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Sechstes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 6:

My lady's tongue is like the meadow blades,
That cut you stroking them with idle hand.
Nice cutting is her function: she divides
With spiritual edge the millet seed,
And makes intangible savings.


Als Casaubon's Wagen zur Pforte von Tipton-Hof hinausfuhr, war eben ein von einer Dame gelenkter Ponywagen, auf dessen Rücksitz ein Diener saß, im Begriff, hineinzufahren. Es blieb zweifelhaft, ob die Insassen der beiden Wagen sich gegenseitig erkannt hatten, denn Casaubon blickte abwesend vor sich hin; aber die Dame hatte ein scharfes Auge und benutzte den Moment des Vorüberfahrens, um Casaubon nickend ein »Wie geht es Ihnen?« zuzurufen. Trotz ihres abgetragenen Hutes und sehr alten indischen Shawls betrachtete die Pförtnerin, wie ihr tiefer Knix vor dem kleinen Ponywagen bewies, die Dame als eine bedeutende Persönlichkeit.

»Nun, Frau Fitchett, legen Ihre Hühner jetzt fleißig Eier?« fragte die lebhaft aussehende, dunkeläugige Dame mit einer wie gemeißelten Klarheit der Aussprache.

»Mit dem Legen geht es ganz gut, Madame; aber sie haben angefangen, ihre eigenen Eier zu fressen. Sie machen mir darum viel Sorge.«

»O die Cannibalen! Da thun Sie ja besser, sie gleich zu verkaufen. Was wollen Sie für ein Paar davon haben? Man kann keine Hühner von so schlechtem Charakter essen, wenn sie theuer sind.«

»Nun, Madame, eine halbe Krone; darunter kann ich sie nicht lassen.«

»Eine halbe Krone bei diesen Zeiten für des Herrn Pfarrers Hühnersuppe am Sonntag! Gehen Sie! Er hat von unseren Hühnern schon alle, die ich nur irgend entbehren kann, verzehrt. Vergessen Sie nicht, Frau Fitchett, daß Sie schon durch die Predigt halb bezahlt werden. Nehmen Sie ein Paar Purzeltauben dafür, reizende kleine Thiere. Sie müssen hinkommen und sie sich ansehen; Sie haben noch keine Purzeltauben.«

»Gut, Madame; mein Mann soll sie sich nach der Arbeit ansehen. Er ist sehr erpicht auf neue Sorten und wird Ihnen gern zu Willen sein.«

»Mir zu Willen! Er hat noch nie einen besseren Handel gemacht. Ein Paar geistliche Tauben für ein Paar nichtswürdige spanische Hühner, die ihre eigenen Eier fressen! Seien Sie nur nicht zu stolz, Sie und Ihr Mann!«

Mit diesen Worten fuhr die Dame dem Hause zu, während Frau Fitchett lachte und mit dem Ausruf »Ja wohl, ja wohl!« langsam den Kopf schüttelte, woraus man vielleicht hätte schließen können, daß sie das Landleben noch eintöniger gefunden haben würde, wenn die Frau Pfarrerin weniger geradeheraus mit ihrer Sprache und weniger knauserig gewesen wäre. In der That würden sowohl die Pächter als die Tagelöhner in den Kirchspielen Freshitt und Tipton einen sehr willkommenen Unterhaltungsstoff entbehrt haben, wenn sie sich nicht immer Geschichten über das, was Frau Cadwallader sagte und that, zu erzählen gehabt hätten. Diese Dame von unermeßlich hoher Herkunft, welche gleichsam von unbekannten, gleich einer Menge heroischer Schatten in nebelhafter Ferne verschwindenden Grafen abstammte, welche gern von ihrer Armuth sprach, die Preise drückte und in der vertraulichsten Weise Späße machte, wiewohl immer mit einer Wendung, welche keinen Zweifel darüber lassen sollte, wer sie sei, – eine solche Dame brachte Rang und Religion in ein freundnachbarliches Verhältniß zu den kleinen Leuten ihrer Umgebung und milderte die Bitterkeit unabgelöster Zehnten. Ein viel exemplarischerer Charakter mit einer Beigabe von finsterblickender Würde wäre unzweifelhaft im Verkehr mit den kleinen Leuten weniger familiär gewesen und würde ihnen das Verständniß der neun und dreißig Artikel nicht näher gebracht haben.

Herr Brooke, welcher über die Verdienste der Frau Cadwallader etwas anders dachte, konnte einen leisen Seufzer nicht unterdrücken, als sie ihm in der Bibliothek, wo er allein saß, gemeldet wurde.

»Ich sehe, Sie haben unseren Cicero von Lowick hier gehabt,« sagte sie, indem sie sich's auf einem Stuhle bequem machte, ihren Shawl abwarf und damit eine magere, aber wohlgebaute Gestalt zeigte. »Ich habe Sie im Verdacht, daß er und Sie zusammen an einem schlechten Wahlplane arbeiten, sonst würden Sie diesen Mann wohl nicht so viel bei sich sehen. Ich werde Sie denunciren; vergessen Sie nicht, daß Sie Beide verdächtige Charaktere sind, seit Sie sich bei der Katholiken-Emancipationsfrage auf Peel's Seite gestellt haben. Ich werde allen Leuten erzählen, daß Sie sich von den Whigs als Kandidat für Middlemarch aufstellen lassen wollen, wenn der alte Pinkerton sich zurückzieht, und daß Casaubon Ihnen dabei unter der Hand behülflich sein, die Wähler durch Flugschriften bestechen und die Wirthshäuser zur Vertheilung derselben offen halten wird. Kommen Sie, bekennen Sie!«

»Nichts derart,« erwiderte Herr Brooke, indem er lächelnd die Gläser seiner Lorgnette wischte, dabei aber doch über die Beschuldigung ein wenig erröthete. »Casaubon und ich reden nicht viel über Politik mit einander. Er interessirt sich nicht sehr für die philantropische Seite der Dinge. Er interessirt sich nur für kirchliche Fragen, und das ist wieder nicht mein Gebiet, wissen Sie!«

»Nur zu sehr, lieber Freund; ich weiß sehr gut, was Sie gethan haben. Wer hat sein Stückchen Land an die Papisten in Middlemarch verkauft? Ich glaube, Sie hatten es eigens zu dem Zwecke gekauft. Sie sind ja ein wahrer Guy Faux. Nehmen Sie sich nur in Acht, daß Sie nächsten 5. November nicht in effigie verbrannt werden. Humphrey wollte nicht zu Ihnen gehen, um Sie darüber zur Rede zu stellen, so bin ich statt seiner gekommen.«

»Sehr gut! Ich war darauf gefaßt, dafür verfolgt zu werden, daß ich nicht zu den Verfolgern gehöre – nicht zu den Verfolgern gehöre, wissen Sie.«

»Gehen Sie mir, das ist so eine Phrase, mit der Sie in Ihren Wahlreden Effekt machen wollen Lassen Sie sich nicht zu Wahlreden verleiten, mein lieber Herr Brooke. Ein Mann macht sich immer zum Narren, wenn er sich auf's Redenhalten legt. Es giebt keine andere Entschuldigung dafür, als wenn Sie zur conservativen Partei gehören und sich den göttlichen Segen für Ihr Gestotter erbitten können. Sie werden sich selbst dabei verlieren, ich warne Sie im Voraus. Sie werden ein schlechtes Ragout von Ansichten aller Parteien auftischen und von allen Parteien gesteinigt werden.«

»Darauf bin ich gefaßt, wissen Sie,« entgegnete Herr Brooke, welcher die Frau Pfarrerin nicht gern merken lassen wollte, wie wenig angenehm ihm diese Prophezeihung war, »gefaßt als ein unabhängiger Mann. Und was Ihre Behauptung in Betreff der Whigs anlangt, so hat ein Mann, der auf der Seite der Denker steht, wenig Aussicht, von irgend einer Partei in Beschlag genommen zu werden. Er kann darum doch mit einer oder der anderen Partei bis zu einem gewissen Punkte zusammen gehen –, bis zu einem gewissen Punkte, wissen Sie; aber das könnt Ihr Frauen nie verstehen.«

»Wo Ihr gewisser Punkt anfängt? Nein! Ich möchte mir wohl von Ihnen erklären lassen, wie ein Mann irgend einen gewissen Punkt haben kann, wenn er keiner Partei angehört, also ein Nomadenleben führt und seinen Freunden nie seine Adresse mittheilt. ›Kein Mensch weiß, auf welche Seite Brooke sich stellt‹ – ›Auf Brooke ist nicht zu zählen‹ –, so reden, offen gestanden, die Leute von Ihnen. Ich bitte Sie um Alles in der Welt, werden Sie doch respectabel. Wie wird es Ihnen nachher gefallen, in die Gerichtssitzungen zu gehen, wenn alle Leute Sie scheel ansehen und Sie mit einem bösen Gewissen und leeren Taschen dasitzen müssen?«

»Ich habe gar nicht die Prätension, mich mit einer Dame in eine politische Diskussion einzulassen,« entgegnete Herr Brooke mit einer indifferent lächelnden Miene; aber mit einem recht unbehaglichen Gefühl, welches in ihm durch das Bewußtsein erregt wurde, daß mit diesem Angriffe von Frau Cadwallader für ihn der Defensiv-Feldzug eröffnet sei, welchen er durch einige unvorsichtige Schritte heraufbeschworen hatte. »In Ihrem Geschlechte finden sich keine Denker, wissen Sie – › varium et mutabile semper‹ – und was dahin gehört. Sie kennen Virgil nicht, ich kannte« – Herr Brooke besann sich noch zu rechter Zeit, daß er kein persönlicher Bekannter des Augusteischen Dichters gewesen sei – »ich meine den armen Stoddard, wissen Sie. Von ihm rührt nämlich jene Aeußerung her. Ihr Frauen habt nie Sinn für eine unabhängige Haltung und für die Gesinnungen seines Mannes, der sich um nichts als um die Wahrheit kümmert und was dergleichen mehr ist. Und es giebt in der ganzen Grafschaft keine Gegend, wo engherzigere Gesichtspunkte herrschen, als gerade hier. Ich rede von keiner bestimmten Person, wissen Sie; aber Einer muß doch auch hier die unabhängige Richtung vertreten, und wer soll das thun, wenn ich es nicht thue?«

»Wer? Nun, meinetwegen jeder beliebige Emporkömmling, der weder Familie noch Stellung hat. Leute von Rang sollten ihren Unabhängigkeitsunsinn zu Hause verzehren und nicht damit herumhökern. Und Sie, der Sie im Begriff stehen, Ihre Nichte – die ja so gut ist wie Ihre Tochter – an einen unserer besten Männer zu verheirathen! Es würde Sir James höchst unangenehm sein, es wäre auch wirklich zu hart für ihn, wenn Sie sich jetzt durch ein Aushängeschild als Whig bekennen wollten.«

Herr Brooke seufzte wieder innerlich; hatte er doch, sobald Dorotheen's Verlobung eine beschlossene Sache war, sofort an die voraussichtlichen Spottreden Frau Cadwallader's gedacht! Mit den Verhältnissen unbekannte Beobachter hätten leicht sagen können: »Lassen Sie es doch auf einen Streit mit Frau Cadwallader ankommen«; aber wo wäre der Landedelmann, der sich gern in einen Streit mit seinen ältesten Nachbarn einließe. Wer hätte das feine Aroma, das in dem Namen Brooke lag, herauskosten können, wenn ihm derselbe zufällig wie Wein ohne Etiquette entgegengebracht worden wäre? Sicherlich kann ein Mann nur bis zu einem gewissen Punkte Kosmopolit sein.

»Ich hoffe, Chettam und ich werden immer gute Freunde bleiben, aber ich muß Ihnen leider sagen, daß wenig Aussicht zu seiner Heirath mit meiner Nichte vorhanden ist,« erwiderte Herr Brooke, der sich sehr erleichtert fühlte, als er durch das Fenster Celia kommen sah.

»Warum denn nicht?« fragte Frau Cadwallader in einem scharfen Tone der Ueberraschung »Es sind ja kaum vier Tage her, daß Sie sich mit mir darüber unterhalten haben.«

»Meine Nichte hat sich für einen anderen Bewerber entschieden – hat sich für ihn entschieden, wissen Sie. Ich habe nichts damit zu thun gehabt. Ich würde Chettam den Vorzug gegeben und geglaubt haben, daß Chettam ein Mann sei, für den sich jedes Mädchen, wenn es zu wählen hätte, entscheiden würde. Aber in diesen Dingen sind Mädchen ganz unberechenbar. Ihr Geschlecht ist launenhaft, wissen Sie!«

»Nun, wer ist es denn, den Sie sie heirathen lassen wollen?« Frau Cadwallader ließ die möglichen Bewerber um Dorotheen's Hand rasch vor ihrem geistigen Auge Revue passiren.

Aber in diesem Augenblick trat Celia, deren frisches Aussehen durch einen Spaziergang im Garten noch erhöhet war, ein, und ihre Begrüßung mit Frau Cadwallader überhob Herrn Brooke der Nothwendigkeit, die Frage der Letzteren sogleich zu beantworten. Er stand auf und wackelte mit den Worten: »Da fällt mir ein, ich muß noch mit Wright über die Pferde sprechen,« rasch zum Zimmer hinaus.

»Mein liebes Kind, was ist denn das für eine Geschichte mit der Verlobung Ihrer Schwester,« fragte Frau Cadwallader die eben eingetretene Celia.

»Sie ist mit Herrn Casaubon verlobt,« antwortete Celia, welche sich über die Gelegenheit, die Frau Pfarrerin allein sprechen zu können, freute, indem sie sich nach ihrer Gewohnheit auf eine einfach thatsächliche Angabe beschränkte.

»Das ist ja schrecklich! wie lange ist denn die Sache schon im Gange?«

»Ich habe erst gestern etwas davon erfahren. Die Hochzeit soll in sechs Wochen sein.«

»Nun, mein liebes Kind, ich gratulire Ihnen zu Ihrem neuen Schwager.«

»Es thut mir so leid um Dorothea.«

»Leid? Ich denke doch, es ist ihre eigene freie Wahl.«

»Ja, sie sagt, Herr Casaubon habe eine große Seele.«

»Das will ich gern zugeben.«

»O, Frau Cadwallader, ich kann es mir nicht angenehm vorstellen, einen Mann mit einer großen Seele zu heirathen.«

»Nun, mein Kind, lassen Sie sich das als Warnung dienen. Sie wissen jetzt, wie ein Mann mit einer großen Seele aussieht; wenn nun noch einer kommt und Sie heirathen will, so lehnen Sie seinen Antrag ab.«

»Das würde ich ganz gewiß thun.«

»Nein wahrhaftig; Einer von der Sorte in der Familie ist ganz genug. Ihre Schwester hat sich also nie etwas aus Sir James Chettam gemacht? Wie würde der Ihnen als Schwager gefallen haben?«

»O sehr gut. Ich bin überzeugt, der würde ein guter Ehemann geworden sein. Nur,« fügte Celia mit einem leichten Erröthen hinzu, – bisweilen schien sie das bloße Athmen erröthen zu machen, – »nur glaube ich nicht, daß er für Dorothea gepaßt haben würde.«

»Nicht hochtrabend genug für sie, wie?«

»Dora ist sehr streng in ihrem Urtheile. Sie denkt über Alles soviel nach und nimmt es so genau mit jedem Worte, das Jemand spricht. Sir James schien ihr nie zu gefallen.«

»Sie muß ihn aber doch ermuthigt haben, und das macht ihr nicht grade sehr viel Ehre.«

»Bitte, seien Sie nicht böse auf Dora, sie sieht ja die Dinge nicht wie ein anderer Mensch. Sie hat sich so viel mit den Arbeiterwohnungen beschäftigt und war doch bisweilen förmlich grob gegen Sir James; aber er ist so gut, er nahm nie Notiz davon.«

»Nun,« sagte Frau Cadwallader, indem sie ihren Shawl wieder umnahm und aufstand, als ob sie eilig sei, »ich muß gradeswegs zu Sir James und ihm diese Nachricht mittheilen. Er wird eben mit seiner Mutter nach Hause zurückgekehrt sein, da muß ich einen Besuch machen. Ihr Onkel würde es ihm nie sagen. Die Sache ist für uns Alle eine große Enttäuschung, mein liebes Kind. Junge Leute sollten beim Heirathen auch ein wenig an ihre Familien denken. Ich selbst habe ein schlechtes Beispiel gegeben, als ich einen armen Geistlichen heirathete und mich zu einem Gegenstande des Mitleids für die de Bracy's machte, – in meiner kümmerlichen Lage, wo ich genöthigt bin, mir meine Kohlen durch eine Kriegslist zu verschaffen und den Himmel um mein Salatöl zu bitten. Indessen Casaubon hat Geld genug, die Gerechtigkeit muß ich ihm wiederfahren lassen. Was seine Herkunft anlangt, so besteht sein Familienwappen, glaube ich, aus drei Dintenfischen auf schwarzem Grunde und einem aufrechtstehenden Commentator. Beiläufig, liebes Kind, ehe ich fortgehe, muß ich mit Ihrer Frau Carter über Pastetenteig reden. Ich möchte meine junge Köchin zu ihr schicken, damit sie etwas von ihr lerne. Arme Leute mit vier Kindern, wie wir, wissen Sie, können keine gute Köchin halten. Frau Carter thut mir das gewiß zu Gefallen. Sir James' Köchin ist ein wahrer Drache.«

 

In weniger als einer Stunde hatte Frau Cadwallader Frau Carter für sich gewonnen und war zu Sir James Chettam nach Freshitt Hall gefahren, welches nicht weit von ihrer eigenen Wohnung entfernt lag, da ihr Mann sein Domicil in Freshitt hatte und sich in Tipton einen Vikar hielt.

Sir James Chettam war von seiner mehrtägigen Reise grade zurückgekehrt und hatte eben Toilette gemacht, um nach Tipton-Hof hinüberzureiten. Sein Pferd stand schon gesattelt vor der Thür, als Frau Cadwallader vorfuhr, und er selbst erschien sofort, die Peitsche in der Hand. Lady Chettam war noch nicht zurückgekehrt; aber Frau Cadwallader konnte sich ihrer Mission nicht in Gegenwart des Reitknechts entledigen; sie bat Sir James daher, sie in das dicht bei dem Hause befindliche Treibhaus zu bringen, wo sie sich die neuen Pflanzen ansehen möchte, und hier sagte sie, indem sie that, als ob sie die Blumen in Augenschein nehme:

»Ich habe Ihnen eine schlimme Nachricht mitzutheilen; ich hoffe, Sie sind nicht ganz so verliebt, wie Sie es mich glauben machen wollen.«

An die eigenthümliche Ausdrucksweise Frau Cadwallader's war Sir James schon gewöhnt. Aber ihre jetzige Anrede brachte ihn doch ein wenig aus der Fassung. Er konnte sich einer vagen Besorgniß nicht erwehren.

»Ich fürchte, Brooke wird sich schließlich doch noch bloß stellen. Als ich ihm grade in's Gesicht sagte, er habe die Absicht, sich als Candidat der Liberalen für Middlemarch aufstellen zu lassen, machte er eine verlegene Miene, wagte es nicht zu leugnen und sprach von seiner unabhängigen Richtung, und was dergleichen bekannte abgeschmackte Redensarten mehr sind.«

»Ist das Alles,« fragte Sir James aufathmend.

»Wie so,« fragte Frau Cadwallader in schärferem Tone, »Sie wollen doch nicht sagen, daß es Ihnen angenehm wäre, wenn Brooke in dieser Weise an die Oeffentlichkeit träte und sich zu einer Art von politischem Hansnarren machte?«

»Sollte man ihm davon nicht abrathen können? Ich glaube, er würde schon die damit verbundenen Kosten scheuen.«

»Das habe ich ihm auch gesagt, an dieser verwundbaren Stelle kann man ihn noch am Besten fassen; bei Allem, was er sagt und thut, kommt ja immer auf einen Gran gesunden Menschenverstand eine Unze Knickerei. Knickerei ist eine vortreffliche Familieneigenschaft; es giebt keinen besseren Ableiter gegen Verrücktheit als solche kleinen Verdrehtheiten. Und einen kleinen Sparren müssen sie doch Alle in der Brooke'schen Familie haben, sonst würden wir nicht erleben, was wir eben vor sich gehen sehen.«

»Was? Daß Brooke sich als Candidat für Middlemarch aufstellen läßt?«

»Nein, etwas Schlimmeres. Ich fühle mich wirklich ein wenig verantwortlich. Ich habe Ihnen immer gesagt, Dorothea Brooke würde eine so schöne Partie für Sie sein. Ich wußte wohl, daß sie sehr viel Unsinn im Kopfe habe, verschrobene methodistische Ideen. Aber solche Dinge pflegen sich bei Mädchen bald abzunutzen. Dieses Mal aber bin ich selbst sehr überrascht.«

»Was wollen Sie damit sagen, Frau Cadwallader,« fragte Sir James. Im ersten Moment fürchtete er, daß Dorothea fortgelaufen sein könne, um sich den Mährischen Brüdern oder einer anderen albernen in der guten Gesellschaft unbekannten Secte anzuschließen, beruhigte sich aber dann wieder einigermaßen, als er sich erinnerte, daß Frau Cadwallader immer Alles im schlimmsten Lichte darzustellen pflege. »Was ist mit Fräulein Brooke geschehen? Bitte sprechen Sie es aus.«

»Nun denn. Sie hat sich verlobt.« Frau Cadwallader hielt einen Augenblick inne und beobachtete den Ausdruck tiefer Enttäuschung auf dem Gesichte ihres Freundes, welcher seine Gefühle vergebens hinter einem nervösen Lächeln zu verbergen suchte, während er sich mit der Peitsche aus den Stiefel klopfte; sie fügte aber alsbald hinzu: »Verlobt mit Casaubon.«

Sir James ließ seine Peitsche fallen und bückte sich, sie wieder aufzuheben. Vielleicht hatte sein Gesicht noch nie einen Ausdruck so concentrirten Widerwillens gezeigt, als da er sich jetzt wieder an Frau Cadwallader wandte und wiederholte: »Casaubon?«

»Ganz richtig. Sie kennen jetzt den Zweck meines Besuches.«

»Guter Gott, das ist furchtbar, der Mensch ist ja eine wahre Mumie,« – ein Gleichniß, das man schon einem blühenden, enttäuschten Liebhaber zu Gute halten muß.

»Sie sagt, er sei eine große Seele. – Ich sage, er ist eine große Schweinsblase, in der getrocknete Erbsen rasseln!« bemerkte Frau Cadwallader.

»Was braucht denn ein solcher alter Junggeselle sich noch zu verheirathen?« sagte wieder Sir James. »Er steht ja schon mit einem Fuße im Grabe.«

»Er scheint ihn aber wieder herausziehen zu wollen.«

»Brooke sollte die Sache nicht zugeben; er sollte darauf bestehen, daß die Heirath wenigstens aufgeschoben würde, bis Dorothea mündig ist. Bis dahin würde sie auf vernünftigere Gedanken kommen. Wozu ist denn ein Vormund da?«

»Als ob Brooke jemals zu einem Entschluß zu bringen wäre!«

»Cadwallader könnte einmal mit ihm reden.«

» Der, nein! Humphrey findet alle Menschen charmant. Ich kann ihn nie dahin bringen, auf Casaubon zu raisonniren. Er spricht ja sogar gut vom Bischof, wenn ich ihm auch noch so viel sage, daß das für einen bepfründeten Geistlichen ganz unnatürlich ist; was kann man mit einem Manne anfangen, der so wenig Sinn für Schicklichkeit hat? Ich suche das so viel wie möglich wieder gut zu machen, indem ich selbst nach Herzenslust auf alle Menschen raisonnire. Kommen Sie, lassen Sie doch den Kopf nicht so hängen! Danken Sie doch Gott, daß Sie das Fräulein auf so gute Art los geworden sind, ein Mädchen, das von Ihnen verlangt haben würde, die Sterne am hellen Tage zu sehen! Unter uns, die kleine Celia ist zwei Dorotheen werth, und schließlich wahrscheinlich die bessere Partie. Denn die Heirath mit Casaubon ist ja so gut, als wenn Dorothea in's Kloster ginge.«

»O denken Sie nicht an mich, ich habe nur das Interesse Fräulein Brooke's im Sinne, wenn ich die Ansicht ausspreche, daß ihre Freunde ihren Einfluß gegen die Heirath geltend machen sollten.«

»Nun, Humphrey weiß noch nichts davon; aber Sie können sich darauf verlassen, daß, wenn ich es ihm erzähle, er sagen wird: ›Warum denn nicht? Casaubon ist ein guter Kerl und noch jung, völlig jung genug‹. Diese milden Charaktere merken nie den Unterschied zwischen Wein und Essig, bis sie diesen für jenen getrunken und die Kolik danach bekommen haben. Aber so viel weiß ich, wenn ich ein Mann wäre, würde ich Celien den Vorzug geben, – besonders wenn Dorothea nicht mehr zu haben wäre. Die Sache ist nämlich die, daß Sie der Einen den Hof gemacht und die Andere gewonnen haben. Glauben Sie mir, Celia verehrt Sie beinahe so sehr, wie ein Mann es nur immer wünschen kann. Wenn Ihnen das eine Andere als ich sagte, so könnten Sie es vielleicht für Uebertreibung halten. Leben Sie wohl.«

Sir James geleitete Frau Cadwallader an den Wagen und bestieg dann sein Pferd. Die unwillkommene Mittheilung seiner Freundin veranlaßte ihn nicht, auf seinen beabsichtigten Ritt zu verzichten, sondern nur eine andere Richtung als die nach Tipton-Hof einzuschlagen.

 

Warum in aller Welt hatte sich Frau Cadwallader überhaupt so lebhaft für Dorotheen's Verlobung interessirt und warum hatte sie, nachdem das Zustandekommen einer Partie, zu welcher sie behülflich sein zu können geglaubt hatte, vereitelt war, sofort daran gedacht, eine andere Partie zu Wege zu bringen. Lag diesem Verfahren etwa ein schlau ersonnenes Complott und ein verstecktes Manövriren zu Grunde, welche bei genauer Beobachtung hätten entdeckt werden können? Durchaus nicht. Ein mit dem besten Fernrohre bewaffneter Beobachter, welcher Tipton und Freshitt, das ganze von Frau Cadwallader durchfahrene Gebiet, auf einmal hätte überschauen können, würde doch keinen Besuch, welcher den mindesten Verdacht erregen könnte, und keine Scene zu beobachten gehabt haben, von der sie nicht mit derselben ungetrübten Lebhaftigkeit des Auges und derselben Frische der Farben zurückgekehrt wäre.

Wenn dieses bequeme Wägelchen in den Tagen der sieben Weisen schon existirt hätte, würde Einer derselben unzweifelhaft die Bemerkung gemacht haben, daß es die Erforschung des Charakters einer Frau nur wenig fördern könne, wenn man ihr bei ihren Fahrten in ihrem Ponywagen folge. Selbst bei der Betrachtung eines Wassertropfens durch ein Mikroskop begegnet es uns, in unserem Urtheile fehl zu gehen; denn wenn wir z. B. durch eine schwache Linse zu sehen glauben, daß ein Thier mit einer aggressiven Gefrässigkeit zu Werke gehe, welcher andere kleinere Geschöpfe sich bereitwillig zum Opfer darbringen, als wären sie ebenso viele lebendige Tributpfennige, enthüllt eine stärkere Linse unserem Auge gewisse ganz feine Härchen, welche das Wasser in eine für die Opfer verderbliche wirbelnde Bewegung versetzen, während der Vielfraß ruhig die Einnahme des ihm zukommenden Tributs erwartet. Auf diese Weise werden wir, bildlich gesprochen, wenn wir eine starke Linse auf Frau Cadwallader's Ehevermittlungsthätigkeit anwenden, ein Spiel kleiner Ursachen erkennen, deren Wirkungen wir als die Gedankens und Redewirbel bezeichnen können, aus denen sie die Art von Nahrung schöpfte, deren sie bedurfte.

Ihr Leben verlief im Ganzen einfach, ohne verderbliche oder sonst irgendwie bedeutsame Geheimnisse zu bergen und ohne bewußter Weise von den großen Angelegenheiten der Welt berührt zu werden; desto lebhafter interessirten sie die Angelegenheiten der großen Welt, wie sie ihr gelegentlich in Briefen vornehmer Verwandten mitgetheilt wurden. Die Art, wie bezaubernd liebenswürdige jüngere Söhne sich durch eine Ehe mit ihren Maitressen zu Grunde gerichtet hatten; die Schwachköpfigkeit des jungen, einer uralten Familie angehörenden Lord Tapir und die Wuthanfälle des gichtischen alten Lord Megatherium; die Kreuzung der Stammbäume, durch welche eine Grafenkrone einem neuen Zweige zugefallen war und dadurch dem Scandal neue Nahrung geboten hatte, – das waren Gegenstände, deren Einzelheiten Frau Cadwallader haarklein im Gedächtnisse behielt und in vortrefflichen kleinen Epigrammen wieder an den Mann zu bringen verstand, Gegenstände, welche ihr selbst um so größeres Vergnügen machten, je fester sie von dem Werthe einer vornehmen Abkunft durchdrungen war.

Nie würde sie Jemanden seiner Armuth wegen verleugnet haben; ein de Bracy, der durch Dürftigkeit genöthigt gewesen wäre, aus einer zinnernen Schüssel zu essen, würde ihr als ein edler Dulder erschienen sein, dessen Schicksal nicht laut genug verkündet werden könne, und selbst seine aristokratischen Laster würden sie, fürchte ich, nicht an ihm irre gemacht haben. Aber ihre Gefühle gegen die reichen Plebejer glichen einer Art von religiös fanatischem Hasse. Hatten sie doch Alle höchst wahrscheinlich ihr Geld durch hohe Detailpreise verdient, und Frau Cadwallader haßte hohe Preise bei Allem, was nicht in Natura im Pfarrhause entrichtet wurde. Solche Leute gehörten offenbar gar nicht zu Gottes Schöpfungsplane, – und ihre Aussprache war eine wahre Marter für die Ohren. Eine Stadt, in welcher solche Ungeheuer in Menge herumliefen, konnte kaum für mehr als ein niedriges Possenspiel gelten, welches in einem für die gute Gesellschaft erdachten Plane des Universums unmöglich beabsichtigt sein konnte.

Möge jede schöne Leserin, welche etwa geneigt sein sollte, hart über Frau Cadwallader zu urtheilen, gewissenhaft die Grenzen des Gebiets abstecken, welches ihre Lebensanschauungen umfassen, und sie wird finden, daß dieses Gebiet grade groß genug ist, um alle Diejenigen in sich aufzunehmen, welche die Ehre haben, ihr gesellschaftlich gleichzustehen.

Wie konnten bei einem so phosphorartig beweglichen Geiste, der jedem Gegenstande, welcher in sein Bereich kam, eine ihm zusagende Gestalt gab, die Fräulein Brooke's und ihre Heirathsaussichten Frau Cadwallader anders als lebhaft interessiren, besonders da es ihre langjährige Gewohnheit war, Herrn Brooke mit der freundschaftlichsten Offenheit zurecht zu setzen und ihm im Vertrauen zu sagen, daß sie ihn für einen armseligen Tropf halte.

Von dem Augenblicke an, wo die jungen Mädchen aus ihrer Schweizer Pension nach Tipton zurückgekommen waren, hatte sie in ihrem Sinne die Heirath Dorotheen's mit Sir James beschlossen und würde sich, wenn die Heirath zu Stande gekommen wäre, fest überzeugt gehalten haben, daß es ihr Werk sei; daß diese Heirath nun nicht zu Stande kommen sollte, nachdem sie dieselbe beschlossen hatte, das versetzte sie in eine Aufregung, für welche jeder Kenner des menschlichen Herzens Mitgefühl empfinden wird. Sie war der Diplomat von Tipton und Freshitt und betrachtete einen Fall, wo etwas ohne ihre Zuthun geschah, als eine für sie beleidigende Abweichung von der gewohnten Ordnung. Für solche verrückte Einfälle wie dieser Schritt Dorotheen's einer war hatte Frau Cadwallader vollends keine Nachsicht und sah jetzt ein, daß sie sich in ihrem Urtheile über dieses Mädchen von der schwachmüthigen Milde ihres Mannes habe anstecken lassen. Jenen methodistischen Grillen, der Prätension noch religiöser sein zu wollen als der Pfarrer und der Vikar zusammen, lag ein so eng mit der ganzen Organisation des Mädchens zusammenhängender Mangel zu Grunde, wie sie sich es bisher nicht hatte eingestehen wollen.

»Laß sie,« sagte sich Frau Cadwallader und wiederholte es ihrem Manne, »ich gebe sie auf. Wenn sie Sir James geheirathet hätte, wäre möglicherweise noch eine verständige Frau aus ihr geworden. Er würde ihr nie widersprochen haben, und wenn eine Frau auf keinen Widerspruch stößt, so hat sie keinen Grund, auf ihren Absurditäten zu beharren. Aber jetzt wünsche ich ihr Glück zu ihrem härenen Gewande.«

Die ganz natürliche Folge dieses Ereignisses war, daß Frau Cadwallader nun auf eine andere Partie für Sir James bedacht sein mußte, und da sie entschlossen war, ihn jetzt mit der jüngeren Schwester zu verheirathen, hätte sie sich keiner geschickteren Wendung zur Erreichung ihres Zweckes bedienen können, als indem sie dem Baronet zu verstehen gab, daß er einen Eindruck auf Celien's Herz gemacht habe. Die Übersetzung hat die hierauf folgende Passage ausgelassen:
      For he was not one of those gentlemen who languish after the unattainable Sappho's apple that laughs from the topmost bough – the charms which
      »Smile like the knot of cowslips on the cliff,
      Not to be come at by the willing hand.«
      He had no sonnets to write, and it …
Es konnte ihn nicht angenehm berühren, daß das Mädchen, welchem er den Vorzug gegeben hatte, ihm einen Andern vorzog, und so hatte die Nachricht, daß Dorothea Casaubon gewählt habe, seiner Neigung schon einen argen Stoß versetzt. Obgleich Sir James ein leidenschaftlicher Jagdliebhaber war, hatte er doch andere Empfindungen für Frauen als für Birkhühner und Füchse und betrachtete sein künftiges Weib nicht im Lichte einer Beute, deren vorzüglichster Werth in der durch sie hervorgerufenen Aufregung der Jagd bestehen würde. Im Gegentheil hatte er jene liebenswürdige Eitelkeit, welche uns mit denen verknüpft, die uns lieben und uns denen abgeneigt macht, die sich gleichgültig gegen uns verhalten, und hatte eine gute dankbare Natur; der bloße Gedanke, daß ein Weib ihm freundlich gesinnt sei, spann kleine Fäden der Zärtlichkeit zwischen seinem und ihrem Herzen.

So geschah es, daß Sir James, nachdem er eine halbe Stunde lang ziemlich rasch in einer dem Wege nach Tipton-Hof entgegengesetzten Richtung geritten war, langsamer zu reiten anfing und endlich in einen Weg einlenkte, der ihn in kürzerer Zeit wieder nach Hause zurückbringen sollte. Verschiedene Gefühle arbeiteten in ihm und brachten ihn endlich doch zu dem Entschlusse, heute nach Tipton-Hof zu gehen, als ob nichts vorgefallen wäre. Er konnte nicht umhin, sich darüber zu freuen, daß er Dorotheen nie einen Antrag gemacht und daher auch keinen Korb von ihr erhalten habe; schon die bloße Höflichkeit verlangte es, daß er einen Besuch mache, um mit Dorotheen wegen der Arbeiterwohnungen zu sprechen, und nun war er ja auch glücklicher Weise durch Frau Cadwallader darauf vorbereitet, erforderlichenfalls ohne allzu große Verlegenheit seinen Glückwunsch darzubringen.

Die Sache that ihm wirklich leid; Dorothea aufgeben zu müssen, war sehr schmerzlich für ihn, aber in dem Entschlusse, alle seine Gefühle zu bezwingen und sofort diesen Besuch zu machen, lag für ihn eine Art von Beschwichtigungsmittel, und ohne daß er sich dieses Antriebes klar bewußt gewesen wäre, wirkte auf ihn unzweifelhaft auch die Vorstellung, daß Celia zugegen sein und daß er ihr mehr Aufmerksamkeit zuwenden werde, als er es bisher gethan hatte.

Wir Sterblichen, Männer und Frauen, schlucken Alle manche bittere Enttäuschung zwischen Frühstück und Mittagessen herunter, drängen unsere Thränen zurück, sehen ein wenig bleich aus und antworten, wenn wir gefragt werden, was uns fehle: »O Nichts!« Stolz hilft uns, und der Stolz ist kein verächtlich Ding, so lange er uns nur antreibt, unsere eigenen Kränkungen, nicht die Kränkungen Anderer zu verbergen.



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