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Erstes Kapitel.
Die Entdeckung des Falles

Theodor Wing hatte – soweit man wußte – keinen Feind in der Welt. Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren, seinem Beruf nach Rechtsgelehrter und bereits für das Richteramt einer Grafschaft in Vorschlag gebracht worden. Er war unverheiratet geblieben, doch gab es im Städtchen noch so manche, die sich seinetwegen Hoffnungen machte, und unter den Jungfrauen Millbanks war kaum eine zu finden, die nicht zuweilen ein gütiges Wort oder ein Lächeln für ihn übrig gehabt hätte. Mitglied der Kirche war er freilich nicht, aber man erzählte sich, daß der Geistliche des Ortes milde über den Fall hinwegblickte, da Wing regelmäßig den Gottesdienst besuchte und für kirchliche Zwecke jederzeit Geld übrig hatte, was – wie einige boshafte Zungen behaupteten – bei manchem ordentlichen Kirchenmitgliede durchaus nicht der Fall war.

Wings Wohnhaus lag in der River Road, gerade auf dem Kamme des sogenannten Parlin-Hügels. Er war vor Jahren, als noch der alte Parlin an der Spitze des Hauptrichteramtes gestanden hatte, als junger Student von irgendwo im Osten nach Millbank gekommen, war dann in der Kanzlei des Alten nacheinander erster Assistent, Juniorteilhaber und endlich voller Teilhaber geworden, um schließlich, als der Alte starb – wie man sich erzählte, aus Enttäuschung darüber, daß er es nicht bis zum Grafschaftsrichter zu bringen vermochte – zum alleinigen Inhaber der Kanzlei aufzurücken und sie selbst zu repräsentieren.

Richter Parlin war bei seinem Tode noch nicht sechzig Jahre alt gewesen und hatte außer einer Witwe das nach ihm benannte Parlingehöfte und eine Menge Privatschulden hinterlassen, welch letztere an Umfang noch zuzunehmen schienen, als Wing den Versuch anstellte, die Sachlage zu entwirren. Seine Mitbürger hatten ihn alle für einen reichen Mann gehalten, denn seine Einnahmen waren groß und seine Ausgaben nur klein gewesen, und jedermann hatte gedacht, der alte Parlin wäre mindestens hunderttausend Dollar wert. Nun aber hatten sich seine Geldanlagen als der größte Humbug erwiesen, und sogar in Fällen, wo die Sicherheit eine reichliche sein mochte, waren die Papiere oft mit solcher Nachlässigkeit ausgefertigt worden, daß die Eintreibung der Gelder mehr von der Ehrlichkeit der Schuldner als von dem urkundlichen Beweise abhing. So kam es, daß schließlich die Schulden den Besitz um das Doppelte übertrafen. Allerdings nur scheinbar, denn eines Tages bekam man zu erfahren, daß das Parlingehöfte für eine Summe verkauft worden war, die nicht bloß zur Deckung aller Schulden hinreichte, sondern auch der Witwe ein lebenslängliches Jahreseinkommen von fünfhundert Dollars gewährte. Man war sich nicht recht klar, woher diese Wendung der Dinge rührte; erst als man erfuhr, daß Wing der Käufer des Hauses gewesen war, wurde der Zusammenhang begriffen.

Mrs. Parlin, die fünfzig Jahre gezählt hatte, als ihr Mann starb, war eine stattliche, ehrfurchterweckende Erscheinung mit weißem Haar. Von dem Augenblick an, da der Richter die Augen schloß, war die Hingabe, die sie ihm zu seinen Lebzeiten erwiesen, darauf gerichtet, seinen guten Namen wiederherzustellen und zu bewahren. Für Wing hatte sie schon immer, wenn auch in zurückhaltender, kühler Weise, Achtung empfunden; doch als nun sein Eingreifen das Mittel bildete, die Schuldenlast ihres Mannes zu tilgen, verwandelte sich ihre Achtung in stärker ausgeprägte Zuneigung. Sie hegte durchaus keinen Verdacht, daß der für das Haus gezahlte Preis über den eigentlichen Wert desselben hinausging. Es war ja nicht nur ihr Heim während ihres ganzen Lebens an der Seite des Richters gewesen, sondern dieser hatte auch selbst häufig von dem Wert des Gehöftes gesprochen und hierbei den Mund so voll genommen, wie es seine Gewohnheit war, wenn er von persönlichen Angelegenheiten redete, und auch Wing selbst hatte ihr sogleich, nachdem ihm die Sachlage klar geworden war, den Gedanken eingeredet, daß das Gehöfte einen zur Deckung der Schulden hinreichenden Preis einbringen würde. Sie wähnte sogar ein Opfer zu bringen, als sie ihre Zustimmung zu dem Verkauf des Hauses gab, und freute sich bloß darüber, daß Wing und nicht ein Fremder der Käufer war.

Es ist möglich, daß ihr hinsichtlich der Jahresrente, die sie erworben, einiger Verdacht in den Sinn kam, und die Forderung, die Wing beharrlich an den Kauf des Hauses knüpfte, nämlich, daß sie daselbst auf Lebenszeit ihr Heim haben solle, konnte sie bloß in diesem Verdacht bestärken. Doch wenn dem auch so war, so zeigte sie sich weitherzig genug, um verstehen zu können, daß ihr ferneres Glück und Wohlergehen – sofern ein solches ihrem jetzigen halben Leben überhaupt noch zuteil werden konnte – die höchste Anerkennung bildete, die sie einem solchen Manne gewähren konnte, und so hatte sie in den fünf Jahren, die seit dem Tode des Richters verstrichen waren, dem Haushalte Wings leitend vorgestanden.

Das zu dem Hause gehörige Besitztum umfaßte zwanzig Acres, die zu nahezu gleichen Teilen aus Ackerboden, Wiesen und Wald bestanden. Der ganze westlich der River Road gelegene Teil wurde durch einen Obstgarten gebildet, der mit seinen Apfelbäumen den Abhang des Hügels von der Straße bis zum Flusse bedeckte. Der Boden dieser Gegend fällt in südwestlicher Richtung bergab, so daß im Sommer die unzähligen gelben und roten Früchte, die der Stolz von Millbank sind, den ganzen Tag hindurch den warmen Glanz der Sonne empfangen, und die Äpfel aus dem Garten von Parlin galten als das Beste, was Millbank geben konnte.

Das Haus lag nahe der Straße auf der östlichen Seite derselben. In dieser Gegend nun pflegt im Winter der Schnee so reichlich zu fallen, daß es unmöglich ist, die von der Straße weiter abliegenden Häuser dagegen zu schützen. Man hatte daher die einzelnen Gebäude des Hofes durch ein fortlaufendes Dach miteinander verbunden, so daß es – wollte man zu den Speichern oder den Vorräten gelangen – nicht erforderlich war, sich eigens einen Weg durch den Schnee zu bahnen. Von dem groß angelegten, quadratisch gebauten Hauptgebäude führte ein langer Seitenflügel nach dem geräumigen Holzschuppen, aus dem man wieder zu den Scheunen gelangte. Die Wände der Gebäude waren alle weiß gekalkt, ihre Fensterläden grün getüncht. Von der Landstraße her führte ein breiter Fahrweg nach der Südseite des Hauses und von dort weiter bis vor die Türen der Scheunen und Schuppen.

Zwischen der Straße und der Front des Hauses lag eine Einfriedigung von der Größe eines halben Acres – der Vorderhof, wie man es in Millbank nennt. Von der Pforte desselben führte ein Fußweg zum Haupteingang des Hauses, wodurch die Einfriedigung in zwei fast gleiche Teile zerlegt wurde. Diese Einfriedigung war mit Blumenbeeten und Gebüschen dicht bedeckt, die Wege darin mit Hecken umsäumt, und einige hohe Kiefern ragten bis über das Dach des Hauses, wodurch an dunklen Tagen der Platz ein düsteres Aussehen erhielt.

Durch den Vordereingang des Hauses trat man in die Haupthalle ein, die sich in gemächlicher Breite nach hinten erstreckte, bis sie mit der schmäleren Halle, die von der Südseite herführte, zusammentraf. In dieser Seitenhalle befand sich die Treppe, während östlich davon das Speisezimmer, die Küchen und Speisekammern lagen. Die verengerte Fortsetzung der Haupthalle führte zwischen dem Speisezimmer im Süden und der Küche im Norden bis auf den Holzschuppen hinaus. Links vom Eintretenden lag das große, selten benutzte Wohnzimmer sowie ein weiteres Zimmer, das mit seinen nach Norden blickenden Fenstern der dunkelste Raum des Hauses war.

In dem Winkel, den die beiden Hallen bildeten, lag das große Gemach, das Wing als Bibliothek benutzte. Es war etwa vierundzwanzig Fuß breit und sechsunddreißig Fuß lang, war hochgebaut, und seine Fenster boten einen sonnigen Ausblick nach Süden und Westen. Rings an den Wänden war es mit Büchern und Gemälden bedeckt, ein großes Pult befand sich in der Mitte, und Lehnsessel sowie leichte Stühle standen rings in einladender Unordnung umher. Das darüber liegende Zimmer wurde von Wing als Schlafgemach benutzt, da neben demselben das Badezimmer lag, das zu jenen Zeiten noch von ganz Millbank angestaunt und bewundert wurde. Eine eiserne Wendeltreppe führte von dem unteren Raum in den oberen, so daß der Bewohner dieser Zimmer ganz unabhängig vom übrigen Hause war. Und hier lag Wings eigenstes Reich. Außerhalb der beiden Räume herrschte Mrs. Parlin ebenso unbeschränkt wie während der dreißig Jahre ihres Ehestandes. Hier innen dagegen war er Alleinherrscher.

Spät in der Nacht vom 10. Mai des Jahres 1880 war in der Bibliothek Theodor Wings noch Licht zu sehen. Ganz Millbank nahm daran Anstoß, daß sich solches öfters ereignete; man war es in der Stadt gewohnt, die Nacht als eine Zeit zu betrachten, zu der kein Mensch zu arbeiten habe. »Früh zu Bett und früh wieder auf,« lautete der Wahlspruch, und obwohl die entgegengesetzte Lebensweise Theodor Wings ihn mit viel mehr Reichtum, Gesundheit und Weisheit versehen hatte, als die meisten Millbanker aufzuweisen vermochten, war es ihm doch nie gelungen, seine Mitbürger zu seiner Methode zu bekehren. In dieser Nacht aber gestaltete sich die Sache noch schändlicher als gewöhnlich. Mrs. Merrick, die gegen Mitternacht vom Bett eines erkrankten Enkelkindes heimkehrte, warf einen Blick nach dem Hügel hinauf und sah das Licht noch brennen. Der alte Doktor Portus, der eine Stunde später auf dem Heimweg von einem Krankenbesuch dem Dorfe zuwanderte, bemerkte, als er am Hause vorüberschritt, ebenfalls das Licht und schüttelte, ein schlimmes Ende prophezeiend, den Kopf.

Erst um vier Uhr morgens, als ein Farmerssohn, der die Nacht den Vergnügungen Millbanks gewidmet hatte, nun eiligen Schrittes nach seiner Farm zurückkehrte, war kein Licht mehr zu erblicken, das die Aufmerksamkeit des Mannes auf eine Szene hätte richten können, die später entdeckt werden sollte.

Um sechs Uhr morgens nämlich kam der einzige Mietsknecht, den es auf dem Hofe gab, die Hintertreppe herabgeschritten und ging durch den Holzschuppen nach den Scheunen. Hier schob er den schweren Holzpflock, der die großen Türen geschlossen hielt, zur Seite und stieß diese auf, um die frische Morgenluft hereinzulassen.

Zufällig glitt sein Blick über die Umrisse des Hauses hinweg, und da bemerkte er etwas, das ihn stutzig machte. Die Seitentüre des Hauses stand halb offen, und auf der steinernen Stufe lag ein umhüllter Klumpen, der fast wie ein halb liegender, halb kriechender Mann aussah. Und bevor der Knecht die Hälfte des Wegs bis zur Tür zurückgelegt hatte, wußte er bereits, daß der umhüllte Klumpen niemand anders als Theodor Wing war. Sein Kopf und sein rechter Arm ruhten auf der Türschwelle, wodurch die Tür halb offen gehalten wurde, sein Körper lag auf der steinernen Stufe. Der weiße Anstrich des einen Türpfostens war mit Blut bespritzt, und die linke Schläfe des Mannes, die nach oben lag, zeigte einen Flecken, um den das Fleisch wie von einem Pulverbrand geschwärzt war; zwischen Kopf und Türschwelle sickerte ein dünner Blutstreifen und fiel tropfenweise auf den Stein herab. Die Augen standen weit offen und schienen zu sagen, daß der Tod, so plötzlich er auch gekommen war, diesem Mann doch noch Zeit zu der Erkenntnis gelassen hatte, daß jetzt das Ende all seiner Hoffnungen und Bestrebungen eingetreten sei, in einer Weise, die es ihm unmöglich machte, auch nur ein Glied zu seiner Rettung zu rühren.

Dieser Mord war bei weitem das tragischste Ereignis, das die Geschichte von Millbank aufzuweisen hat. Es rief in der Stadt um so mehr Schrecken hervor, als niemand begreifen konnte, welch ein Beweggrund zu der Tat vorgelegen hatte. Es war nicht bekannt, daß Theodor Wing irgend einen Feind in der Welt besaß. In Millbank war man stolz auf ihn und beglückwünschte sich selbst, einen solchen Mitbürger zu haben. Und dennoch war dieser Mann von Mörderhand niedergestreckt worden in solcher Stille, daß kein Laut zu vernehmen gewesen, und der Mörder war davongegangen, wie er gekommen war, ohne eine Spur seines Kommens und Gehens zu hinterlassen.

Entgegen der Erwartung, die man auf die ersten Nachrichten hin hegte, schien das Haus nicht betreten worden zu sein. Das ganze Verbrechen beschränkte sich auf den toten Mann, der auf der Steinstufe lag. Augenscheinlich hatte der Unbekannte die Glocke gezogen, dann auf Wing, als dieser, die Türe öffnend, auf die Schwelle getreten war, aus nächster Nähe abgedrückt, um nach erreichter Absicht in der alles verbergenden Dunkelheit zu entkommen. Das Ganze wirkte höchst unheimlich auf die Gemüter und rief ein Gefühl von Unsicherheit hervor, das ein gewöhnlicher Mord aus erkennbaren Gründen wohl kaum verursacht haben würde.

Die eingehendsten Untersuchungen führten zu keinem Resultat. Auf dem Fahrweg war keine Fußspur zu entdecken, und das Gras vor der Schwelle, wo der Mörder gestanden haben mußte, wies keinerlei Anzeichen auf. Und dennoch mußte – was eine zweite furchtbare Tatsache war – die Tat von jemand, der das Haus und seine Eigentümlichkeiten kannte, vollbracht sein. Die Türe nämlich hatte zwei Klingelzüge – an jedem Pfosten einen. Ursprünglich war bloß an dem rechten Türpfosten eine Glocke gewesen, welche für das ganze Haus gegolten hatte. Erst als Wing die Bibliothek zu seinem Spezialzimmer erwählte, hatte er die Glocke nach seinem Zimmer hinüberleiten lassen, damit seine täglichen zahlreichen Besucher kommen und gehen konnten, ohne das ganze Haus in Störung zu versetzen. Binnen kurzem jedoch erwies sich auch diese Einrichtung als nicht praktisch, weil auch die andern Besucher meistens an diese Türe kamen, und Wing gab daher den Auftrag, wieder eine allgemeine Glocke einzurichten. Diese sollte nach seiner Absicht ihren Platz auch an dem rechten Türpfosten haben; die Handwerker jedoch, die es augenscheinlich nicht für richtig hielten, daß ein Pfosten zwei Klingelzüge habe, brachten den neuen Zug am linken Pfosten an. Auf diese Weise trug der dem Zimmer Wings zunächst liegende Pfosten den Zug der allgemeinen Glocke und der andere den Zug zu Wings Glocke, und keine von beiden war an einer andern als der für sie bestimmten Stelle zu vernehmen. Da hatte es denn anfangs unliebsame Irrtümer gegeben, sodaß Wing oft davon redete, die Sache umändern zu lassen; aber die Besucher des Hauses hatten sich nach und nach daran gewöhnt, so daß die geplante Abänderung nicht mehr erforderlich erschien.

Es war somit klar, daß der Mörder, wer er auch gewesen war, die Glocke gezogen hatte, die nur an dem Pulte des Anwalts zu hören war, und daß er also mit der Eigenart des Hauses bekannt sein mußte. Zu Befürchtungen schien der Anwalt keine Ursache gehabt zu haben, denn der Vorhang des Fensters neben seinem Pult war sorglos emporgezogen, und er hatte das Läuten der Glocke anscheinend für etwas ganz Selbstverständliches erachtet, ja nicht einmal ein Licht mit auf den Weg genommen. Doch wenn er, wie es dem Anschein entsprach, an seinem Pult gesessen hatte, dann mußte der Mann ihn bereits vom Fahrweg aus erblickt haben, so daß er ihn mit Leichtigkeit durch das Fenster hätte erschießen können. Warum also hatte er ihn noch vor die Tür gerufen? Der Körper war nach seinem Zusammenbrechen nicht angerührt worden, denn Uhr und Geld steckten noch in den Taschen. Nur Mord war augenscheinlich des Mörders Absicht gewesen, und dennoch hatte er sein Opfer herausgerufen, das ihm auch ohne diesen Weg in die Hand gegeben war. –

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