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Dreizehntes Kapitel.
Die Erzählung des Priesters

Sie nahmen ihr Mittagessen an diesem Tage in Niekhals Wirtshaus an der Gabelungsstelle ein, und zwar speisten sie in einem Schuppen, der später in der Saison, wenn die Fremden kamen, den Namen Sommerküche zu tragen pflegte. Das Essen war sowohl hinsichtlich des Materials als auch der Zubereitung reichlich primitiv, aber der Hunger bildete die Sauce, die das Gericht schmackhaft machte. Ein ältlicher, müde und traurig dreinblickender Priester war ihr einziger Mitgast, und er überraschte sie während der Mahlzeit mit einem Blick, in dem Trafford deutlich den Wunsch las, mit ihnen zu reden. So stellte er sich denn nach beendeter Mahlzeit dem Geistlichen zur Verfügung, und dieser nahm die Gelegenheit sofort wahr.

»Kommen Sie aus der Gegend oberhalb des Flusses?« fragte er, und Trafford bejahte.

»Haben Sie auf Ihrem Wege ein Flößerlager bei den ersten Stromschnellen getroffen?«

»Ich habe in diesem Lager die Nacht zugebracht,« antwortete Trafford.

»So! – Wurde Ihre Nachtruhe durch etwas gestört?«

»Freilich; man machte den Versuch, einen Mörder zu ergreifen, der indessen in den Wald entkam, allerdings nicht ohne eine schwere Wunde erhalten zu haben.«

»Ich habe eine Botschaft an den Betreffenden, der den Versuch machte, den Mann zu verhaften.«

»Die Botschaft können Sie auch mir ausrichten,« sagte Trafford.

»Hm, Sie meinten vorhin, der Mann wäre ein Mörder. Mir liegt nichts daran, seinen Namen zu wissen, dagegen darf ich meine Botschaft nur einem ganz bestimmten Mann, den ich an seinem Namen erkennen soll, ausrichten. Vermögen Sie diese Bedingung zu erfüllen?«

»Wenn Sie meinen Namen wissen wollen – er lautet Trafford. Der Mörder versuchte erst, mich in der gedeckten Brücke bei Millbank zu berauben oder zu erschlagen, bevor er den eigentlichen Mord beging,« erwiderte der Detektiv.

»Ich hätte sonst nicht an Ihrer Rede gezweifelt,« antwortete der Priester mit einiger Würde, »aber wenn über denselben Gegenstand eine Beichte abgelegt worden ist, so bin ich gewiß, auf welcher Seite die Wahrheit liegt. Die Botschaft lautet, daß der Mann, von dem Sie vermuten, er sei ertränkt worden, durchaus nicht das Opfer eines Mordes geworden ist. Es war vielmehr ein einfacher Zufall. Der eine rettete mit Mühe und Not sein eigenes Leben und war dabei leider außerstande, dem andern zu helfen.«

»Auch so bleibt das Verbrechen bestehen,« erwiderte Trafford, »der andre hätte sehr wohl sein Leben retten können, wenn ihm nicht ein Schulterknochen zerschmettert worden wäre, und für diesen Unfall ist der Mann, der es leugnet, der Mörder zu sein, verantwortlich.«

»Aber er hat ihn nur aus Versehen verletzt,« warf der andre ein.

»Versehen – jawohl! Weil er den Mann, den er zu erschlagen beabsichtigte, verfehlte und dafür seinen Mordgefährten traf. Um zu rauben und wahrscheinlich auch zu morden, befand er sich auf der Brücke, und wenn der Tod seines Gefährten auch nur Zufall war, so rührt er doch von einer Verletzung des Gesetzes her, und dieser Umstand stempelt ihn zum Mord.«

»In den Augen des Richters vielleicht,« erwiderte der Priester. »Aber wir müssen auf die Absicht sehen. Der Mann beabsichtigte nicht, seinen Gefährten zu töten. Dieser ist nur durch einen Zufall gestorben.«

»Dürfen Sie mir die näheren Einzelheiten erzählen?« fragte Trafford, wohlweislich eine Diskussion vermeidend, die sich doch immer nur um denselben Punkt drehen konnte.

»Ein verwundeter Mann trat obdachsuchend in eine Hütte, in der ich schlief, – ohne Zweifel von der Heiligen Jungfrau geleitet. Er legte vor mir eine Beichte ab, die mit dem kirchlichen Siegel verschlossen ist. Aber er bat mich, Sie aufzusuchen und Ihnen diese Botschaft zu überbringen, und was er dabei sagte, will ich mich bemühen, getreulich zu wiederholen. Auf jener Brücke lauerte er nicht, um den Mann, nach dem er schlug, zu ermorden, sondern nur um ihn zu ergreifen und ihm gewisse Papiere abzunehmen. In der Finsternis, die auf der Brücke herrschte, schlug er in der Richtung eines Geräusches, das nach seiner Vermutung von dem Manne herrührte. Er mag stärker zugeschlagen haben, als in seiner Absicht lag; jedenfalls traf er statt des Fremden seinen Gefährten und zerschmetterte ihm den Schulterknochen. Nun mußten sie trachten, ungesehen in die Wälder zurückzugelangen, denn er fürchtete mit Recht, daß der entkommene Fremde sich an die Behörde wenden würde und daß die Verletzung seines Gefährten sie beide verraten müßte. Darum überredete er seinen Genossen, die Schmerzen noch so lange zu ertragen, bis sie einen sichern Ort erreicht hätten, und da sie nicht wagten, den Fluß an einer Stelle, wo man ihren Spuren folgen konnte, zu überschreiten, liefen sie nach dem Flußufer oberhalb der Fälle und folgten diesem, bis sie ein Boot fanden, in dem sie den Übergang versuchten.

Er hatte bloß ein altes und zerbrochenes Ruder zur Hand, aber ein Flößer kann mit allem rudern, und so hatten sie bald ohne sonderliche Schwierigkeit die Mitte des Flusses erreicht. Hier wandte er sich nun leider auf ein Stöhnen seines Gefährten nach diesem um und verfehlte dadurch, einen treibenden Baumstamm zu bemerken, der mit großer Gewalt gegen das Boot stieß und – was noch schlimmer war – ihm das Ruder aus der Hand schlug. Bevor er sich von seinem Schreck erholt hatte, war das Boot in die reißende Strömung oberhalb der Fälle getrieben und flog nun mit immer wachsender Geschwindigkeit den Fluß hinab. Sein Gefährte, durch das Brausen des Wasserfalls aufmerksam gemacht, schien zu denken, daß dies in seiner Absicht lag, denn er begann um Schonung zu bitten und laut um Hilfe zu rufen. Doch als ihm der andre zuschrie, was geschehen war und daß er machtlos wäre, den Sturz des Bootes über die Fälle zu verhindern, da sprang der Verwundete in die Höhe und mit einem Stoßgebet zu der Jungfrau und der heiligen Anna über Bord, gerade als das Boot in den weißen Gischt des Wasserfalls hineinfuhr. Der andre sprang nach der Spitze des Bootes, die scharf geradeaus schoß; dort stand er eine Sekunde lang, bis er fühlte, daß das Boot zu kippen begann; doch in demselben Moment sprang er über den Fall hinweg in das untere Wasser hinab und entkam durch ein Wunder den Felsen am Grunde. Wie Sie wissen, ist das Wasser dort sehr tief, so daß er, trotzdem er sank, nicht den Boden berührte. Er wurde durch den Cañon getrieben und landete schließlich glücklich an einer Stelle oberhalb der Eisenbahnbrücke. Er wußte, daß es zwecklos war, sich nach dem Boot oder seinem Gefährten umzusehen, und so kroch er am Ufer entlang wieder um die Fälle herum, besorgte sich ein andres Boot und gelangte endlich gegen Morgen unterhalb der Bombazeerips an Land. Und nachdem er das Boot ins Wasser zurückgestoßen hatte, schlug er sich in das Dickicht des Waldes hinein. Das ist alles, was ich Ihnen berichten darf.«

»Aber nicht alles, was Sie wissen,« sagte Trafford.

»Es ist alles, was ich weiß. Was ich sonst noch vernahm, hörte ich unter dem Siegel der Beichte und davon weiß ich nichts.«

Trafford sann eine Weile über die Geschichte nach. Seiner Gewohnheit gemäß, hütete er sich wohl vor einem eiligen Schluß für oder gegen den Mann. Es war sein Amt, die Wahrheit zu ergründen, und nicht, im voraus gebildete Meinungen zu bestätigen oder zu widerlegen.

Der Priester wartete ohne Anzeichen von Ungeduld, bis Trafford den Kopf erhob und sagte: »Ich glaube nicht, daß so etwas möglich ist.«

»Daß was nicht möglich ist?« fragte der Priester.

»Der Sprung aus dem Boot über die Fälle hinab.«

»Es ist mir von Augenzeugen erzählt worden, daß derartiges sich bereits ereignet hat.«

»Freilich,« sagte Trafford, »ich habe sogar selbst einen solchen Fall mitangesehen, aber da war es helllichter Tag, so daß der Mann sehen und den richtigen Augenblick für seinen Sprung abpassen konnte. Das Boot war zudem sehr lang, so daß es weit vor dem Kippen in die Luft hinausschoß. Der Mann war ferner auch sehr stark und gewandt, aber trotz alledem war das Ganze nichts als eine reine Glückssache.«

»Von Glück reden wir nicht,« sagte der Priester streng. »Das wollen wir lassen. Sie geben zu, daß es möglich ist, denn Sie haben es selbst erlebt. Ihr Mann war außerordentlich kräftig – gut, dieser war es auch. Ihr Mann hatte das volle Tageslicht, das ihm die tosenden Wellen, die angstvoll nach ihm starrenden Gesichter, das verschwindende Ufer und die kommende Gefahr zeigte. Dieser Mann dagegen hatte alle seine Sinne bis zur äußersten Fähigkeit angespannt. Der Schimmer des weißen Schaumes reichte hin, um ihn trotz der Dunkelheit erkennen zu lassen, wo er war. Dem einen waren seine Sinne zugewandt, nichts andres lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Er sprang um sein Leben. Und der Instinkt half ihm dabei. Jenem Manne, den Sie sahen, ist es möglich gewesen. Ich glaube, daß es auch diesem möglich war.«

In Trafford tauchte ein Gedanke auf. Dieser Priester konnte freilich das Geheimnis der Beichte nicht verraten, aber ebensowenig konnte er verhindern, daß das in der Beichte Gehörte seine Stellungnahme zu diesem Manne und der Geschichte beeinflußte. Er sah dem Priester voll ins Gesicht und fragte ernst, fast feierlich: »Schenken Sie dieser Erzählung vollen und unbedingten Glauben?«

Ohne zu zögern und sich zu besinnen, erwiderte der Priester: »Ja, vollen und unbedingten Glauben. Ich zweifle nicht, daß die Geschichte, die ich Ihnen erzählte, lautere Wahrheit ist. Und Sie wissen nun, wie der Tod des Mannes, den Sie für ermordet hielten, tatsächlich eingetreten ist.«

Trafford mußte selbst zugeben, daß er keinen Grund zu längerem Zweifel besaß. »Gut,« sagte er, »ich will Ihre Geschichte als einen Bericht von Tatsachen auffassen. Wo befindet sich der Mann, der zu Ihnen sprach?«

Der Priester lächelte und deutete mit der Hand nach dem nördlichen Horizont.

»Die Wildnis kann ich nicht durchforschen. Wollen Sie ihn finden, so müssen Sie den Wald befragen.«

»Nun noch eins,« sagte Trafford. »Bei den Flößern an den ersten Stromschnellen befindet sich ein Bursche, der mit Victor Vignon von Beauce kam. Victor, der sein Vetter ist, sollte ihn noch vor Johanni wieder zurückbegleiten. Er vertraut nun fest auf diese Verabredung und will nicht glauben, daß Victor tot ist. Er ist des Trostes und der Hilfe sehr bedürftig. Sein Name lautet Etienne Vignon.«

»Ich werde ihn aufsuchen,« sagte der Priester, »der Gedanke ist gut.«

Wenn er indessen gedacht hatte, nunmehr mit Trafford fertig zu sein, so kannte er den Detektiv schlecht.

»Von Beauce, denke ich,« sagte Trafford, flüchtig hinwerfend, »sagten Sie, wäre der verwundete Mann gekommen?«

Doch der Priester ließ sich nicht verblüffen.

»Ich erinnere mich nicht, das gesagt zu haben,« erwiderte er.

»Aber er kam von dort, nicht wahr?«

»Ich habe ihn nicht gefragt,« antwortete er kurz.

Über die Wunde des Mannes dagegen sprach er frei: sie sei schmerzhaft, aber nicht gefährlich, der kleinere Knochen am rechten Unterarm wäre gebrochen, aber er habe ihn wieder eingesetzt und meine, daß der Arm wieder heilen werde.

»Wenn der Mann zu Unrecht beschuldigt worden ist, so hoffe ich, daß sich das erweisen wird,« sagte Trafford. »Er geht nun wohl direkten Wegs nach Hause?«

Der Priester lächelte.

»Ich erwartete nicht, ihn jemals wiederzusehen. So hatte ich keinen Grund, ihn danach zu fragen.«

Trafford gewann die Überzeugung, daß der Priester durchaus auf seiner Hut sei und daß es nicht gelingen würde, ihn zu weiteren Aussagen zu bewegen, falls er noch etwas wußte, was Trafford aber auch bezweifelte. Daher empfahl er Etienne nochmals seiner Fürsorge und sah sich nach einem Fuhrwerk für die Fahrt nach Carrytunk um. Beim Scheiden sagte er: »Wenn ich auch Ihre Versicherung über die Unschuld dieses Mannes hinnehme, so ist es dennoch wahr, daß jemand ihn engagiert hat, mich zu berauben, und daß sein Gefährte bei dem Versuch hierzu sein Leben einbüßte. Er hat dieses nicht erzählen können, ohne gleichzeitig zu erwähnen, wer dieser jemand war, der ihn engagierte.«

Der Priester lächelte, aber nicht in einer Weise, die Trafford auf Auskunft hoffen ließ, und die Erfahrung hatte ihn in dieser Hinsicht klug gemacht.

»Wenn er mir noch sonst Mitteilungen machte,« erwiderte er, »die ich nicht wiederholt habe, so geschah es, um die Vergebung Gottes zu erlangen, und nicht, um die Strafe der Menschheit auf irgend einen herabzurufen. Der Zweck ist erreicht: die Worte sind nur von dem Priester, nicht aber von dem Menschen in mir vernommen worden!«

So war denn Trafford genötigt, von ihm abzulassen, nicht klüger als zuvor und im Ungewissen dazu, was er von dem Priester halten sollte; aber als sie auf Millbank zufuhren, prüfte er die Erzählung von allen Seiten auf das eingehendste und fragte schließlich seinen Gefährten: »Was halten Sie von dem Ganzen?«

»Nichts als ein Haufen Lügen, die man einem geschwätzigen Priester aufgebunden hat, damit er sie uns weitererzähle.«

»Dann halten Sie also den Burschen für einen schlauen Fuchs?«

»Durchaus nicht; man sieht ihm ja an, welch ein Tölpel er ist, gerade von jener Art, die man zu einem solchen Schurkenstreich zu verwenden pflegt.«

»Aber dennoch war er klug genug, diesen Priester zu betrügen.«

»Meinen Sie denn, der Priester schenke ihm Glauben?«

»Ohne Zweifel tut er das,« sagte Trafford, »und nicht mit Unrecht. An der Wahrheit der Erzählung des Burschen zu zweifeln, heißt nichts andres als glauben, er habe die Möglichkeit, daß der Priester uns treffen könne, in Betracht gezogen und dann frech eine für ihn heilige Einrichtung – die Beichte – benutzt, um eine ersonnene Geschichte in Umlauf zu setzen, die uns täuschen solle. Für so gerissen halte ich ihn nicht und ich glaube auch nicht, daß er bei seinem Glauben an die Kirche einen derartigen Frevel wagen würde.«

»Es scheint jetzt unsre Aufgabe zu sein, jedermann freizusprechen,« sagte der Gehilfe verdrießlich.

»Nun, es ist auch nicht unsre Aufgabe, andre Leute zu beschuldigen, sondern einfach die Wahrheit zu ergründen,« erwiderte Trafford. »Wir sind keine Untersuchungsrichter.«

»Aber unser Amt ist es, den Schuldigen herauszufinden.«

»Das wohl, aber wenn wir nicht ebensoviel tun, um die Unschuld des Schuldlosen wie um die Schuld des Schuldigen zu beweisen, dann tun wir unsre Pflicht nur halb. Es ist mir viel lieber, einen zu Unrecht Beschuldigten von dem Verdacht zu reinigen, als die Schuld eines angeblich Unschuldigen zu beweisen,« erwiderte Trafford.

»Mag sein, aber um solcher Leistungen willen zollt Ihnen die Welt keine Anerkennung. Wenn Sie es dazu bringen, daß ein Mann gehängt werden kann, dann glaubt die Welt, Sie hätten was Großes verrichtet; wenn Sie dagegen den Leuten beim Hängen Einhalt gebieten, dann tun die Leute, als habe man sie um etwas betrogen.«

»Nun, ich denke, wenn alles getan und erledigt ist, dann kommt es mehr darauf an, wie wir über unsre Leistung denken, als was die Welt dazu sagt. Wenn ich mit mir zufrieden bin – so recht ehrlich zufrieden – dann mag meinetwegen die Welt über mich denken, wie sie will.«

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