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Neunzehntes Kapitel.
Das Ende der Papiere

McManus war bei der Anklage, die von Traffords Lippen kam, auf die Füße gesprungen. Seine rechte Hand fuhr in die Seitentasche seines Rockes, und als Trafford ebenfalls aufsprang, ertönte der Knall einer Pistole, die jener, ohne sie aus der Tasche zu nehmen, abgefeuert hatte. Die Kugel ging dicht an Trafford vorbei, ihm den Ärmel seines Rockes durchlöchernd.

»Hände hoch oder ich schieße!« ertönte es da vom Fenster her, wo Traffords Gehilfe mit angelegter Pistole stand und auf McManus zielte.

Gleich bei Beginn der Erzählung hatte er das Fenster hochgeschoben und die Unterhaltung mit angehört. McManus sah zu Trafford hinüber, der ihn ebenfalls mit seiner Pistole deckte.

»Ich ergebe mich der Übermacht,« sagte er. »Aber Sie werden noch einsehen, daß alles dies nichts als ein grauenhafter Irrtum von Ihnen ist. Durchdringen werden Sie mit Ihrer Ansicht jedenfalls nicht.«

»Fesseln Sie ihn,« befahl Trafford. »Ich werde ihn mit der Pistole in Schach halten.«

McManus wandte sich dem Gehilfen zu, der sich ihm vom Fenster her näherte. Er schien seine Ruhe wiedererlangt zu haben, und ein kaltes Lächeln lag auf seinen Lippen. Dann fuhr plötzlich seine Hand – ohne die Tasche zu verlassen – mitsamt derselben in die Höhe; man bemerkte durch den Stoff, daß seine Hand eine kurze Wendung machte, und gleich darauf ertönte der von dem Stoff gedämpfte Knall der Pistole. McManus fiel, von eigener Hand durch das Herz geschossen, zu Boden. –

»Verwünschte Stümperei von uns,« rief Trafford, »daß wir das geschehen ließen. Ich höre Schritte auf der Treppe. Warten Sie noch eine Minute, ehe Sie öffnen.«

Er stürzte in das Schlafzimmer, ergriff dort eine zinnerne Büchse, die auf einem Tischchen neben dem Bett stand, und ließ sie aus dem Fenster in das dichte Gebüsch, das unten wuchs, hinabfallen. Er war zurück, noch ehe es an der Tür klopfte. –

Ganz Millbank fand in dieser Nacht wenig Schlaf. In den Straßen drängten sich die Leute, und die Geschichte der Tragödie, die Entdeckung des Täters und sein Selbstmord wurden immer aufs neue mit allen Einzelheiten erzählt. Und es war überraschend, wie viele Leute schon längst McManus in Verdacht gehabt und gefühlt hatten, daß er »durchaus nicht so gewesen wäre, wie er getan hätte«.

Frank Hunter fand sich als einer der allerersten im Hotel ein und lief unruhig aus dem Wohnzimmer ins Schlafzimmer und umgekehrt. Er schien etwas zu suchen, aber jedes Aufsehen vermeiden zu wollen. Trafford beobachtete ihn mit sonderbarem Gesichtsausdruck, als amüsiere er sich über das unbeholfene und verlegene Wesen des Mannes.

Als Charles Matthewson mit dem letzten Zug ankam und sich geradeswegs nach dem Hause Hunters begab, erhielt Trafford sogleich davon Kenntnis und entschloß sich, zum Handeln überzugehen. McManus' Selbstmord kam einem Bekenntnis gleich, und sein Besitz der Papiere war somit nicht länger zur Überführung erforderlich. Trafford war entschlossen, die Papiere mit erster Gelegenheit aus der Hand zu geben, und diese mußte sich nun, da Matthewson in der Stadt war, noch vor Tagesanbruch bieten. Er stahl sich hinaus, versicherte sich der Papiere und verbarg sie an einem besseren Versteck.

Gegen Mitternacht hatten sich die Gemüter so weit beruhigt, daß er Mrs. Parlins Aufforderung, sie zu besuchen und wenn möglich den Rest der Nacht in ihrem Hause zu verbringen, Folge leisten konnte. Die Büchse mit ihrem Inhalt, den er jetzt für sein ganzes Glück und die Belohnung seiner Leistung betrachtete, nahm er mit.

Mrs. Parlin war sehr begierig, die Geschichte zu erfahren, und erst geraume Zeit nach Mitternacht ließ sie ihn allein. Es stand ihm nunmehr nichts im Wege, seine Absicht zur Ausführung zu bringen. Wohl sagte ihm sein Verstand, daß er gut bis zum Morgen warten könne, zumal nur noch wenige Stunden dazwischen lagen, aber die Büchse mit den Papieren drückte auf ihn wie eine immer schwerer werdende Last und ließ nur einen Gedanken in ihm zur Geltung kommen: sie loszuwerden. Aus einem Fenster der Bibliothek bemerkte er, daß im Hause Hunters noch Licht brannte. Er entschloß sich daher, die Sache auf der Stelle zu erledigen.

Nachdem er mit der Kapsel unter dem Arm vorsichtig das Haus verlassen hatte, stürmte er den Hügel hinab, zu dessen Füßen die tiefen Schatten der großen lombardischen Pappeln lagen. Es deuchte ihm, als habe er die Schatten noch nie zuvor so schwarz gesehen wie in dieser Nacht. Als er in die Finsternis hineintrat, beschleunigte er seinen Schritt, bis er fast lief, und schon war er beinahe wieder ins hellere Freie gedrungen, als aus der Dunkelheit ein greller Feuerstrahl gegen ihn hervorbrach, dem noch tiefere Finsternis und das Schwinden seines Bewußtseins folgten.

Wie lange er am Wege unter den Pappeln gelegen, wußte er nicht; die erste Empfindung seines wiedererwachenden Bewußtseins war das sanfte, weiße Licht der aufgehenden Sonne. Das nächste Gefühl war eine Schwere im Kopf und eine Benommenheit, die in Schmerz überging. Schwach führte er seine Hand empor, und als er sie sinken ließ, war sie naß vor Blut.

Dann erinnerte er sich der Kapsel. Er tastete umher, und als er sie faßte, hatte er gerade noch die Kraft, sie an sich zu ziehen. Mit schwachen Händen hob er sie auf, da fiel der Deckel zurück und zeigte einen breiten Riß an der Stelle, wo er von den Haspen abgesprengt war. Mit der verzweifelten Kraft, die ein plötzlicher Schreck verleiht, richtete er sich empor und sah in das Innere – – es war leer; nicht ein Fetzen der Papiere war darin geblieben. Einen Augenblick lang blickte er in verständnisloser Bestürzung vor sich hin, dann, als ihm die Wahrheit aufging, fiel er zur Erde zurück und verlor zum zweiten Male das Bewußtsein.

Zu fast derselben Zeit, als Trafford den Verlust der Papiere entdeckte, schlich Henry Matthewson, aus der Richtung des Flusses herkommend, über die Felder, die zum Hunterschen Hause gehörten, und trat durch eine Seitentür in das Wohnhaus ein. Er begab sich geradeswegs in die Bibliothek, wo sein Bruder und die beiden Hunters bereits seit Stunden voller Unruhe beisammen waren und beratschlagten. Als er eintrat, sprangen die drei Männer überrascht auf die Füße; zunächst erstaunten sie über seine plötzliche Anwesenheit, dann noch mehr über sein Aussehen. Sein Gesicht war aschfahl und trug den Ausdruck, als habe er soeben einen schrecklichen Kampf bestanden, ohne daß es verriet, ob er Sieger oder Besiegter war.

»Du?« rief Charles Matthewson aus. »Ich habe die ganze Nacht hindurch versucht, dich zu erreichen.«

»Wie kommen Sie zu dieser Stunde hierher?« fragte Frank Hunter. »Es geht ja jetzt gar kein Zug.«

Charles Hunter sagte nichts, denn seine rasch durchschauende Menschenkenntnis und vielleicht auch seine Fähigkeit, alles zu wagen, was man in einem solch verzweifelten Falle nur wagen konnte, verrieten ihm mehr, als seine Gefährten sahen. Einen Augenblick lang zögerte er, dann – als er im Gesicht des Neugekommenen kein Nein las – sagte er: »Sie haben die Papiere gefunden.«

Die andern beiden stutzten und sahen zu den beiden Männern hin, von denen sie instinktiv fühlten, daß sie stärker waren als sie selbst.

»Ja,« sagte Henry Matthewson.

»Wo sind sie?« fragten Charles Matthewson und Frank Hunter zu gleicher Zeit.

Der andre antwortete nicht, und Charles Hunter wiederholte die Frage: »Wo sind sie?«

»Wo würden sie sein, wenn nicht ich, sondern Sie die Papiere vor einer halben Stunde gefunden hätten?« fragte Matthewson dagegen.

»Vernichtet!« rief Charles Hunter, ohne zu zögern.

»Sie sind da, wo sie uns niemals wieder bedrohen können, wenn nicht der Fluß sie wieder von sich gibt. Vor einer halben Stunde warf ich sie von der Brücke aus in das Becken unter den Fällen hinab.«

»Aber wo fanden Sie sie denn?« war Frank Hunters Frage.

Henry Matthewson antwortete nicht, da sah ihm Charles Hunter wieder prüfend ins Gesicht und – verstand; er sagte bloß: »Ist die Verletzung ernst?«

»Der Mann ist bloß betäubt,« sagte Henry, »es wird ihn schon jemand finden. Unter den Pappeln am Fuße des Parlinhügels liegt –«

»Henry! – Mein Gott!« schrie Charles Matthewson, hastig auf ihn zutretend. »Du hast doch nicht etwa –«

»Ich habe getan, was getan werden mußte, um die Papiere zu erlangen und uns – und unsre Mutter zu retten. Ich hoffe, daß unter uns keiner ist, der weniger getan haben würde. Niemand als ein Feigling konnte hier zögern, und ich nehme die Verantwortung für meine Tat voll auf mich.«

»Gott sei Dank, daß Trafford nicht tot ist!« rief Charles Matthewson aus.

»Amen,« sagte Henry und fügte hinzu, »aber die Papiere sind nun jedenfalls tot.«

 

Ende

 


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