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Elftes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 11:

But deeds and language such as men do use,
And persons such as comedy would choose,
When she would show an image of the times,
And sport with human follies, not with crimes.

Ben Jonson: Everyman in His Humour.


Lydgate war in jenem Augenblicke schon von einem Mädchen bezaubert, welches von Fräulein Brooke grundverschieden war; er meinte zwar keineswegs sein moralisches Gleichgewicht verloren zu haben und verliebt zu sein, aber er hatte von diesem Mädchen gesagt: »Sie ist die Grazie selbst, sie ist höchst anmuthig und reizend. So muß eine Frau sein, sie muß auf uns wirken wie herrliche Musik.«

Häßliche Frauen betrachtete er, wie die übrigen schweren Probleme des Lebens, als einen Gegenstand philosophischer Resignation und wissenschaftlicher Forschung Aber Rosamunde Vincy schien ihm den echten Reiz einer schönen Melodie zu haben und wenn ein Mann einmal das Mädchen gefunden hat, welches er gewählt haben würde, wenn er die Absicht gehabt hätte, sich bald zu verheirathen, so hängt die Fortdauer seiner Junggesellenschaft gewöhnlich mehr von ihrem als von seinem Entschlusse ab.

Lydgate glaubte, er werde sich noch in den nächsten Jahren nicht verheirathen, nicht eher, als bis er sich selbst einen sicheren, von der breiten Heerstraße abliegenden Weg gebahnt haben würde. Er kannte Fräulein Vincy fast schon eben so lange Zeit, wie Casaubon gebraucht hatte, sich zu verloben und zu verheirathen; aber dieser gelehrte Herr besaß ein Vermögen; er hatte Bände voll Notizen gesammelt, und hatte sich jene Art von Ruf erworben, welche der Ausführung einer Arbeit voran geht – jenen Ruf, welcher so oft den Hauptbestandtheil des Ruhms eines Mannes bildet. Er nahm sich, wie wir gesehen haben, eine Frau, auf daß sie ihm das noch übrige Viertel seines Lebens verschönere und ihm als ein kleiner Mond leuchte, welcher eine kaum berechenbare Störung seines Kreislaufs verursachen würde.

Aber Lydgate war jung, arm und ehrgeizig. Er hatte noch nicht, wie Casaubon, sein halbes Jahrhundert hinter sich und war mit der Absicht nach Middlemarch gekommen, viele Dinge zu unternehmen, welche nicht direkt darauf abzielten, ihm ein Vermögen zu schaffen, oder auch nur ihm ein gutes Einkommen zu sichern. Für einen Mann in solchen Verhältnissen bedeutet seine Verheirathung etwas mehr als eine Frage der Verschönerung des Lebens, wie hoch er auch diese schätzen möge, und Lydgate war geneigt, sie als die höchste Aufgabe einer Frau zu betrachten.

Nach seiner aus einer einzigen Unterhaltung geschöpften Ansicht war dies der Punkt, wo Fräulein Brooke, trotz ihrer unleugbaren Schönheit, zu wünschen übrig ließ. Sie betrachtete die Dinge nicht aus dem nach seiner Ansicht für Frauen angemessenen Gesichtspunkte. Die Gesellschaft solcher Frauen schien ihm ungefähr eine so gute Erholung, wie wenn man nach schwerer Arbeit daran gehen müßte, Lectionen in Quinta zu geben, anstatt sich in einem Paradiese auszuruhen, in welchem liebliches Lachen den Vogelgesang und blaue Augen den Himmel verträten.

Im gegenwärtigen Augenblicke war für Lydgate die geistige Natur Fräulein Brooke's gewiß ebenso wenig wichtig, wie für Fräulein Brooke das Wesen des Mädchens, welches den jungen Arzt angezogen hatte. Aber Jeder, der aufmerksam beobachtet hat, wie die menschlichen Schicksale im Geheimen und langsam ihrer Verkettung entgegen gehen, weiß auch, wie sich die Einflüsse eines Lebens auf das andere sachte vorbereiten und erkennt darin eine bittere Ironie auf die Gleichgültigkeit und das frostige Anstarren, mit welchem wir unseren Nebenmenschen, wenn sie uns nicht vorgestellt sind, zu begegnen pflegen. Mit sarkastischem Lächeln steht das Schicksal, den Personenzettel unseres Lebensdrama's zusammengefaltet in der Hand, bei Seite.

Auch die damalige Gesellschaft in der Provinz zeigte vielfach die Spuren dieses leisen Wechsels der Geschicke. Sie hatte nicht nur ihre gewaltigen Schicksalsschläge; die Fälle, wo die beliebtesten jungen Dandies damit endigten, sich mit einem hergelaufenen Weibe und sechs Kindern in einer Mansardenkammer niederlassen zu müssen, sondern auch jene weniger in die Augen springenden Wechselfälle, welche die Grenzen des gesellschaftlichen Verkehrs beständig verrücken, und den Menschen fortwährend das Bewußtsein ihrer Abhängigkeit von einander aufdrängen. Einige sanken ein wenig, andere arbeiteten sich herauf; Leute, die ihre Muttersprache nicht richtig zu sprechen verstanden, wurden reich und stolze Herren candidirten als Abgeordnete von Wahlflecken; einige sahen sich von politischen, andere von kirchlichen Strömungen fortgerissen und fanden sich in Folge dessen vielleicht in wunderlicher Gesellschaft, während die wenigen Personen oder Familien, welche inmitten all dieser schwankenden Verhältnisse felsenfest standen, sich doch auch trotz ihrer Solidität allmälig umgestalteten und den zwiefachen Wechsel ihrer selbst und derer, welche sie beobachteten, zu erfahren hatten. Munizipalstädte und ländliche Kirchspiele knüpften langsam neue Verbindungen an, – langsam, wie die alten Strümpfe, in welchen früher die Ersparnisse aufbewahrt zu werden pflegten, den Sparbanken wichen und wie die Anbetung der alten Guinea Die › Guinee‹ war eine von 1663 bis 1816 in Umlauf befindliche britische Goldmünze, deren Wert seit 1717 auf 21 Schilling festgesetzt war, also ein Pfund und ein Schilling. Wegen ihres aristokratischen Nimbus wurden weiterhin viele Waren des gehobenen Bedarfs in Guineen ausgepreist. – Anm.d.Hrsg. verschwand – während Squires und Baronets und selbst Lords, welche einstmals in untadeliger Abgeschlossenheit gelebt hatten, sich eine nähere Berührung mit dem bürgerlichen Elemente zu Schulden kommen ließen. Auch neue Ansiedler kamen aus verschiedenen Grafschaften herbei, einige mit beunruhigend neuen Fertigkeiten, andere mit einem beleidigendem Vorsprung an Schlauheit.

In der That ging in Alt-England eine ähnliche Bewegung und Vermengung der Menschen vor sich, wie sie uns Herodot berichtet, welcher, bei seiner Erzählung dessen, was ehedem geschehen war, es auch angemessen fand, das Schicksal eines Weibes zum Ausgangspunkte zu nehmen; freilich war Jo, als ein offenbar durch schöne Geschenke verlocktes Mädchen Jo war in der griechischen Mythologie die Tochter des Flussgottes Inachos und der Melia. Sie war eine eine Priesterin der Hera, die sich von Zeus verführen ließ. – Anm.d.Hrsg., das Gegentheil von Fräulein Brooke und bot in dieser Beziehung vielleicht mehr Aehnlichkeit mit Rosamunde Vincy dar, die einen ausgezeichneten Geschmack für Toilette und jene nymphenartige Gestalt, jenes reine Blond des Haares und des Teints hatte, welches für die Mannigfaltigkeit des Faltenwurfes und der Farbe der Stoffe den freiesten Spielraum ließ.

Aber diese Dinge machten nur zum Theil ihren Reiz aus. Sie galt ihrer Zeit allgemein für die ausgezeichnetste Schülerin in Frau Lemon's Schule, der ersten Schule in der Grafschaft, wo Alles, was eine vollendete weibliche Bildung zu erfordern schien, selbst bis zu dem Benehmen beim Besteigen und Verlassen des Wagens gelehrt wurde. Frau Lemon hatte Fräulein Vincy immer als Beispiel aufgestellt: keine Schülerin, pflegte sie zu sagen, übertreffe diese junge Dame an Wissen und Schicklichkeit des Ausdrucks, während ihre musikalischen Leistungen ganz ungewöhnlich seien. Wir können nichts für die Art, wie die Leute sich über uns aussprechen, und wahrscheinlich würden Julie und Imogen Figuren aus Shakespeares Dramen »Romeo und Julia« und »Cymbeline«. – Anm.d.Hrsg., wenn Frau Lemon es unternommen hätte, diese Heldinnen zu schildern, nicht als poetische Wesen erschienen seien. Der erste Anblick Rosamunden's würde den meisten Beurtheilern genügt haben, jedes durch Frau Lemon's Lobeserhebungen erweckte Vorurtheil zu zerstreuen.

Lydgate konnte nicht lange in Middlemarch sein, ohne sich dieses angenehmen Anblicks zu erfreuen, ja, nicht ohne die Bekanntschaft der Familie Vincy zu machen; denn obgleich Herr Peacock, dessen Praxis er gegen eine Entschädigung übernommen hatte, nicht ihr Arzt gewesen war (da Frau Vincy das herabstimmende System, nach welchem dieser seine Patienten behandelte, nicht liebte), so hatte Lydgate doch viele Patienten unter ihren Verwandten und Bekannten. Denn wo hätte es in Middlemarch Jemanden von irgend welcher gesellschaftlichen Bedeutung gegeben, der nicht mit den Vincy's verwandt oder doch wenigstens bekannt gewesen wäre? Sie waren von Alters her Fabrikanten und machten seit drei Generationen ein angesehenes Haus, so war es wohl natürlich, daß viele Heirathen zwischen Mitgliedern der Familie Vincy und mehr oder weniger für »gentil« geltenden Nachbarn stattgefunden hatten. Herrn Vincy's Schwester hatte eine reiche Partie durch ihre Verheirathung mit Herrn Bulstrode gemacht und dieser hatte, als ein nicht in der Stadt geborener Mann von etwas dunkler Herkunft, nach der Meinung der Leute wohl daran gethan, sich mit einer echten middlemarcher Familie zu verbinden; andererseits hatte Herr Vincy eine Gastwirthstochter, mithin ein wenig unter seinem Stande geheirathet. Aber auch dieser Verbindung fehlte das versöhnende Element des Geldes nicht; denn Frau Vincy's Schwester war die zweite Frau des reichen alten Herrn Featherstone gewesen und war schon vor Jahren kinderlos gestorben, so daß für ihre Neffen und Nichten Hoffnung vorhanden war, das Herz des Wittwers zu gewinnen.

Und nun traf es sich, daß Herr Bulstrode und Herr Featherstone, zwei der bedeutendsten Patienten Peacock's, beide aus verschiedenen Gründen seinen Nachfolger, dessen Erscheinen viele Erörterungen und sogar Parteiungen hervorgerufen, besonders gut aufgenommen hatten. Herr Wrench, der Arzt der Familie Vincy, hatte schon sehr bald nach Lydgate's Auftreten Veranlassung gehabt, von der berufsmäßigen Discretion desselben gering zu denken, und es gab kein Gerücht über Lydgate, welches nicht im Vincy'schen Hause, wo viele Gäste ein- und ausgingen, verhandelt worden wäre. Herr Vincy war im Ganzen geneigter mit allen Leuten gut Freund zu sein, als eine bestimmte Partei für oder gegen Jemanden zu nehmen; aber es lag kein Grund für ihn vor, sich mit der Bekanntschaft eines neu angezogenen Mannes zu übereilen.

Rosamunde wünschte im Stillen, ihr Vater möge Herrn Lydgate einladen. Sie war der Gesichter und Gestalten, an die sie von jeher gewöhnt war, der verschiedenen unregelmäßigen Profile, der charakteristischen Gangart und Ausdrucksweise der jungen Middlemarcher, welche sie schon seit ihren Knabenjahren kannte, überdrüssig. In der Schule war sie mit vornehmeren Mädchen zusammengewesen, für deren Brüder sie sich nach ihrer Ueberzeugung lebhafter würde haben interessiren können, als für diese unvermeidlichen jungen Middlemarcher. Sie zog es vor, ihrem Vater ihren Wunsch nicht mitzutheilen, und er seinerseits hatte, wie gesagt, keine Eile mit der Sache. Ein Alderman, dem die Mayorswürde bevorsteht, muß auf Erweiterung seiner Mittagsgesellschaften gefaßt sein, für jetzt aber saßen noch Gäste genug an seinem wohlbesetzten Tische.

Auf diesem Tische standen die Reste des Familienfrühstücks oft noch lange, nachdem Herr Vincy mit seinem zweiten Sohne in's Geschäft gegangen, und nachdem Fräulein Morgan in ihren Lectionen der jüngeren Kinder im Lehrzimmer schon weit vorgerückt war. Diese Reste warteten auf den Faullenzer in der Familie, der jede Art von Unbequemlichkeit, die er Anderen bereitete, geringer fand, als die aufzustehen, wenn er gerufen wurde.

So war es auch an einem Morgen jenes October, in welchem wir Herrn Casaubon seine Besuche auf Tipton-Hof machen sahen. Obgleich das Frühstückszimmer ein wenig überhitzt war, was den Wachtelhund veranlaßt hatte, keuchend eine entferntere Ecke aufzusuchen, war doch Rosamunde aus einem bestimmten Grunde länger als gewöhnlich mit ihrer Stickerei sitzen geblieben, welche sie von Zeit zu Zeit mit einem kleinen Schauer in den Schooß legte und mit einer Miene zaudernder Ermüdung betrachtete. Ihre Mama, welche eben von einem Gange in die Küche zurückgekehrt war, saß an der anderen Seite des kleinen Arbeitstisches mit einem Ausdrucke vollkommneren Seelenfriedens, bis sie, als die Uhr sich wieder zu schlagen anschickte, von ihrer Handarbeit, einer Spitze, die sie mit ihren runden Fingern ausbesserte, aufblickte und die Glocke zog.

»Klopfen Sie doch noch einmal an Herrn Fred's Thür, Pritchard, und sagen Sie ihm, daß die Uhr halb elf geschlagen hat.«

Frau Vincy sagte das, ohne daß der strahlende Ausdruck guter Laune in ihrem Gesichte, in welches ihre fündundvierzig Jahre weder perpendiculäre noch horizontale Falten gegraben hatten, im mindesten darunter gelitten hätte, und legte dann, indem sie ihre rosa Haubenbänder zurückschob, ihre Handarbeit in den Schooß, um sich der bewundernden Betrachtung ihrer Tochter zu überlassen.

»Bitte Mama,« sagte Rosamunde, »laß Fred, wenn er zum Frühstück herunter kömmt, keine Häringe geben. Ich kann es nicht ertragen, wenn das ganze Haus schon so früh morgens danach riecht.«

»O, liebes Kind, Du bist so hart gegen Deine Brüder! Das ist das einzige, was ich an Dir auszusetzen habe. Du hast das beste Temperament von der Welt, und doch bist Du so reizbar gegen Deine Brüder.«

»Nicht reizbar, Mama, Du hörst mich gewiß nie etwas unfreundlich sagen.«

»Nun ja, aber Du willst ihnen Manches vorenthalten.«

»Brüder sind so unangenehm.«

»O, liebes Kind, Du mußt mit jungen Männern Nachsicht haben. Sei dankbar dafür, daß sie gute Herzen haben. Frauen müssen lernen Kleinigkeiten leicht zu ertragen. Du wirst Dich doch einmal verheirathen.«

»Aber nicht mit einem Manne, der so ist wie Fred.«

»Bring' Deinen eigenen Bruder nicht in Verruf, liebes Kind. Es giebt wenige junge Leute, gegen welche sich so wenig sagen ließe, wenn er auch sein Examen nicht hat machen können, warum, begreife ich offen gestanden nicht; denn mir scheint er doch ein höchst talentvoller Mensch zu sein. Und Du weißt ja selbst, wie er auf der Universität zu den besten Gesellschaften eingeladen wurde. Aber Du, liebes Kind, bist auch so eigen! – Du solltest froh sein, einen so gentilen jungen Mann zum Bruder zu haben. An Robert hast Du immer auszusetzen, daß er nicht wie Fred ist.«

»O nein, Mama, nur daß er Robert ist.«

»Nun, liebes Kind, Du wirst keinen jungen Mann in Middlemarch finden, gegen den sich nicht etwas sagen ließe.«

»Aber« – bei diesen Worten zeigte sich auf Rosamunden's Gesicht ein Lächeln, welches plötzlich zwei Grübchen zu Tage förderte. Sie selbst mochte diese Grübchen nicht, und pflegte deshalb in größerer Gesellschaft wenig zu lächeln.

»Aber ich werde keinen jungen Mann aus Middlemarch heirathen.«

»So scheint es, liebes Kind. Denn Du hast ja den höchsten Nummern unter ihnen so gut wie einen Korb gegeben, und wenn es einen bessern Mann giebt als diese, so existirt gewiß kein Mädchen, das ihn mehr verdiente, als Du.«

»Nimm es nicht übel, Mama, ich möchte aber, Du sagtest nicht ›die höchsten Nummern‹.«

»Warum, was sind sie denn anders?«

»Ich meine den Ausdruck, Mama, der ein Bischen gar zu vulgär ist«

»Das mag wohl sein, liebes Kind, ich habe mich nie auf eine gewählte Sprache verstanden. Was sollte ich denn sagen?«

»Die besten unter ihnen.«

»Warum denn, der Ausdruck scheint mir eben so häßlich und gewöhnlich. Wenn ich es mir überlegt hätte, würde ich gesagt haben: ›Die feinsten jungen Männer‹. Aber Du mit Deiner Erziehung mußt es besser wissen.«

»Was muß Rosy wissen?« fragte Fred, der, während die Damen über ihre Arbeiten gebeugt dasaßen, unbemerkt durch die halboffne Thür in's Zimmer geschlüpft war, und jetzt an das Kamin trat, sich mit dem Rücken gegen dasselbe stellte und die Sohlen seiner Pantoffeln daran wärmte.

»Ob es richtig ist, zu sagen: ›die feinsten jungen Männer‹,« antwortete Frau Vincy, indem sie wieder die Klingel zog.

»Ach es giebt jetzt so viele ›feinste‹ Thee- und Zuckersorten. ›Fein‹ wird nachgrade ein Ladenjargon-Ausdruck.«

»Seit wann bist Du denn ein Feind von Jargon?« fragte Rosamunde mit mildem Ernst.

»Nur ein Feind von der falschen Art von Jargon. Alle besondern Ausdrücke sind Jargon und bezeichnend für eine bestimmte Gesellschaftsklasse.«

»Es giebt correctes Englisch, welches kein Jargon ist.«

»Bitte um Vergebung, correctes Englisch ist der Jargon der naseweisen Patrone, welche Geschichte und Essays schreiben. Und der stärkste Jargon von Allen ist der Jargon der Dichter.«

»Dir kommt es nicht darauf an, Fred, was Du sagst, wenn es Dir nur scheinbar zum Beweis einer Behauptung dient.«

»Nun, sag' mir doch, ob es Jargon oder Poesie ist einen Ochsen ›schleppfüßig‹ zu nennen.« –

»Natürlich kannst Du es Poesie nennen, wenn Du willst.«

»Oho, Fräulein Rosy, Sie wissen Homer nicht von Jargon zu unterscheiden. Ich werde ein neues Spiel erfinden; ich werde kleine Sätze aus den Classikern und Andere in Jargon auf Zettel schreiben und sie Dir geben, um sie zu sondern.«

»Weiß Gott, es ist doch höchst amüsant, junge Leute reden zu hören!« sagte Frau Vincy im Tone freudiger Bewunderung.

»Haben Sie nichts anderes für mich zum Frühstück, Pritchard?« fragte Fred den Diener, der eben Kaffee und geröstetes Brot mit Butter hereinbrachte, indem er dabei um den Tisch herumging und sich den darauf stehenden Schinken, das gehackte Ochsenfleisch und andere Reste von kalter Küche, mit einer Miene stillen Mißvergnügens und höflicher Enthaltung von Aeußerungen des Widerwillens betrachtete.

»Haben Sie Lust zu Eiern, Herr?«

»Eier, nein, lassen Sie mir ein Hühnerbein rösten.«

»Wahrhaftig, Fred,« sagte Rosamunde, als der Diener das Zimmer verlassen hatte, wenn Du durchaus warme Speisen zum Frühstück haben mußt, so solltest Du doch früher hinunter kommen. Du kannst doch um sechs Uhr morgens aufstehn, wenn Du jagen willst, ich begreife nicht, warum Du es so schwer findest, auch an andern Tagen früher aufzustehn.«

»Das liegt an Deinem schwachen Begriffsvermögen, Rosy. Ich kann aufstehen, um zu jagen, weil es mir Vergnügen macht.«

»Was würdest Du von mir denken, wenn ich zwei Stunden später als Alle hinunter käme und gebratene Hühnerbeine beorderte?«

»Ich würde denken, daß Du eine sehr verwöhnte junge Dame seiest,« sagte Fred, indem er mit der größten Gemüthsruhe sein geröstetes Brod verzehrte.

»Ich sehe nicht ein, welches größere Recht Brüder haben, sich unangenehm zu machen, als Schwestern.«

»Ich mache mich nicht unangenehm, Du findest mich nur so. Unangenehm ist ein Wort, daß Deine Gefühle, aber nicht meine Handlungen bezeichnet.«

»Ich finde, es bezeichnet den Geruch von gerösteten Hühnerbeinen.«

»Durchaus nicht, es bezeichnet eine Sinnesempfindung in Deiner kleinen Nase, in Verbindung mit gewissen zimperlichen Ideen, welche Du in Frau Lemon's Schule eingesogen hast. Sieh Dir doch Mutter an, sie hat an Nichts als an dem, was sie selbst thut, etwas auszusetzen. Sie ist mein Ideal einer charmanten Frau.«

»Gott segne Euch Beide, liebe Kinder, streitet Euch doch nicht,« sagte Frau Vincy mit mütterlicher Herzlichkeit. »Komm, Fred, erzähle uns ein wenig von dem neuen Doctor, wie gefällt er Onkel Featherstone?«

»Ich glaube, ganz gut. Er thut Lydgate alle erdenklichen Fragen und schneidet dann, wenn dieser ihm antwortet, Gesichter, als wenn die Antworten ihn in die Zehen kniffen. Das ist so seine Manier. Ah, da kommt mein gebratenes Hühnerbein.«

»Aber, weshalb bist Du gestern Abend so spät nach Hause gekommen, lieber Fred? Du sagtest ja, Du wolltest nur Onkel besuchen.«

»O, ich habe bei Plymdale zu Mittag gegessen und nachher haben wir eine Partie Whist gemacht, Lydgate war auch da.«

»Und wie gefällt er Dir? Er ist, glaube ich, ein ächter Gentleman. Er soll von sehr guter Familie sein, – mit den besten Grafschaftsfamilien verwandt?«

»Ja,« sagte Fred, »bei John war ein Lydgate, der ungeheuer viel Geld ausgab. Und ich höre, daß dieser Lydgate ein Großcousin des Doctors ist. Aber reiche Leute können sehr arme Schlucker zu Großcousins haben.«

»Es macht doch immer einen Unterschied, ob Jemand von guter Familie ist,« sagte Rosamunde, in einem so sicheren Tone, daß man wohl merkte, sie habe über diesen Gegenstand näher nachgedacht.

Rosamunde fühlte, daß sie vielleicht glücklicher gewesen wäre, wenn sie nicht einen Middlemarcher Fabrikanten zum Vater gehabt hätte, und Alles, was sie daran erinnerte, daß der Vater ihrer Mutter ein Gastwirth gewesen, war ihr unangenehm. Jeder, dem diese Thatsache einfiel, mußte doch finden, daß Frau Vincy aussehe, wie eine sehr hübsche, freundliche an die capriciösesten Ordres der Gäste gewöhnte Gastwirthin.

»Es kam mir komisch vor, daß er Tertius heißt,« sagte die freundlich blickende Matrone, »aber es ist natürlich ein in der Familie üblicher Name. Und nun erzähle uns ordentlich, was für eine Art Mann er ist?«

»O, ziemlich groß, dunkel, gescheidt, spricht gut – macht sich etwas wichtig.«

»Ich kann nie recht dahinter kommen, was Du unter ›wichtig machen‹ verstehst,« sagte Rosamunde.

»Wichtig macht sich Einer, wenn er zeigen will, daß er seine eigenen Ansichten hat.«

»Aber, lieber Fred, Aerzte müssen doch ihre eigenen Ansichten haben,« sagte Frau Vincy. »Wozu anders sind sie denn da?«

»Ja, Mutter, die Ansichten für die sie bezahlt werden. Aber einer, der sich wichtig macht, thut immer, als wenn er Einem mit seinen Ansichten ein Geschenk machte.«

»Ich glaube, Mary Garth hat sehr viel für Herrn Lydgate übrig,« sagte Rosamunde, nicht ohne eine Nüance von kleiner Malice.

»Das weiß ich wahrhaftig nicht,« sagte Fred in etwas verdrießlichem Tone, indem er vom Tische aufstand, einen Roman, den er mit hinunter gebracht hatte, ergriff und sich damit in einen Lehnstuhl warf. »Wenn Du eifersüchtig auf sie bist, so gehe selbst öfter nach Stone-Court und mache sie todt!«

»Bediene Dich doch nicht so ordinärer Ausdrücke, Fred. Wenn Du fertig bist, bitte klingele.«

»Aber wahr ist es doch, was Dein Bruder sagt, Rosamunde,« fing Frau Vincy an, als der Diener abgedeckt hatte. »Es ist jammerschade, daß Du es nicht über Dich gewinnen kannst, Onkel öfter zu besuchen, so stolz, wie er auf Dich ist, und er wollte ja, daß Du ganz zu ihm zögest. Wer weiß, was er dann für Dich und für Fred gethan hätte. Gott weiß, wie gern ich Dich bei mir habe; aber ich kann mich auch von meinen Kindern trennen, wenn es zu ihrem Besten ist. Und jetzt kannst Du Dich darauf verlassen, daß Onkel Featherstone etwas für Mary Garth thun wird.«

»Mary Garth kann es in Stone Court wohl aushalten, weil ihr das besser gefällt, als Gouvernante zu sein,« sagte Rosamunde, indem sie ihre Arbeit zusammenlegte. »Lieber will ich nichts erben, als Onkels Husten und seine häßlichen Verwandten oft ertragen müssen.«

»Er kann nicht mehr lange leben, liebes Kind, ich möchte sein Ende nicht beschleunigen, aber mit seinem Asthma und seinem inneren Leiden, – wir wollen hoffen, daß er es in einer andern Welt besser bekommt. Und ich meine es gewiß nicht schlecht mit Mary Garth, aber es muß doch Alles gerecht in der Welt zugehen. Und Herrn Featherstone's erste Frau hat ihm kein Geld mitgebracht, wie meine Schwester. Die Nichten und Neffen der ersten Frau können nicht so viel Anspruch auf die Erbschaft machen, wie die Nichten und Neffen meiner Schwester. Und ich muß gestehen, ich finde, daß Mary Garth ein schrecklich häßliches Mädchen ist, das besser für eine Gouvernante paßt.«

»Darin werden Dir wohl nicht alle Leute beistimmen,« sagte Fred, welcher die Fähigkeit zu besitzen schien, zugleich zu lesen und zuzuhören.

»Nun, lieber Fred,« erwiderte Frau Vincy, indem sie eine geschickte Schwenkung machte, »wenn sie auch etwas erben sollte, – Männer, die arme Frauen nehmen, müssen ja ihre armen Verwandten mitheirathen, und die Garths sind ja so arm und leben so bescheiden. Aber ich will Euch Euren Studien überlassen, liebe Kinder, denn ich muß in die Stadt, um einige Einkäufe zu machen.«

»Fred's Studien sind nicht grade sehr tief,« sagte Rosamunde, indem sie zugleich mit ihrer Mutter aufstand, »er liest nur einen Roman.«

»Nun, nun, nachher wird er auch schon an sein Latein und die andern Geschichten gehn,« sagte Frau Vincy, indem sie ihrem Sohne das Haar beschwichtigend streichelte. »Ich habe dazu schon im Rauchzimmer heizen lassen. Du weißt, lieber Fred, Dein Vater wünscht es, und ich sage ihm immer, Du wirst ein guter Junge sein, und wieder auf die Universität gehen, um Dein Examen noch einmal zu machen.«

Fred zog die Hand seiner Mutter an die Lippen, sagte aber nichts.

»Du reitest heute wohl nicht aus,« sagte Rosamunde zögernd, kurz nachdem ihre Mama fortgegangen war.

»Du kannst morgen mit mir reiten, wenn Du Lust hast. Ich muß aber nach Stone Court, weißt Du.«

»Ach, ich reite so gern, daß es mir einerlei ist, wohin wir gehen.«

In Wahrheit wünschte Rosamunde grade nach Stone Court zu reiten.

»Hört einmal, Rosy,« sagte Fred, als sie im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, »wenn Du Dich an's Clavier setzest, sag' mir Bescheid, und laß mich ein paar Lieder mit Dir spielen.«

»Bitte, verlange das nur heute Morgen nicht von mir.«

»Warum denn grade heute Morgen nicht?«

»Ich möchte wirklich, Fred, Du gäbest es auf, Flöte zu blasen. Es sieht so albern aus, wenn ein Mann die Flöte bläst. Und Du spielst so aus dem Takt.«

»Das nächste Mal, wenn Jemand Ihnen den Hof macht. Fräulein Rosy, werde ich ihm sagen, wie verbindlich Sie sind.«

»Was hast Du für ein größeres Recht darauf, daß ich mich Dir durch anhören Deines Flötenspiels verbindlich erweise, als ich darauf, daß Du Dich mir dadurch verbindlich erweisest, daß Du nicht Flöte bläsest?«

»Und was hast Du für ein Recht darauf, daß ich mit Dir ausreite?«

Diese Frage führte eine gütliche Beilegung des geschwisterlichen Zwistes herbei, denn Rosamunde hatte sich grade auf diesen Ritt ganz besonders gespitzt.

So übte sie wohl beinahe eine Stunde mit ihrem Bruder »An Alexis send' ich Dich,« »Ich war, wenn ich erwachte« und andere Lieblingslieder aus seinem »Lehrmeister auf der Flöte,« deren Exercitium, wie der ganzen schnaufenden Beschäftigung Fred mit großem Ehrgeiz und nie ermattender Hoffnung auf Vervollkommnung oblag.



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