung, bisweilen zu Enttäuschung und endlicher Trennung für immer. Und nicht selten wird die Katastrophe gerade durch den Eintritt jener anderen, von den Troubadours besungenen Leidenschaft herbeigeführt. Denn unter der Menge der Männer von mittleren Jahren, welche ihrem Berufe in einem alltäglichen Geleise nachgehen, findet sich immer eine gute Anzahl von solchen, welche früher einmal ihr Leben selbst bestimmen und an dem Fortschritt der Welt mitarbeiten zu können meinten. Die Geschichte, wie sie dazu kamen, Durchschnitts- und Dutzendmenschen zu werden, wird selten irgendwo, selbst nicht in dem Bewußtsein dieser Menschen, verzeichnet; denn vielleicht hat sich ihre Leidenschaft für eine edle, nicht um des Lohnes willen, gethane Arbeit grade so unmerklich abgekühlt, wie die Leidenschaft ihrer jugendlichen Liebe zu einem Weibe, bis eines Tages ihr früheres Selbst, gleich einem Geiste in seiner alten Behausung, einmal wieder erschien, sich aber nicht mehr darin zurecht zu finden vermochte. Es giebt nichts in der Welt, was sich leiser und langsamer vollzöge, als die allmälige Veränderung solcher Menschen. Die ersten Keime zu dieser Veränderung nahmen sie vielleicht unbewußt in sich auf, wer weiß ob nicht wir, Ihr und ich durch die Verkehrtheit unserer hergebrachten Redensarten oder durch unsre albernen Schlüsse den ersten Anstoß dazu gegeben haben; vielleicht auch, daß der Blick eines Weibes ihre Seele erzittern machte und jenen Wechsel hervorbrachte.

Lydgate war entschlossen, keine dieser verfehlten Existenzen zu werden, und es stand zu hoffen, daß er diesen Entschluß ausführen werde, weil sein wissenschaftliches Interesse sehr bald die Gestalt eines Enthusiasmus für seinen Beruf annahm. Er brachte seinem Brotstudium einen jugendlichen Glauben entgegen, den selbst seine Lehrlingszeit, jene Einweihung in die nothdürftigsten Handgriffe der Praxis, nicht zu ersticken vermochte, und nahm zu seinen Studien in London, Edinburg und Paris die Ueberzeugung mit sich, daß der ärztliche Beruf, wie er sein könnte, der schönste in der Welt sei, indem er die vollkommenste Wechselwirkung von Wissenschaft und Kunst, die unmittelbarste Verbindung geistiger Errungenschaften mit der Förderung des socialen Wohles, darbiete. Lydgate's Natur verlangte zu ihrer Befriedigung diese Verbindung; er war ein empfindungsbedürftiger Mensch, dem ein unwiderstehlicher Drang nach hülfreichem Wirken innewohnte, welches aller Absonderung in ein unfruchtbares Specialstudium widerstrebte. Ihm war es nicht nur um interessante Fälle, sondern um die bei diesen Fällen leidenden Menschen zu thun.

Sein Beruf hatte noch in anderer Beziehung eine besondere Anziehungskraft für ihn. Derselbe bedurfte der Reform und bot einem strebenden, über die bestehenden Mißbräuche empörten Menschen hinreichende Veranlassung zu dem Entschluß, die käuflichen Titel und andere bisher übliche Charlatanerien von sich zu weisen und sich in den Besitz einer ächten, wenn auch nicht geforderten Qualifikation zu setzen.

Lydgate ging zu seiner Ausbildung nach Paris mit der Absicht, sich bei seiner Rückkehr in die Heimath in einer Provinzialstadt als praktischer Arzt für alle Zweige der Heilkunde niederzulassen und sich der irrationellen Trennung zwischen ärztlichem und wundärztlichem Wirken sowohl im Interesse seiner eigenen wissenschaftlichen Zwecke als des allgemeinen Wohles zu widersetzen. Er wollte sich von dem Getriebe der Londoner Intriguen, Eifersüchteleien und gesellschaftlichen Kriechereien fernhalten und doch, wenn auch noch so langsam, durch eine unabhängige Thätigkeit, wie Jenner Edward Jenner (1749-1823), englischer Arzt, gilt als Begründer der modernen Immunologie. – Anm.d.Hrsg. es gethan hatte, Berühmtheit erlangen.

Denn man darf nicht vergessen, daß es noch eine sehr finstere Zeit war, und daß es trotz ehrwürdiger Collegien, welche große Anstrengungen machten, die Reinheit der Wissenschaft dadurch zu sichern, daß sie dieselbe schwer zugänglich machten und den Irrthum durch eine strenge Ausschließlichkeit fernhielten, vorkam, daß sehr unwissende junge Männer in London promovirten und viele Andere die gesetzliche Befugniß erhielten, in großen Bezirken im Innern des Landes zu practiciren. So verhinderte auch der hohe Maßstab, welchen das Publikum an das Collegium der Aerzte anzulegen gewöhnt war – an dieses Collegium, welches dem kostspieligen und sehr verwässerten medicinischen Unterrichte, wie er den Studenten von Oxford und Cambridge ertheilt wurde, seine Sanction gab –, keineswegs, daß die Quacksalberei in höchster Blüthe stand; denn da die ärztliche Praxis hauptsächlich darin bestand, sehr viele Arzneien zu verschreiben, so schloß das Publikum, daß es sich noch besser befinden würde, wenn es noch mehr Arzneien zu sich nähme, sobald dieselben nur billig zu haben wären, und ließ sich daher bereit finden, ungeheure, von gewissenlosen Ignoranten verschriebene Quantitäten von Arzneien zu verschlucken.

Wenn man erwägt, daß die Statistik damals noch nicht festgestellt hatte, daß es, allen Veränderungen der Zeiten zum Trotz, immer eine gewisse Anzahl von unwissenden oder quacksalbernden Aerzten geben muß, so wird man es begreiflich finden, daß Lydgate dafür hielt, eine Veränderung der Einzelnen sei der directeste Weg, eine Veränderung der Massen zu bewirken. Er wollte an seinem Theile dazu mitwirken, daß eine immer größere Anzahl besserer Elemente den Durchschnittsärzten gegenüberträte, und wollte sich gleichzeitig die Freude bereiten, seine Patienten sofort der segensreichen Wirkung dieses Entschlusses theilhaftig werden zu lassen. Aber mit der rationellen Behandlung seiner Patienten würde er das Ziel seines Strebens noch nicht erreicht haben. Sein Ehrgeiz strebte noch höhere Zwecke an; ihn begeisterte der Gedanke an die Möglichkeit, einer neuen Begründung der anatomischen Wissenschaft die Wege zu bahnen und sich so einen Platz in der Reihe der Entdecker zu sichern.

Scheint es Euch vielleicht abgeschmackt, daß ein praktischer Arzt aus Middlemarch davon träumt, ein Entdecker zu werden? Die Meisten unter uns erfahren herzlich wenig von dem Leben der großen schöpferischen Geister, so lange dieselben nicht unter die Sterne aufgenommen sind und unsere Geschicke beherrschen. Aber wie; war nicht z. B. Herschel Wilhelm Herschel (1738-1822), hannoversch-britischer Astronom und Musiker. Auf seinem Grabstein steht der lateinische Satz Caelorum perrupit claustra (Er durchbrach die Grenzen des Himmels). – Anm.d.Hrsg., »der die Schranken des Himmels durchbrach,« einst Organist an einer Provinzialkirche und gab stümpernden Schülern Clavierunterricht? Jeder von jenen Sternen erster Größe hatte auf Erden unter Nachbarn zu wandeln, die vielleicht viel mehr an seinen Gang und seinen Anzug als an irgend etwas von Dem dachten, was ihm einen Anspruch auf ewigen Ruhm geben sollte; jeder von ihnen hatte seine persönliche Local-Geschichte mit ihren kleinlichen Versuchungen und quälenden Sorgen, welche seiner endlichen Aufnahme in die Genossenschaft der Unsterblichen hindernd in den Weg traten.

Lydgate war nicht blind gegen die Gefahren solcher Hindernisse, aber er hoffte im Vertrauen auf die Energie seines Entschlusses zuversichtlich, denselben aus dem Wege gehen zu können, und glaubte, da er bei seiner Niederlassung in Middlemarch bereits siebenundzwanzig Jahre alt war, sich auf seine Lebenserfahrungen verlassen zu dürfen. Er wollte sich daher den Versuchungen der Eitelkeit, wie sie in den glänzenden Erfolgen einer hauptstädtischen Carriere liegen, nicht aussetzen, sondern wollte seine Tage unter Leuten zubringen, die als Rivale bei der Verfolgung einer großen Idee, welche im engsten Zusammenhange mit einer eifrigen Betreibung seines Berufs den Hauptzweck seines Lebens ausmachen sollte, nicht in Betracht kommen konnten. Es lag für ihn etwas Bezauberndes in der Hoffnung, daß diese beiden Lebenszwecke befruchtend und erleuchtend auf einander wirken würden; die sorgfältigen Beobachtungen und Schlußfolgerungen, welche seine tägliche Beschäftigung ausmachten, der Gebrauch der Lupe in besonderen Fällen, würden sein Denken zur Vornahme tiefer gehender Untersuchungen nur um so fähiger machen. War das nicht der characteristische Vorzug seines Berufs? Er würde ein guter praktischer Arzt in Middlemarch sein und sich grade durch diese Praxis auf der Spur weitreichender Forschungen erhalten.

In einem Punkte kann er dabei gewiß auf unsere Zustimmung rechnen: er wollte es nicht jenen philantropischen Mustern nachthun, welche aus giftigen Mixturen pecuniären Vortheil ziehen, während sie öffentlich alle Verfälschungen brandmarken oder Inhaber von Actien einer Spielhölle sind, um sich durch diesen heimlichen Erwerb in den Stand zu setzen, öffentlich als Vorbilder der Sittlichkeit und Respectabilität dazustehen. Er beabsichtigte mit einigen besonderen Reformen in seiner Praxis zu beginnen, welche er ins Werk zu setzen vollkommen im Stande war und bei welchen es ein viel geringeres Problem als die Darlegung eines anatomischen Systems zu lösen galt.

Eine dieser Reformen sollte darin bestehen, daß er, unter Berufung auf eine kürzlich erlassene gesetzliche Entscheidung, einfach Arznei verschreiben wollte, ohne sie selbst zu verabreichen oder sich von Apothekern Procente geben zu lassen. Das war von einem jungen Manne, der sich als praktischer Arzt in einer Provinzialstadt niederlassen wollte, eine gefährliche Neuerung, welche von seinen Berufsgenossen voraussichtlich wie eine beleidigende Kritik ihres Verfahrens aufgenommen werden würde. Aber Lydgate wollte auch in seiner Behandlung der Kranken Neuerungen einführen, und er war weise genug einzusehen, daß eben die gänzliche Enthaltung von der Dispensation von Arzneien die beste Garantie dafür sei, daß er auch in der Praxis redlich seiner Ueberzeugung folgen werde.

Vielleicht war jene Zeit Beobachtern und Forschern günstiger als die unsrige. Wir sind geneigt die Zeit nach der Entdeckung Amerikas, wo ein kühner Seemann, auch wenn er scheiterte, hoffen konnte, seinen Fuß auf den Boden eines neuen Königreichs zu setzen, für die schönste zu halten, welche die Welt noch erlebt hat; im Jahre 1829 aber waren die unerforschten Gebiete der Pathologie ein schönes Amerika für einen muthigen jungen Abenteurer.

Lydgate's höchster Ehrgeiz war es, dazu beizutragen, die wissenschaftlich rationelle Basis seines Berufs zu erweitern. Je lebhafter er sich für spezielle Krankheitsfragen interessirte, wie z. B. für die Natur des Fiebers oder der verschiedenen Fieber, desto dringender empfand er die Nothwendigkeit jener Fundamental-Wissenschaft der Structur des menschlichen Körpers, welche grade im Beginn des Jahrhunderts von Bichat Xavier Bichat (1771-1802), französischer Anatom, Physiologe und Chirurg; gilt als Begründer der Histologie und Mitbegründer der Pathologie. – Anm.d.Hrsg. während seiner kurzen und ruhmvollen Laufbahn neu begründet worden war – von Bichat, welcher schon im Alter von einunddreißig Jahren starb, aber wie ein zweiter Alexander ein Reich hinterließ, welches für viele Erben groß genug war. Dieser große Franzose war der Erste, der die Idee zur Geltung brachte, daß für eine auf den Grund der Dinge gehende Betrachtung lebende Körper nicht eine Verbindung von Organen seien, welche verstanden werden können, wenn man sie erst getrennt und dann so zu sagen in ihrem Bundesverhältniß untersucht, sondern dahin aufgefaßt werden müssen, daß sie aus gewissen primären Geweben bestehen, aus welchen die verschiedenen Organe: das Gehirn, das Herz, die Lungen u. s. w., sich ein Jedes zusammensetzen, wie die verschiedenen Theile eines Hauses aus Holz, Eisen, Stein, Backstein, Zink u. s. w., jeder wieder in verschiedenen Verhältnissen, zusammengefügt sind. Man sieht, kein Mensch kann den ganzen Bau und seine Theile, seine Schwächen und die Mittel zur Hebung derselben verstehen, ohne die Natur der Materialien zu kennen. Und diese von Bichat zur Geltung gebrachte Idee mit seinen genauen Einzelstudien der verschiedenen Gewebe wirkte mit Nothwendigkeit auf medizinische Fragen, wie eine plötzliche Gasbeleuchtung auf eine von Oellampen matt erleuchtete Straße wirken müßte, indem sie neue Beziehungen und bis dahin verborgene Structurverhältnisse aufdeckte, welche von nun an bei der Beobachtung der Krankheitssymptome und bei der Wirkung der Arzneien in Rechnung gebracht werden mußten. Aber Resultate, welche von menschlicher Intelligenz und Gewissenhaftigkeit abhängen, brechen sich langsam Bahn, und gegen Ende des Jahres 1829 wandelte die medizinische Praxis noch überwiegend, stolzirend oder humpelnd, auf den alten Bahnen, und ein großer Theil der wissenschaftlichen Arbeit, von welcher man hätte glauben sollen, daß sie auf Bichat's Entdeckungen unmittelbar folgen müßte, war noch zu thun.

Dieser große Seher verfolgte die anatomische Analyse bis zu ihren äußersten Grenzen und glaubte auf diesem Wege in den Geweben die Elemente des Organismus gefunden zu haben. Einem andern Geiste blieb es vorbehalten, zu fragen, ob nicht diese verschiedenen Structuren eine gemeinschaftliche Basis haben, aus welcher sie alle hervorgegangen seien, wie, um mich eines trivialen Beispiels zu bedienen, die verschiedenen Seidengewebe, wie Taffet, Flor, Tüll, Atlas und Sammt, aus demselben Cocon hervorgehen; das würde ein ganz neues Licht über den eigentlichen Kern der Dinge verbreiten und zu einer Revision aller bisherigen Anschauungen nöthigen.

An diesen Folgerungen aus der Arbeit Bichat's, welche bereits in vielen Strömungen des europäischen Geistes zu Tage traten, nahm Lydgate ein begeistertes Interesse; sein sehnlicher Wunsch war, die genaueren Beziehungen des Körperbaues in seinem lebenden Zustande nachweisen und dazu behülflich sein zu können, das menschliche Denken auf diesem Gebiete folgerichtig zu entwickeln. Die Arbeit war noch nicht gethan, sie war nur vorbereitet. Was war das ursprüngliche Gewebe? So stellte Lydgate die Frage – nicht ganz in der durch die noch ausstehende Antwort geforderten Weise; aber dieses Verfehlen des rechten Wortes begegnet vielen Forschern. Und er rechnete darauf, in seinen Mußestunden die Fäden der Untersuchung auf Grund vieler Fingerzeige, nicht nur des Scalpells, sondern auch des Mikroskops, dessen man sich mit neuem enthusiastischen Vertrauen wieder zu bedienen angefangen hatte, weiter spinnen zu können. So hatte sich Lydgate für seine Zukunft den Plan vorgezeichnet, sich im Kleinen in Middlemarch und im Großen für die Welt nützlich zu erweisen.

Er war ein wahrhaft glücklicher Mensch um diese Zeit! siebenundzwanzig Jahr alt, ohne festgewurzelte Laster, beseelt von dem edlen Entschlusse segensreich zu wirken, und erfüllt von Ideen, welche dem Leben für ihn Interesse verliehen. Er stand an der Schwelle seiner Laufbahn, einem Momente, dessen außerordentliche Bedeutung für das Leben des Menschen nur der ganz begreift, welcher eine Vorstellung von der Complicirtheit der hindernden und fördernden Umstände hat, von denen die Wahrscheinlichkeit der Erreichung eines schwierigen Vorhabens abhängt, eine Vorstellung von den feinen Schwankungen der inneren Waage, durch welche ein Mensch sich im Gleichgewicht erhalten muß, wenn er nicht von dem Strome des Lebens willenlos fortgetrieben werden will.

Unsicher hätte der Ausgang auch dem erscheinen müssen, der Lydgate's Character genau gekannt hätte; denn auch der Charakter ist ein der Entwickelung unterworfener Prozeß. Nicht nur der Middlemarcher Arzt und der Entdecker, sondern auch der Mensch Lydgate war noch im Werden, und er hatte Tugenden und Fehler, welche ebensowohl ab- als zunehmen konnten. Seine Fehler werden, hoffe ich, Niemanden veranlassen, ihm sein Interesse zu entziehen. Finden wir nicht unter unsern geschätzten Freunden einen oder den andern, der ein wenig zu selbstbewußt und zu hochmüthig, dessen ausgezeichneter Geist ein wenig durch Niedrigkeit der Gesinnung befleckt ist, welchen angeborene Vorurtheile bald zu engherzig und bald zu ausgiebig machen, dessen Entschlüsse von der Gefahr bedroht sind durch vorübergehende Versuchungen in eine falsche Richtung gedrängt zu werden?

Alle diese Fehler konnten Lydgate vorgeworfen werden, aber sie sind doch nur die Paraphrasen eines höflichen Predigers, welcher vom alten Adam spricht und seinen Zuhörern nicht gern etwas Unangenehmes sagen möchte. Die besonderen Fehler, welche sich in diesen zarten Allgemeinheiten zusammengefaßt finden, haben ihre sehr bestimmten Physiognomien. Unsere Eitelkeiten sind so verschieden von einander wie unsere Nasen; die gleiche Selbstüberhebung ist doch nicht immer dieselbe, sondern weicht in ihren Manifestationen so weit von einander ab, wie die Textur unserer verschiedenen Geistesverfassungen.

Lydgate's Selbstüberhebung gehörte der süffisanten Gattung an; sie trat nie mit grinsender Affectation, nie impertinent auf, sondern machte sich nur in sehr bedeutenden Ansprüchen und in Aeußerungen einer wohlwollenden Geringschätzung geltend. Er war immer bereit, sehr viel für armselige Tröpfe zu thun, die ihm leid thaten und von denen er sicher war, daß sie keine Gewalt über ihn würden gewinnen können. Während seines Aufenthalts in Paris hatte er daran gedacht, sich den Saint-Simonisten anzuschließen, um sie von einigen ihrer eigenen Lehren zu bekehren. Alle seine Fehler hatten eine gewisse Familienähnlichkeit mit einander, und waren die Fehler eines Mannes, der eine schöne Baritonstimme hatte, dem seine Kleider immer gut saßen und der selbst bei den einfachsten Bewegungen die angeborne Distinction seiner Natur nicht verleugnete.

»Wo finden sich denn aber die Flecken niedriger Gesinnung?« fragt wohl eine junge Leserin, welcher die eben geschilderte natürliche Grazie Lydgate's imponirt? Wie ist es denkbar, daß ein so wohlerzogener Mann, welcher so sehr nach einer gesellschaftlich ausgezeichneten Stellung strebt, und welcher so edle und ungewöhnliche Ansichten über seine Pflichten gegen die Gesellschaft hat, niedrige Gesinnungen hege? Ganz so denkbar, antworte ich, wie daß ein Mann von Geist dumm erscheint, wenn man ihn unversehens auf einen ihm fern liegenden Gegenstand bringt, oder daß Männer, welche von den besten Absichten für das Wohl der Gesellschaft erfüllt sind, vielleicht sehr schlechte Beurtheiler der leichteren Freuden dieser Gesellschaft sind und keine Vorstellung davon haben, daß diese Freuden über Offenbach's Musik oder das witzige Wortspiel der letzten Posse hinausgehen können.

Lydgate's Flecken niedriger Gesinnung erwuchsen aus der Art seiner Vorurtheile, welche, trotz seiner edelen Absichten und sympathischen Gefühle, zum guten Theil dieselben waren, die wir bei gewöhnlichen Weltleuten finden; die Hoheit der Gesinnung, welche seinem geistigen Eifer eignete, erstreckte sich so wenig auf seine Gefühle und sein Urtheil über häusliche Einrichtung und über Frauen, wie auf seine Vorstellungen davon, wie wünschenswerth es sei, daß man, ohne daß er es zu sagen brauche, wisse, daß er von besserer Herkunft als andere praktische Aerzte in der Provinz sei.

Er dachte für den Augenblick noch nicht an seine häusliche Einrichtung; es stand jedoch zu fürchten, daß, sobald er sich einmal einrichten würde, weder sein Interesse für Anatomie und Physiologie noch seine Reformpläne ihn über das niedrige Gefühl hinwegheben würden, daß es unverträglich mit seiner Stellung sein würde, nicht auf das Beste eingerichtet zu sein.

Für seine Ansichten über das weibliche Geschlecht war ein Verhältniß, in welchem er schon einmal zu einer Frau gestanden hatte, wesentlich maßgebend. Durch die wilde Leidenschaft, von der er damals ergriffen gewesen war und die er überwunden hatte, glaubte er sich für alle Zukunft gegen ähnliche Verirrungen geschützt. Für diejenigen, welche Lydgate kennen zu lernen wünschen, wird es willkommen sein, etwas Näheres über jenes Verhältniß zu hören, denn die Erzählung dieses Erlebnisses wird am besten zeigen, welcher leidenschaftlichen Verirrungen er fähig, zugleich aber auch, wie groß seine ritterliche Herzensgüte war, die soviel dazu beitrug, ihn sittlich liebenswerth zu machen. Die Geschichte ist bald erzählt. Sie trug sich zu, als Lydgate in Paris studirte, und zwar grade zu einer Zeit, wo er neben seinen übrigen angestrengten Arbeiten noch mit galvanischen Experimenten beschäftigt war.

Eines Abends fühlte er sich von dem langen, bis jetzt erfolglosen Experimentiren ermüdet und beschloß, seinen Fröschen und Kaninchen eine Erholung von den unerklärlichen Schlägen, denen sie sonst fortwährend ausgesetzt waren, zu gönnen und seinen Abend im Theater Porte Saint Martin zu beschließen, wo ein Melodrama gegeben wurde, welches er bereits mehrere Male gesehen hatte und welches ihn interessirte, nicht wegen der von mehreren Autoren gemeinschaftlich verfaßten Dichtung, sondern wegen einer Schauspielerin, deren Rolle es mit sich brachte, daß sie ihren Geliebten, indem sie ihn irrthümlich für den Bösewicht des Stücks, einen Herzog, hielt erstach.

Lydgate hatte sich in diese Schauspielerin verliebt, wie ein Mann sich in eine Frau verliebt, von der er nicht glaubt, daß er sie jemals werde sprechen können. Sie war eine Provençalin, mit dunklen Augen, einem griechischen Profile, jener majestätischen Fülle der Formen, welche selbst jugendlichen Gestalten etwas anmuthig Matronenhaftes verleiht, und einer sanft girrenden Stimme. Sie war erst kürzlich nach Paris gekommen und erfreute sich eines makellosen Rufs; die Rolle des unglücklichen Liebhabers spielte ihr eigener Mann. Ihr Spiel erhob sich nicht über das Gewöhnliche, aber das Publikum war befriedigt. Lydgate's einzige Erholung bestand jetzt darin, diese Frau spielen zu sehen.

An diesem Abend jedoch sollte die Aufführung noch ein ganz unerwartetes Interesse darbieten. In dem Augenblick, wo die Heldin ihren Geliebten zu erstechen und er mit Grazie zusammenzusinken hatte, erstach die Frau wirklich ihren Mann, der todt zu Boden stürzte. Ein wilder Schrei durchdrang das Haus und die Provençalin sank ohnmächtig nieder; beides, Schrei und Ohnmacht, waren in der Rolle vorgeschrieben, aber dieses Mal waren sowohl der Schrei als die Ohnmacht echt. Lydgate eilte herzu und gelangte, er wußte selbst kaum wie, kletternd auf die Bühne; er leistete der Ohnmächtigen, nachdem er gefunden hatte, daß sie eine Contusion am Kopfe davon getragen, und sie sanft aufgehoben hatte, thätige Hülfe und kam auf diese Weise zum ersten Mal in persönliche Berührung mit seiner Heldin.

Ganz Paris war voll von dieser Geschichte – war es ein Mord? Einige der wärmsten Verehrer der Schauspielerin waren geneigt, an ihre Schuld zu glauben und schwärmten, im Geschmack jener Tage, in dieser Annahme nur desto mehr für sie; aber Lydgate gehörte nicht zu diesen. Er stritt heftig für ihre Unschuld, und die unpersönliche, aus der Entfernung schwärmende Leidenschaft für ihre Schönheit, welche ihn bisher für sie erfüllt, hatte sich jetzt in eine persönliche Hingebung, in eine zärtliche Theilnahme für ihr Loos verwandelt. Der Gedanke an einen Mord war absurd; es war kein Motiv dafür erfindlich, da das junge Paar, wie es hieß, einander angebetet hatte, und es war nichts Unerhörtes, daß ein zufälliges Ausgleiten des Fußes zu so schrecklichen Folgen führte. Die gerichtliche Untersuchung endete mit Madame Laure's Freisprechung.

Lydgate hatte sie um diese Zeit näher kennen zu lernen Gelegenheit gehabt und fand sie von Tag zu Tag anbetungswürdiger. Sie sprach wenig, aber das war für ihn nur ein Reiz mehr. Sie war melancholisch und schien dankbar; ihre bloße Gegenwart wirkte beruhigend wie die Abenddämmerung. Lydgate dürstete wie wahnsinnig nach ihrer Liebe und zitterte bei dem Gedanken, daß ein anderer Mann ihre Neigung gewinnen und ihr seine Hand antragen könne. Aber statt sich an der Porte Saint Martin, wo sie in Folge des verhängnißvollen Ereignisses nur um so beliebter gewesen sein würde, wieder engagiren zu lassen, ging sie eines Tages plötzlich von dannen, ohne ihren kleinen Kreis von Bewunderern auch nur von ihrer Abreise zu benachrichtigen.

Vielleicht forschte ihr Niemand ernsthaft nach, außer Lydgate, dessen wissenschaftliche Interessen durch die Vorstellung völlig zurückgedrängt waren, daß die unglückliche Laure von nie rastendem Kummer verfolgt, umherwandere, ohne einen treuen tröstenden Freund zu finden. Indessen sind verborgene Schauspielerinnen nicht so schwer zu ermitteln wie andere verborgene Dinge, und es dauerte nicht lange, bis Lydgate in Erfahrung brachte, daß Laure den Weg nach Lyon eingeschlagen habe. Er fand sie endlich in Avignon, wo sie unter demselben Namen mit großem Erfolge auftrat und, als verlassenes Weib mit ihrem Kinde auf dem Arme, majestätischer denn je aussah.

Er sprach sie nach dem Schluß der Vorstellung, wurde von ihr mit der gewohnten Ruhe empfangen, welche auf ihn wirkte, wie die durchsichtige Tiefe einer klaren Fluth, und erhielt die Erlaubniß, sie am nächsten Tage zu besuchen; er sehnte den Augenblick herbei, wo er ihr würde sagen können, daß er sie anbete, und war entschlossen, ihr seine Hand anzutragen. Er wußte sehr wohl, daß dieser Entschluß dem plötzlichen Impulse eines Wahnsinnigen gleiche und mit seinen sonstigen Neigungen durchaus nicht übereinstimme. Gleichviel! Er war entschlossen, es zu thun. Zwei Seelen wohnten offenbar in seiner Brust, und diese beiden Seelen mußten lernen sich in einander finden und gegenseitig ihre Schwächen tragen. Er gehörte zu den eigenthümlich organisirten Menschen, welche die Fähigkeit besitzen, während sie in einem Augenblicke ganz von ihrer Leidenschaft in rasch wechselnden Visionen hingenommen sind, im nächsten die verderbliche Gewalt derselben klar zu erkennen, ja, während sie auf den Höhen umherrasen, doch mit klarem Blick in die Ebene hinabzuschauen, wo ihr besseres Selbst ruhig ihrer Rückkehr harrt.

»Sie haben die ganze Reise von Paris hergemacht, um mich zu suchen?« fragte sie am nächsten Tage, als sie mit verschränkten Armen vor ihm saß und ihn mit großen erstaunten Augen ansah. »Sind alle Engländer so?«

»Ich bin hergekommen, weil ich es nicht ertragen konnte, nicht wenigstens den Versuch gemacht zu haben, Sie zu sehen. Sie sind verlassen; ich liebe Sie; Sie müssen mein Weib werden; ich will warten, aber Sie müssen mir versprechen, mich und keinen Anderen zu heirathen.«

Laure's Augen sahen ihn unter ihren großen Augenlidern hervor mit melancholisch leuchtenden Blicken an, bis er, von entzückender Gewißheit erfüllt, vor ihr niederkniete.

»Ich will Ihnen etwas sagen,« erwiderte sie, noch immer mit verschränkten Armen dasitzend, mit ihrer girrenden Stimme. »Mein Fuß ist wirklich ausgeglitten.«

»Ich weiß, ich weiß,« erwiderte Lydgate. »Es war ein verhängnißvoller Zufall – ein schreckliches Unglück, das mir Sie nur um so theurer gemacht hat.«

Laure hielt wieder einen Augenblick inne und sagte dann langsam: »Ich habe es absichtlich gethan.«

Ein gefesteter Mann, wie er war, wurde Lydgate bei diesen Worten bleich und zitterte; es dauerte eine Weile, bis er sich erheben und sich vor sie hinstellen konnte.

»Sie hatten also einen geheimen Grund?« sagte er endlich in leidenschaftlicher Erregung: »Er mißhandelte Sie und Sie haßten ihn.«

»Nein, er langweilte mich, er war zu verliebt in mich; er wollte in Paris leben und nicht in meiner Provinz, das war mir nicht angenehm.«

»Großer Gott!« rief Lydgate entsetzt aus, »und Sie faßten den Plan, ihn zu ermorden?«

»Ich hatte keinen Plan gefaßt, der Gedanke kam mir während des Stücks und ich that es absichtlich.«

Lydgate stand sprachlos da und drückte sich, ohne es zu wissen, den Hut in's Gesicht, während er sie anblickte. Diese Frau, die erste, an welche er sein junges Herz verloren hatte, war eine gemeine Verbrecherin!

»Sie sind ein guter junger Mensch,« sagte sie wieder nach einer Weile, »aber ich liebe Ehemänner überhaupt nicht, ich will mich nie wieder verheirathen.«

Drei Tage später war Lydgate wieder in Paris mit seinen galvanischen Experimenten beschäftigt und hielt sich von nun an vor Illusionen für sicher. Wenn ihn dieses Erlebniß nicht hart machte, so rührte das von seiner Herzensgüte und von seinem festen Glauben an den sittlichen Fortschritt der Menschheit her. Aber mehr als je glaubte er jetzt seinem Urtheile, nachdem es durch so reiche Erfahrungen entwickelt worden war, vertrauen zu dürfen und nahm sich vor, die Frauen von nun an aus einem streng wissenschaftlichen Gesichtspunkte zu betrachten und keine anderen Erwartungen von ihnen zu hegen, als solche, deren Berechtigung er zuvor erprobt haben würde.

In Middlemarch war vermuthlich Niemand, der von Lydgate's Vergangenheit so viel wußte, wie wir hier eben in leichten Umrissen angedeutet haben, und die braven Leute dort waren so wenig wie die Menschen im Allgemeinen besonders aufgelegt, sich von dem, was ihnen nicht in die Augen fiel, eine genaue Vorstellung zu verschaffen. Nicht nur junge Mädchen, sondern auch graubärtige Männer in jener Stadt waren oft eifrigst bemüht herauszufinden, wie wohl ein neuer Bekannter ihren Zwecken dienstbar zu machen sei, und begnügten sich dabei mit sehr vagen Anhaltspunkten für den Grad der Verwendbarkeit zu solchen Zwecken, welchen der Fremde in seinem bisherigen Leben erlangt haben möchte. In Wahrheit rechnete Middlemarch darauf, Lydgate überzuschlucken und sehr behaglich zu verdauen.



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